Fünfzehnte Fortsetzung

Als die deutschen Truppen Warschau besetzten, atmeten wir erleichtert auf. Die russische Bureaukratie war abgeströmt wie ein schmutziger Schaum, und es gab dort keinen mehr, der an dem ewigen Hader zwischen Juden und Polen Interesse hatte. Wir hofften, dass Frieden einkehren würde. Allein wir hatten die Rechnung ohne Kaplun-Kogan gemacht. Am Tage der Besetzung von Warschau brachte nämlich die vom deutschen Gouvernement herausgegebene „Lodzer Zeitung“ einen schwungvollen Artikel über die schöne Haupt- und Residenzstadt Polens, feierte sie als das Zentrum des polnischen Kulturlebens und sprach die Zuversicht aus, dass sie, von den Russen befreit, auf immer eine polnische Stadt bleiben werde. Das gab dem Kaplun-Kogan einen heftigen Ruck. Er, nämlich Wladimir Wladimirowitsch Kaplun-Kogan aus Sukinsynow oder auch aus Sobakowka im tiefen Russland, wollte es nicht dulden, dass die deutsche Regierung Warschau als polnische Stadt anerkenne. Er rückte mit einem Artikel heraus, in dem er der Redaktion der „Lodzer Zeitung" eine derbe Lektion erteilte und sie belehrte, dass Warschau keine polnische, sondern eine jüdische Stadt sei, und die dortigen polnische Juden, ca. 40% der Gesamtbevölkerung, eigentlich Deutsche seien, denn sie sprechen ja Deutsch, wenn auch vorläufig nur ein etwas polnisches. Das ,,Jiddisch" hatte sich urplötzlich in Deutsch verwandelt. Wenn nun die Juden sich mit den richtigen Deutschen Warschaus (deren es einige Tausend gibt) verbinden, haben sie die Majorität, und Warschau hat aufgehört, eine polnische Stadt zu sein — was ja im Interesse Deutschlands liege. Das Interesse Deutschlands aber gehe ihm, dem Kaplun-Kogan aus Sukinsynow oder auch aus Sobakowka im tiefen Russland, über alles, über alles in der Welt.

Nicht genug damit. Bald erschien ein neuer Wortführer der Warschauer Juden auf dem Plan, es war dies ein Jüngling von 20 Lenzen, namens Nachum Goldmann aus Knipischok oder auch aus Eischischok in einem verlorenen Winkel Litauens, derzeit in Frankfurt a. M. residierend. Sieben Jahre war er alt, als er nach dieser Stadt kam, und alsogleich übernahm er die Führung des zionistischen Jugend von Deutschland. Er versteht ein paar Brocken Russisch, aber kein Wort Polnisch, hat nie in Polen gelebt, kennt die dortigen Verhältnisse nicht, nur hat er in Warschau ein paar Tanten. Man braucht keine bessere Qualifikation, um im Namen der polnischen Juden zu sprechen. Auch ihm liegen natürlich in erster Reihe die Interessen Deutschlands am Herzen, und die Sorge um die Zukunft des deutschen Volkes lässt ihn nicht schlafen. Er schloss sich also dem Kaplun-Kogan an und machte der Regierung klar, dass ihr nichts anders übrig bleibe, als die polnischen Städte zu germanisieren, wozu am besten die Juden zu benutzen wären, die eine jüdisch-deutsche Kultur haben. Er sagte dies in einem unendlich seichten, breit ausgesponnenen Artikel, in dem schlecht verstandene und gefälschte, dem Bädecker entnommene Angaben mit der Fingerfertigkeit eines alten Zeilenschinders verwoben waren.


Diese Geistesprodukte der beiden Urgermanen aus Sukinsynow und Knipischok hätten keine weiteren Spuren hinterlassen, wenn nicht das eine, offenbar durch Vermittlung des Dr. Oppenheimer, in der Vossischen, das andere, dank der Protektion eines Onkels oder einer Tante, in der Frankfurter Zeitung erschienen wäre. Die ganze polnische Presse in Österreich, Polen und Posen widerhallte von einem einzigen Entrüstungsschrei. Die Polen hatten natürlich keine Ahnung, wer die Verfasser sind, und hielten deren Ergüsse wirklich für den Ausdruck der öffentlichen Meinung der Judenheit Deutschlands und Polens. Und das war ja im Grunde nichts anderes, als eine Aufforderung an die deutsche Regierung, die russische Vernichtungspolitik gegen die Polen fortzusetzen und ein Angebot von Seiten der Juden, ihr dabei willig Henkersdienste zu leisten. Dabei war eine infame und ruchlose Denunziation darin mitinbegriffen, nämlich, dass die deutsche Regierung den Polen misstrauen müsste, und sich zu ihrer Überwachung am bequemsten der Juden bedienen dürfe. Was in so aufgeregter Zeit mitten im wildesten Kriege eine solche Denunziation bedeutet, und wie sie auf die von ihr betroffene Bevölkerung wirken muss, ist leicht zu begreifen. Durch derlei Angebereien und Aufregungen entsteht eine verlotterte Stimmung, in der das kleinste Missverständnis verhängnisvoll werden und eine Katastrophe nach sich führen kann. Die nationaldemokratische Presse Warschaus, die jetzt nach Moskau und Kiew geflüchtet war, stieß ein Triumphgeheul aus: „Haben wir’s nicht immer gesagt: die Juden werden unsere Städte entnationalisieren, sich jeder ausländischen Macht, die mit bewaffneter Hand in unser Land einmarschiert, verbinden, um uns zu verdrängen und zu unterjochen. Vorhin waren sie bereit, mit den Russen handelseins zu werden, jetzt werfen sie sich den Deutschen zu Füßen". Die russische Presse fiel über den Fund mit wahrer Tartarenfreude her, sie hatte nun den besten Beweis, dass das Programm des Kaisers und des Reichskanzlers, eine Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen herbeizuführen, pure Heuchelei war, und das dahinter „hakatistische Germanisierungstendenzen" lauerten, zu deren Werkzeug die Juden ausersehen waren, welche ja seit Jahren im Dienste des Germanophilismus standen.

                                    ********************************

So traurig nun auch die Rolle war, welche die beiden russisch-jüdischen Germanen den polnischen Juden bei diesem Prozess zugedacht hatten, die Sache entbehrte nicht einer gewissen Komik. Das antipolnische Bündnis zwischen Juden und Deutschen in Polen war ohne Wissen des einen Kontrahenten, der Deutschen, abgeschlossen worden. Die Deutschen in Polen hatten nämlich von der Existenz einer „jüdischen-deutschen Kultur“ in diesem Lande nicht die leiseste Ahnung. Dass ein halbes Dutzend Zeitungen von der Gattung populärster Provinzpresse nebst zwei oder drei Dutzenden Romanen und Novellen eine „Kultur" ausmachen, dürfte einem gewöhnlichen Europäer ganz neu sein. Aber dass diese Kultur auch „deutsch" sei, empfanden die Deutschen in Warschau als eine „jüdische Impertinenz", den vorgeschlagenen Bund mit den Juden zur Bekämpfung und Verdrängung der Polen als eine dummdreiste Anmaßung, als eine zudringliche Anbiederung. Man muss nämlich wissen, dass dem Deutschen in den slawischen und halbslawischen Ländern nichts so sehr zuwider ist, wie der jüdische Jargon, in dem er eine Karikatur, eine willkürliche Verhunzung und Entstellung seiner Muttersprache erblickt, die ihm in der Fremde doppelt teuer ist und über deren Reinheit er umso eifriger wacht — (so lange, bis er sie in der zweiten oder dritten Generation mit der Landessprache vertauscht). Ein Deutscher, der soeben aus Deutschland kommt und mitten in einer ihm fremden Welt deutsch ähnliche Laute erklingen hört, ist natürlich angenehm überrascht, vergisst eine Weile, dass die Laute aus dem Munde von Juden kommen, und wenn er sich mit diesen verständigen kann, ist er mit dem Nutzen und der Bequemlichkeit zufrieden. Aber für den im Osten ständig wohnhaften Deutschen fallen diese Motive fort. Klingt der fremde Dialekt, auch wenn er von den Lippen eines unverfälschten Rassen- und Glaubensgenossen kommt, nicht grade angenehm, so steigert sich dieses Gefühl der Fremdartigkeit bis zum Widerwillen und Abscheu, wenn die Klänge aus dem Munde des Juden kommen, noch dazu in dem eigenartigen jüdischen Tonfall, vermengt mit zahlreichen slawischen und hebräischen Brocken und bis zur Unverständlichkeit verändert. Darum kommt es nie vor, dass ein gebildeter Deutscher in Galizien oder Russisch-Polen mit einem Juden den Jargon redet, was gebildete Polen sehr häufig tun. Die Deutschen haben das Gefühl, dass der Jargon sprechende Jude sie nachäffe, ihre Sprache aus Bosheit verunstalte und missbrauche. Da nur wenige Germanen auch Germanisten sind, so ahnen nur wenige, dass, wenn ihre im 13. Jahrhundert am Oberrhein und in Thüringen lebenden Vorfahren aufstünden, sie sich mit diesen Juden in ihrem hässlichen Jargon leichter verständigen könnten, als mit ihren eigenen Enkeln von heute. Es ist bezeichnend, dass noch nie ein Deutscher aus Galizien oder Russisch-Polen den Jargon zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien gemacht hat. Und wenn mir jemand einen Deutschen aus Warschau nachweist, der eines der dortigen Jargonblätter abonnierte, die Erzählungen von Perez oder Spektor las oder sie gar ins Deutsche übersetzte, — es sind ja wahre Perlen der Novellistik darunter, — so bin ich bereit, an das unverfälschte Urgermanentum der Herren Kaplun-Kogan und Goldmann zu glauben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage