Dritte Fortsetzung

Es hat also den Anschein, dass der Jargon unabwendbar dem Untergange geweiht ist. Über die Seele des jüdischen Volkes hat er keine Gewalt, sie betrachtet ihn nicht, wie etwa die Religion oder das Hebräische innerhalb deren Grenzen, als heiliges Gut, für das zu leiden und Opfer zu bringen sich lohnt, und die harte Notwendigkeit des Lebens ist gegen ihn. Achad-Haam, gewiß kein schlechter Kenner und kein Feind der Juden, gibt dem Jargon nur noch eine kurze Spanne Zeit zum Leben. Dasselbe ist auch die Ansicht vieler hervorragender Jargonschriftsteller. Bei mir aber bewirkt gerade diese Stimmung eine mit trotzigem Schmerz vermischte Liebe zu ihm. Ich kann es nicht ertragen, dass der Mensch sich ohne weiteres ins Unvermeidliche schicke. Darum bediene ich mich des Jargons mit Vorliebe im persönlichen Umgange. Sogar meinen christlichen Freundinnen und Freunden habe ich ihn gelehrt, um in der Unterhaltung mit ihnen auf manche unübersetzbare köstliche Sprachschattierungen nicht verzichten zu müssen. Ich dulde es nicht, dass man ihn verhöhnt und herabsetzt. Darum habe ich in scharfer Pressfehde sogar seine Dignität als Sprache verteidigt — auch aus praktischen Gründen, denn wenn es nach den linguistischen Pedanten ginge und dem Jüdischen der Rang einer Sprache abgesprochen würde, könnte es geschehen, dass eines Tages den Juden aus Polen und Russland als Analphabeten die Einwanderung nach Amerika verboten würde, obgleich sie sich in Druck- und Schreibschrift sehr geläufig mit 7 bis 8 Millionen Menschen zu verständigen vermögen, die doch wahrlich nicht zu den dümmsten und faulsten der Welt gehören. Ich bin allem Pessimismus zum Trotz auch überzeugt, dass dem Jargon noch eine große und sehr dankbare Rolle als Kulturträger unter den Juden beschieden ist. Wir wissen ja alle, dass wir im 20. Jahrhundert sterben werden, aber das hindert keinen von uns, zu leben und zu leiden und zu arbeiten, nicht bloß für die dauernden Dinge, die uns überleben, sondern auch für die höchst persönlichen, die mit uns vom Erdboden verschwinden werden. Ich habe mich, bemüht, durch zahlreiche Abhandlungen in polnischer und deutscher Sprache, sowie durch Übersetzungen aus dem Jargon seine besten Erzeugnisse und deren Schöpfer einem weiten Publikum bekannt und lieb zu machen. Vor allein aber habe ich mich bemüht, das Beste, was er beherbergt, die Volkspoesie im weitesten Sinne des Wortes, also Volkslieder, Volksmelodien; Volkssprichwörter, Sagen, Märchen, zu sammeln und vor dem Untergang zu bewahren. Ich darf mich rühmen, der erste gewesen zu sein, der diese Arbeiten systematisch und in größerem Stil unternahm. Ich fand hierin bei christlichen, namentlich polnischen Forschern und Institutionen lebhaftes Verständnis und Entgegenkommen. Dagegen ist es mir trotz vielfacher Bemühungen niemals gelungen, einen der zionistischen Verbände für die Mitarbeit zu gewinnen, während bei allen Völkern gerade die Jugend es war, die sich am eifrigsten mit folkloristischer Sammelarbeit befasste. Die Herren Zionisten sind in der Zukunft des jüdischen Volkes ausgezeichnet bewandert und überlassen die Erforschung seiner Gegenwart und Vergangenheit neidlos andern Leuten. Es ist seither vieles Wertvolle auf diesem Gebiete geleistet worden, aber nichts mit Beihilfe oder Unterstützung von Zionisten. Auch ist es keiner der zahlreichen Zionistenkonferenzen und -Kongresse eingefallen, sich mit diesem Gegenstand zu befassen und diese wahren und kostbaren Schätze des Volksgeistes vor dem ihnen unabwendbar bevorstehenden Verschwinden zu retten. Das hat die Zionisten nicht gehindert, aus den jüdischen Volksmelodien sich ein Propagandamittel zu machen; auf unzähligen Abenden pflegen Herren, die nichts von der Sache verstehen, lange Reden über jüdische Volkspoesie zu halten, wobei polnische, ruthenische und walachische Volkslieder, Operettenarien und Gassenhauer einem arglosen Publikum als jüdische Volksmusik dargeboten und die genuin-jüdischen Melodien derart entstellt und verhunzt vorgetragen werden, dass einem das Herz weh tut.

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Wie würde es nun aussehen, wenn ein Staat die Juden auf Grund des Jargons als „völkische Gemeinschaft" zusammenfassen und ihnen eine administrative und politische Sonderstellung einräumen wollte? Ohne Zwang könnte das nicht geschehen. Der weitaus größte Teil der Juden müsste gezwungen werden, den Jargon zu pflegen, ein anderer beträchtlicher Teil müsste gezwungen werden, ihn erst zu erlernen, der Jugend müsste der Besuch anderer als der Jargon-Schulen streng untersagt werden. Vor allem müsste den Juden das Erlernen des Deutschen verwehrt bleiben, da sonst der Jargon seinem gefährlichsten Vertilger ausgeliefert würde. Sollte es den Juden aber freigestellt werden, auch außerhalb dieser Jargon-Nationalität Juden zu bleiben, so würde diese, dessen bin ich sicher, eine so verschwindende Minorität darstellen, bestehend aus den geistig trägsten Elementen und einer Handvoll phantastischer Ideologen, dass sie dem Fluche der Lächerlichkeit verfallen würde. Es ist absurd, sich einen solchen Zwang auch nur vorzustellen, aber wenn er versucht wurde, auch nur im moralischen Sinne, so wäre seine Folge ein Hass gegen den Jargon, der ihn völlig hinwegfegen würde. Wer ihn schonen will, darf ihn einer solchen Belastungsprobe nicht aussetzen. Die Grafen Stanisiaw und Kasimir Badeni, ersterer Statthalter, letzterer Landmarschall von Galizien, ebenso der Statthalter Korytowski, beherrschten den Jargon in Wort und Schrift viel besser als das ganze Bodenheimersche Komitee und alle „Jiddischisten" in Deutschland und Österreich zusammen. Wäre ich Landtagsabgeordneter gewesen und einer dieser Funktionäre hätte, um mich als „völkischen" Vertreter zu ehren, seine Eröffnungsrede auch im Jargon gehalten, ich hätte mit faulen Äpfeln nach ihm geworfen. Beileibe nicht aus Hass gegen den Jargon, aber wenn ich schon eine „Nation" oder eine „Nationalität" bin, dann will ich es auch im rechten Sinne sein. Warum soll meine Nationalität erst seit dem 13. oder 14. Jahrhundert datieren, das den Jargon entstehen sah? Wer hat das Recht, die vorhergehenden dritthalb oder drei Jahrtausende der jüdischen Geschichte einfach wegzustreichen? "Wer darf sich unterstehen, meine Nation in ein Dutzend Natiönchen, für jedes Sprachgebiet ein anderes, zu zerbröckeln? Bin ich eine Nationalität, dann ist Hebräisch meine Nationalsprache. Dann müsste aber der Staat nicht nur den Grafen Badeni zwingen, es zu erlernen, sondern das Wunder vollführen, dass 99 Prozent der Juden es als tägliche Umgangssprache benutzen können. Ich meine aber, der Staat wird, auch uns Juden gegenüber, wichtigere Aufgaben zu erfüllen haben.

Und wie wäre es, wenn Raschi oder Rabbenu Tham, Maimonides, Ibn Esra oder Jehuda Halevi zu uns kämen und sich bei uns ansiedeln wollten? Da sie kein Wort unseres Jargons verstünden, so müssten wir vor ihnen die Pforten unserer völkischen Gemeinschaft verschließen. Dasselbe wäre auch der Fall, wenn heutzutage sephardische (wie im 15. und 16. Jahrhundert), französische oder amerikanische Juden sich bei uns niederlassen wollten, die lieber die Landessprache erlernen würden und denen es nicht einfiele, unseren Jargon sich anzueignen? Sie müssten außerhalb der jüdischen Gemeinschaft bleiben, oder aber der Staat müsste eine Anzahl jüdisch-völkischer Gemeinschaften ins Leben rufen. Nun soll sich aber die Jargon-Nationalität auf Polen beschränken. Wenn ich mich in die Eisenbahn setze, in zwölfstündiger Fahrt nach Wien, Budapest oder Berlin komme, um dort zu wohnen, so würde ich gezwungen sein, meine Nationalität aufzugeben und, insofern ich Jude bleiben wollte, in die jüdische Religionsgemeinschaft einzutreten, fast möchte ich sagen: hinabzusteigen, denn das wird ja eine capitis diminutio sein. Umgekehrt, wenn ich zurück in meine Heimat reise, trete ich aus der jüdischen Religionsgemeinde aus und melde mich wieder zum Hinaufstieg in die völkische Judengemeinschaft!

Die größte Schwierigkeit ist aber folgende: Es ist ein zionistischer Glaubensartikel, dass in Palästina über kurz oder lang eine „öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für das jüdische Volk" entstehen, und dass dort Hebräisch die alleinherrschende Sprache der Juden sein wird. Und in der Tat, sieht man von einigen knabenhaften Phantasmagorien, wie hebräische Universität, Technik, Gesangsakademie — nur ein Ballett fehlt noch — ab, so hat das Hebräische in Palästina, wenn nicht gefährliche Missgriffe und Überstürzungen die natürliche Entwicklung hemmen, alle Aussicht, eine Volkssprache zu werden. Dort hat sie die Hauptbedingung, welche ihr sonst überall in der Welt fehlt: ein geschlossenes, wenn auch enges Territorium, innerhalb dessen sie von keinem stärkeren Faktor überwältigt werden kann. Sie erfüllt als Unterrichtssprache in den Volksschulen eine hohe Kulturaufgabe als gemeinschaftsbildender Faktor, indem sie die verschiedenen Jargone, den aschkenasischen, sephardischen, jemenitischen, persischen, bucharischen, verdrängt. Alle diese Tatsachen begünstigen die Entwicklung des Hebräischen zur Volks- und Umgangssprache auf palästinensischem Boden und lassen sie als höchst wünschenswert erscheinen.

Wie soll das nun werden, wenn in Zukunft einmal polnische Juden nach Palästina auswandern, um sich dort anzusiedeln, oder, wenn Palästina in den Weltverkehr hineingezogen wird und palästinensische Hebräer sich in Polen niederlassen wollen?

Fürwahr, die Staatsmänner aus der Behrenstraße in Berlin hätten besser getan, uns über all diese Probleme aufzuklären, anstatt uns soviel Kopfzerbrechens zu verursachen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage