Vierte Fortsetzung

Es läuft einem so recht das Wasser im Munde zusammen, wenn man sich die Seligkeiten vergegenwärtigt, die uns Herr K.-K. für den Fall verspricht, dass wir uns „völkisch" organisiert haben werden. Leider wird man in dem Genuss dieser Herrlichkeiten durch erhebliche Unklarheiten und arge Widersprüche gestört. So versichert uns Herr K.-K. einmal: „Ihre (der Juden) kulturellen Bedürfnisse sind vor allem auf dem Gebiete des mittleren Schulwesens und der höheren Bildung vollkommen verschieden von denjenigen der anderen Völker." Und ein andermal sagt er: „Das innere und öffentliche Leben des jüdischen Volkes hängt sehr stark von der inneren Organisation und Kultur des Volkes ab, in dessen Mitte die Juden einwandern oder durch politische Ereignisse verschlagen werden.“ Er spricht einmal von einem „Gebiet mit vorwiegend jüdischer Bevölkerung", welches er „anzugliedern" rät. Aber wir erfahren, dass es ein solches Gebiet gar nicht gibt, denn die 6 bis 7 Millionen Juden Russlands sind über ein Territorium zerstreut, welches „ungefähr doppelt so groß ist, wie Deutschland," also etwa 140 Millionen Einwohner fassen könnte. Er versichert, die Juden hätten „eine eigenartige Volkswirtschaft" und „die jüdische Volkswirtschaft besitzt durch die eigenartigen nationalen Produktionsbedingungen zu erklärende Vorzüge und Mängel". Zu diesen Merkmalen gehöre die Auswanderung, welche denn auch zur Grundlage einer gesonderten „jüdischen Sozialpolitik" werden soll. Aber bald darauf behauptet er, es werde „im Interesse des Staates sowie der Wirtschaft sein, wenn die Juden in ihren alten Wirtschaftsstellungen beharren und in ihren alten Aufenthaltsorten die Blüte der Industrie und des Handels fördern". In Wirklichkeit ist es der gröbste Unsinn der Welt, von der ökonomischen Lage der Juden in Russland als von der Ursache oder Wirkung irgendeiner „nationalen Produktionsweise" zu sprechen. Die wirtschaftlichen Kräfte der Juden in Russland sind durch eine wahnsinnige, grausame Gesetzgebung unterbunden, zum Schaden der Juden und des Landes selber. Letzteres haben sogar russische Wirtschaftsverbände erst in den jüngsten Monaten hervorgehoben. Die Beseitigung dieser Gesetze, verbunden mit einer gesunden gewerblichen Erziehung und einer klugen und wohlwollenden Wirtschaftspolitik würde im Verlaufe eines Menschenalters die soziale Struktur der jüdischen Bevölkerung total umgestalten. Das würde aber auch die „Gebiete mit vorwiegend jüdischer Bevölkerung" verschwinden lassen. Diese „Gebiete" sind nämlich einige große und mehrere kleine Städte, wo die Juden, denen das Wohnen auf dem Lande verboten ist, ohne Rücksicht auf Erwerbsmöglichkeit so zusammengepfercht sind, dass sie einen abnormal hohen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen. Diese Juden wurden von der Verelendungs- und Aushungerungspolitik der russischen Regierung aufs härteste getroffen. Der weitaus größte Teil von ihnen befindet sich in einer wirtschaftlich ganz unhaltbaren Lage; die Findigkeit der Juden allein schützte sie bisher vor dem Hungertode. Als typisch für die spezifisch jüdischen Berufsarten mag jener Jude angeführt werden, der an den Markttagen unter den Bauern umhergeht und ihnen gegen Entlohnung mit einem Pfropfenzieher die in den Monopoldestillen gekauften Schnapsflaschen öffnet. Das ist das einzige Gewerbe, das ihm Gesetz und Polizei auszuüben erlauben. Dass die Juden unter natürlichen Verhältnissen keine Stunde bei dieser „nationalen Produktionsweise" bleiben würden, ist klar. Allein auch die „Grundlage der jüdischen Sozialpolitik", nämlich die Auswanderung, würde unter natürlichen Verhältnissen verschwinden oder so weit zurückgehen, dass die ganze „jüdische Sozialpolitik" gegenstandslos würde.

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Aber von allen Segnungen der „völkischen Organisation" und der „völkischen Emanzipation", die uns Herr K.-K. verspricht, ist die bedeutsamste die Hochschule. „Eine jüdische Hochschule im Zentrum des jüdischen Lebens" (die nähere Ortsbestimmung bleibt einem späteren Zeitpunkt überlassen), nicht etwa eine Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, sondern eine richtige Universität, „um alle diejenigen jungen Juden aufzunehmen, die sonst an anderen Hochschulen ihre Lernbegier stillen mussten." (An Bewerbern für die verschiedenen Professuren wird sicher kein Mangel sein. Ich weiß einen ausgezeichneten Nationalökonomien, aber er müsste erst den Jargon erlernen.) Eine jüdische Sozialpolitik hat uns der Verfasser bereits versprochen, aber wie soll man sich eine jüdische Physik, Mathematik, Astronomie,, griechische Altertumskunde oder Ägyptologie, eine jüdische (nicht etwa biblisch-talmudische) Jurisprudenz, eine jüdische Gynäkologie, Elektrotechnik, Maschinenbaukunde oder Geodäsie vorstellen? Die „Jüdischkeit" wird offenbar nur in der Vortragssprache bestehen können, die der Jargon sein wird. Die Absolventen dieser Hochschule würden also darauf verzichten, unter ihren anderssprachigen Landsleuten lehrend und wirkend ihre Wissenschaft zu verwerten, sondern sich darauf beschränken müssen, innerhalb ihrer Jargongenossen als Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer oder Ingenieure zu praktizieren. Wenn wir dies Prinzip im Auge behalten, werden wir auch eine andere Verheißung zu würdigen wissen, über die Herr K.-K. in ebenso ekstatischen und ebenso unverständlichen Worten redet, wie über die „völkische Emanzipation", nämlich die künftige Rolle der „jüdischen Persönlichkeit auf dem Gebiete der jüdischen Öffentlichkeit", die „das neue Zeitalter" durch die „Organisierung der jüdischen Massen zu einer ungeahnten Blüte bringen wird". „Es wird möglich sein, innerhalb der jüdischen, politisch und wirtschaftlich vollkommenen Organisation alle jüdischen Talente zu entwickeln, den jüdischen Tatendrang in jüdischer Beschäftigung sich voll und ganz ausleben zu lassen und dem Einzelnen und der Gesamtheit Würde und Ansehen zu verleihen." „Jüdische Beschäftigungen", d. h. solche, die nur von Juden ausgeübt werden können, sind die Beschäftigung eines Mohel, eines Schochet, eines Vorbeters, Schofarbläsers, Totengräbers, Kaddischsagers, Zizithspinners, Rabbiners. Diese Beschäftigungen allein sind so beschaffen, dass der jüdische Tatendrang sich in ihnen voll und ganz nur innerhalb der jüdischen, politisch und wirtschaftlich vollkommenen Organisation ausleben kann. Wenn aber Gott einen dazu verdammt, ein großer Naturforscher, Mathematiker, Arzt, Erfinder, Denker, Jurist, Sprachforscher zu sein, so wird es ihm beim besten Willen unmöglich, seine jüdische Persönlichkeit ausschließlich „auf dem Gebiete der jüdischen Öffentlichkeit auszuleben'', da bekanntlich die Gojim für solche Leute und deren Leistungen auch ein Interesse haben. Nur wenn diese Leute, dem Rat des Herrn K.-K. folgend, sich sozusagen in den Jargon übersetzen und sich in ihn einspinnen, dann können sie, wenigstens eine Zeitlang, davon verschont bleiben, auch auf dem Gebiete der nicht jüdischen Öffentlichkeit sich voll und ganz auszuleben und der Gesamtheit und dem einzelnen Würde und Ansehen zu verleihen.

Viel schwieriger wäre die Sache schon mit großen Künstlern, wie etwa Antokolski, Glicenstein, Gottlieb, Hirszenberg, Horowitz und ähnlichen. Solchen Leuten würden die Patrioten am liebsten verbieten, andere als nationale Stoffe zu behandeln. Die Patrioten sind nämlich überzeugt, dass im Stofflichen der Kunst ihr Nationales liege. Nur steht zu befürchten, dass dieses kecke und ausgelassene Künstlervolk auf die Patrioten pfeift und justament fremde Stoffe zum Vorwurf seines Schaffens nimmt. Das haben die Schiller und Goethe ebenso wie die Feuerbach und Boecklin getan.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage