Vierzehnte Fortsetzung

Nun sieht man in Berliner diplomatischen Kreisen die Opposition des Herrn Dr. Gustav Witkowsky als ziemlich ungefährlich für den mitteleuropäischen Frieden sowie für die Zukunft Polens an. Man weiß z. B., dass dieser Herr, ein bescheidener Kassenarzt in einem Berliner Vorort, mit dem Klystier in der Hand direkt in die Politik hineingesprungen ist, und zwischen einem Rezept und dem anderen einen Leitartikel anfertigt. Aber draußen liest man an der Stirn der „Jüdischen Presse" noch immer den ehrenwerten Namen Hildesheimer und die armen Leser, besonders die aus Polen und Galizien, die Halbanalphabeten, die kleinen Hausierer, Handlungsreisenden, Zigarrenverkäufer, Schlachtergehilfen und Eierhändler, die ihre ganze politische Aufklärung und all ihre Kenntnis jüdischer Angelegenheiten aus der „Jüdischen Presse" schöpfen, denken sich im Stillen: „Was kann man wissen ? Vielleicht steckt hinter diesem ewigen Gebelfer am Ende irgendein Staatsgeheimnis, vielleicht führen die Polen gegen uns etwas Furchtbares im Schilde, wovon nur die hohe Polizei Kenntnis hat, und das sie diesen Herren Redakteuren im Vertrauen mitgeteilt hat, solch ein Herr Redakteur ist ja mit dem Reichskanzler auf Du und Du. Vielleicht wünscht gar die hohe Polizei, dass die Polen denunziert und verleumdet werden und es ist ein Gebot des patriotischen Gehorsams, alle diese Denunziationen zu glauben und weiter zu verbreiten". . . . Sie werden verwirrt; und diese Stimmung verpflanzt sich naturgemäß in die Heimat. In polnischen Kreisen aber, wo man über die Qualifikationen solcher Herren Witkowsky und dgl. ebenfalls im Unklaren ist, entstehen gruselige Märchen über eine alljüdische Verschwörung gegen Polen und seine Freiheit, Märchen, die von den Russen und ihrer Presse genährt werden, und gegen deren vergiftende Wirkung wir polnischen Juden noch Jahrzehnte lang anzukämpfen haben werden.

                                          ************************


Und da nun mal kein Übel allein kommt, so hat der liebe Gott in seinem Zorn uns polnischen Juden noch eine andere Serie von Rettern erweckt, die von der andern Seite heranrücken. Von diesen sei einer herausgegriffen, der Herr Davis Trietsch, Verfasser einer Schrift unter dem Titel: ,, Juden und Deutsche, eine Sprach- und Interessengemeinschaft", die sehr viel böses Blut gemacht hat. Dass dieses ebenso alberne wie unverschämte Zeug in Wien einen Verleger finden konnte, zeugt von einer Kopflosigkeit ohnegleichen. Aber wer ist Herr Trietsch? Das ist ein Mann, der seit ungefähr 17 oder 18 Jahren die Würde eines dreifachen Ministers im zukünftigen Judenstaat von Palästina bekleidet, eines Kolonial-, eines Marine- und eines Handelsministers. Als weitausschauender Staatsmann sah er schon vor zwanzig Jahren ein, dass wir uns nicht mit Palästina begnügen können, sondern rechtzeitig daran denken müssen, ein Kolonialreich zu gründen — was nur recht und billig ist, ,,denn wir können und dürfen um keinen Preis der Welt hinter den Engländern zurückbleiben; haben die Engländer ihr Greater Britain, so müssen wir unser Greater Palästina haben." Also sprach Mr. Trietsch wörtlich in einer großen Zionisten-Versammlung in Berlin am Beginn seiner Karriere, kurz nach seiner Rückkehr aus Amerika. Er warf ein Auge auf die Insel Zypern und siedelte dort alsogleich zwei galizische Kolonisten an, die aber sämtlich von der Malaria, oder so was ähnlichem, hingerafft wurden. Angefeuert von diesem Erfolge schloss Mr. Davis Trietsch mit der englischen Regierung ohne ihr Wissen einen Staatsvertrag, betreffend die Überlassung der Insel Zypern an die anderen, von der Malaria noch nicht hingerafften Juden, einen Staatsvertrag, den er seither in der Tasche hat. Nun versteht es sich, dass ein großes Kolonialreich ohne eine starke Flotte keinen rechten Nutzen bringt. Darum stellte Mr. Trietsch auf einem Zionistenkongress den höchst zeitgemäßen Antrag, man sollte schleunigst die palästinensische Flagge aufrichten — , das ist nämlich eine hohe Stange mit einem großen Stück blau-weißen Segeltuchs daran — , und dazu ein Schiff bauen, welches zwischen Jaffa und Alexandrien zu kursieren hätte. Wir hätten auf diese Weise vom Mittelländischen Meer Besitz genommen. Allein es stellte sich heraus, dass dieser Schiffbau überflüssig war, denn eine jüdische Reederfirma im Haag (oder auch in Rotterdam) hatte bereits zwei ihrer Schiffe mit biblischen Namen benannt und mit dazu gehöriger Stange samt Segeltuch versehen. Die jüdische Flagge wehte also schon auf hoher See, und wir hatten bereits eine Flotte. Auf einem anderen Zionistenkongress stellte Mr. Trietsch den Antrag, ein jüdisches Auswanderungsamt zu schaffen, das die jüdische Emigration regeln sollte. Natürlich war er bereit, auch die Bürde eines Auswanderungsministers zu den anderen auf seine Schultern zu laden. Der Plan hatte einen vernünftigen Kern, darum wurde er vom Zionistenkongress abgelehnt. Mr. Trietsch hat in der Tat einige Kenntnisse vom Levantehandel und damit zusammenhängenden Dingen. Wenn ihn die Zionisten genügend beschäftigen wollten, wären wir wenigstens von seinen Broschüren verschont. Er ist ein sehr braver und harmloser Mensch, der keiner Fliege an der Wand was zu leide täte. Aber da seine Ämter ihm etwas zu viel freie Zeit lassen, kann er sich des Schreibens nicht enthalten. So hat er uns denn auch sein jüngstes Geistesprodukt beschert. Als ich es gelesen, schrieb ich an den Verfasser folgende Zeilen:

            „Lieber Mister Trietsch,

Ihre Broschüre „Juden und Deutsche" habe ich gelesen. Das ist gar keine Broschüre, sondern einfach eine Schandtat. Ein Glück, dass die Deutschen — ich meine die richtigen, nicht die nachgemachten — sich um Ihre Schreibereien so viel kümmern, wie um den vorjährigen Schnee, sonst würden wir Juden in ihren Augen schön dastehen. Sie wollen ihnen einreden, dass wir Juden in Österreich-Ungarn z. B. gar nicht die Interessen unserer Monarchie oder die Interessen der von uns bewohnten Länder als die unserigen betrachten, sondern eine unterirdische oder in der Luft schwebende Interessengemeinschaft mit ihnen, den Deutschen im Reich, unterhalten. Die Deutschen werden sich für ein Bündnis mit solchen verächtlichen Wichten schönstens bedanken, die wider alle Pflicht und Ehre nicht unbedingt zu ihrem Staat und ihrem Monarchen halten, sondern draußen herumfackeln, wo sie ,,Interessen" vermuten, und sicher fähig wären, wie das eigne Land, so auch den fremden „Bundesgenossen" zu verraten, wenn nur ihre ,,Interessen“ dadurch gewännen. Ebenso wie es in Deutschland keinen vollsinnigen Deutschen gibt, der mit einer anderen Bevölkerung als der seiner Vaterlandes Interessengemeinschaft hat, ebensowenig gibt es z. B. in Österreich-Ungarn, oder in meinem engeren Vaterlande Galizien, einen ehrlichen und geistesgesunden Juden, der eine andere Interessengemeinschaft als die mit seinen Landsleuten hätte. Wir gehen mit Deutschland, ebenso wie alle guten Österreicher und Ungarn, als Bürger unseres Landes und Untertanen unseres Kaisers, nicht aus irgendwelchen imaginären Sonderinteressen. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Narr oder ein Schuft, oder beides zugleich. Verstanden? Sie reden furchtbar gelehrt über die Sprachen der Juden, aber wir wissen ja, mein Bester, dass Sie, unter uns gesagt, keine drei Zeilen Jüdisch korrekt niederzuschreiben, Hebräisch nicht einmal zu lesen imstande sind. Sogar Ihr Wissen über das Amerikaner-Deutsch haben Sie bei Ludwig Fulda entliehen, verraten aber nicht, woher Sie Ihre Weisheit haben. Warum haben Sie nicht ein paar Seiten weiter nachgelesen, was Ludwig Fulda im Namen Hermann Ridders über das Verhältnis der Deutsch-Amerikaner zu Amerika und zu ihrem alten Vaterland sagt? Oder halten Sie uns für eine niederere Rasse als die Deutsch-Amerikaner, der man Dinge zumuten dürfe, welche jene mit Verachtung von sich weisen würden? Wer hat Sie überhaupt gebeten, sich unser, der polnischen Juden, anzunehmen, und sich zu unserem Wortführer aufzuspielen? Warum bleiben Sie nicht bei Ihrem Leisten, und schreiben nicht lieber über Sachen, die Sie von Grund aus verstehen, z. B. über den Import von ausgeblasenen Eiern nach Palästina, oder von palästinensischem Spinngewebe nach Europa?

Sie erinnern sich wohl, dass Sie mir den Plan zu dieser Ihrer Broschüre noch im März 1914 offenbarten. Sie war schon gesetzt und sollte demnächst erscheinen. Ich warnte Sie davor, setzte Ihnen die Albernheit und die Gefährlichkeit Ihrer Behauptungen, die im Grunde nichts als windige Denunziationen wären, auseinander, und im Falle des Zuwiderhandelns drohte ich Ihnen mit einer Züchtigung, an die Sie Ihr Lebenlang denken sollten. Nun glaubten Sie, im Getümmel des Krieges Ihre Broschüre ungestraft verüben zu dürfen. Sie irren sich, bester Freund. Wissen Sie noch, wie ich vor mehr als 5 Jahren unseren Freund Theodor Lessing und seinen Impresario, den Herrn geheimnisvollen Regierungsrat Professor Geiger, zugerichtet habe? Das war ein Kinderspiel im Vergleich mit dem, was ich Ihnen antun werde. Ich werde an Ihnen ein Strafgericht vollziehen, dass alle unsere ungebetenen Fürsprecher und Vormünder sich ihr Handwerk ein für allemal abgewönnen sollen. Das böse Beispiel solcher Leute wie Sie, die man nicht für ganz unwissend und dumm, auch nicht für böswillig; oder unehrlich halten kann, ermutigt diese ganze Meute von Literaten, sich das polnische Judentum zum Tummelplatz ihrer Kraftübungen zu wählen. Jeder, der ein Tintenfass und ein Wörterbuch besitzt, darf sich als unser Ratgeber und Wegweiser, als unser Moralprediger und Sittenlehrer aufspielen. Fürwahr, das ist nicht länger zu ertragen; jede Laus darf auf uns herauf kriechen, jede Schmeißfliege darf sich auf uns, wie in die Wunden eines kranken Pferdes, hinaufsetzen. Jeder Narr kommt über uns mit seiner Utopie, jeder Scharlatan mit seinem Projekt! Wir sind eine Art Freiwild, eine Sorte von herrenlosem Gut, das jeder Hergelaufene aller Welt zum Verkauf anbieten darf. Wir haben die Sache satt. Darum werde ich an Ihnen, mein Bester, ein abschreckendes Beispiel statuieren, damit allen Ihren Mitstrebern die Lust vergehe, fürderhin uns mit ihrer Fürsorge zu umgeben."

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage