Fünfte Fortsetzung

Indessen kann man das, Programm des Herrn K.-K. und des ganzen Rettungs- und Befreiungskomitees aus der Behrenstraße „voll und ganz" nur verstehen, wenn man bedenkt, dass es eigentlich gar nicht ihr geistiges Eigentum, sondern, obwohl sie davon nichts erwähnen, von dem Renner’schen Nationalitätenprogramm abgeschrieben und verhunzt ist. Der österreichische sozialdemokratische Abgeordnete Karl Renner entwickelte, als er noch unter dem Pseudonym Springer schrieb, in einer Reihe von Broschüren ein Programm zur Schlichtung des zwischen den acht Nationalitäten in Österreich tobenden Kampfes. Es gibt Gegenden in Österreich, in denen die gegebene Nationalität und deren Sprache unbestritten herrschen, da man meilenweit kreuz und quer reisen kann, ohne einen anderen Laut zu vernehmen. Ganze ausgedehnte Wirtschaftsgebiete, besonders der primitiveren Formen, liegen in demselben Sprachgebiet. Der Kampf tobt nur um die Enklaven oder Sprachinseln, das sind Gegenden, wo mehr oder, weniger starke Minoritäten der einen Nationalität unter einer anderen versprengt sind. Durch die Schule und die Verwaltung werden diese Minoritäten von der Majorität „entnationalisiert" und auf gesogen. Diese Minoritäten fordern nun für sich Sonderschulen und gewisse sprachliche Berechtigungen im öffentlichen Leben, um sich auch in der „Diaspora" ihre Sprache zu erhalten. Die Majoritäten dagegen wollen diese Schulen und Berechtigungen nicht gewähren, damit ihr Gebiet nicht den einheitlichen Charakter verliere und sie einen Fremdkörper wie einen Pfahl im Fleisch zu sitzen bekommen. Die Sache wird kompliziert dadurch, dass jede der acht Nationalitäten in der einen Gegend Majorität, in der andern Minorität, also gezwungen ist, der andern das zu versagen, was sie selber im Namen der Gerechtigkeit fordert. Es hat sich daher in diesem Nationalitätenkampf eine eigene Ethik herausgebildet, deren oberste Prinzipien sich so formulieren lassen: „Tu deinem Nächsten immer genau das, was du nicht willst, dass es dir geschehe", und: „Unrecht kann nur mir widerfahren, nie meinem Nachbar." Schon Grillparzer sah diese Kampfformen voraus und sagte: „Wir entwickeln uns von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität." Dieser Hader zwischen den Nationalitäten hat in Österreich zeitweise die Staatsmaschine zum Stehen gebracht. Um ihm Schweigen zu gebieten, ersann Renner sein Programm einer Nationalitäten Autonomie. Während jetzt die siebzehn österreichischen Kronländer als historisch und geographisch bedingte Individualitäten im Rahmen der Reichsverfassung eine weitgehende Selbstverwaltung und diesbezügliche Gesetzgebung durch eigene Landtage besitzen — , soll, nach Renner, diese Autonomie auf die einzelnen Nationalitäten, ohne Rücksicht auf die Landesgrenzen, übertragen werden. Ausgeübt soll sie werden durch einen „Obersten Nationalrat", dessen Kompetenz sich über alle Konnationalen erstreckt. Jene Gegenden, wo die gegebene Nationalität die erdrückende Majorität bildet, ist ihr Territorium; wo sie in kleinen Gruppen unter einer andern Nationalität wohnt, erhält sie das Recht der „Exterritorialität" (ein dem Völkerrecht entnommener Begriff) und untersteht nicht der Verwaltung und Kompetenz der örtlichen Gewalten, sondern ihrem im „Territorium" residierenden „Obersten Nationalrat". Um vor dem Aufgesogenwerden durch die fremd-nationale Umgebung geschützt zu werden, sollen die Minoritäten durch eine Reihe von Scheidewänden gegeneinander abgegrenzt werden; sie erhalten Minoritätschulen, wo ihre Kinder ganz unter sich sind und dem Verdorbenwerden durch das Erlernen der fremden Sprache entgehen. Sie erhalten besondere Verwaltungs- und Gerichtsorgane, einen besonderen Wahlkataster für das allgemeine Parlament, der ganze Apparat des öffentlichen Staatslebens wird so konstruiert, dass er doppelt funktioniert und jeden Bürger vor der Berührung mit einem Anderssprachigen bewahrt. Die Nationalitäten leben nebeneinander, aber nicht miteinander. Dadurch wird jede Nationalität auch auf fremdem Territorium in ihrer Ursprünglichkeit und Reinheit erhalten, die Reibungsflächen werden ausgeschaltet, die Verlockung zum Kampf und zur Abwehr zwischen den Nationalitäten verschwindet. Friede kehrt ein. Das System ist nicht nur für Österreich, sondern für alle Länder mit mehreren Nationalitäten zu empfehlen.

Gewiss enthält dieses Programm manchen Keim eines gesunden Gedankens. Ein Urteil darüber zu fällen ist unmöglich, da nirgends in der Welt der Versuch gemacht wurde, es in der Praxis auszuprobieren. Vor etwa 15 oder 16 Jahren würde dieses Programm von der österreichischen Sozialdemokratie offiziell gutgeheißen — es sollte nämlich zur Beschwichtigung der nationalen Gegensätze innerhalb der Partei dienen. Über seinen Wirklichkeitswert weiß also vorderhand niemand etwas auszusagen.


Das Experiment soll zuerst an den polnischen Juden gemacht werden. Diese vertrackten Ostjuden sind immer gut genug, um als Versuchskaninchen für allerhand Utopien gebraucht zu werden. Fiat experimentum in corpore vili! Auch die Siedlungsgenossenschaften des Herrn Dr. Franz Oppenheimer sollen ja zuerst auf palästinensischem Boden an dem dort zusammenströmenden ostjüdischen Menschenmaterial ausprobiert werden. Die Ostjuden selber mussten die nötigen Mittel herbeischaffen. „Sonst pfeife ich auf euren Zionismus!" drohte Herr Dr. Oppenheimer im August 1910; auf einer großen Zionistenversammlung in Frankfurt am Main. Auch das neue Schutzsystem für nationale Minoritäten soll an den Juden auf polnischer Erde zuerst versucht werden. In diesem Lichte müssen die Vorschläge des Befreiungskomitees aus der Behrenstraße betrachtet werden, wie sie aus der Schrift des Herrn K.-K. und aus andern Kundgebungen, sowie aus den an die „maßgebenden Stellen" gerichteten Eingaben hervorgehen — soweit wir gemeinen Sterblichen von solchen Haupt- und Staatsaktionen Kenntnis zu erlangen und sie mit unserem groben Untertanenverstand zu begreifen vermögen.

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Eine Kleinigkeit nur übersahen unsere „Völkischen" bei der Adoptierung des Renner’schen Programms. Dieses ist zum Schutz der nationalen Minoritäten ersonnen, wo sie außerhalb ihres eigentlichen Territoriums wohnen, in dem sie die überwiegende Majorität haben, oder gar die alleinherrschende Bevölkerung ausmachen. Nehmen wir aber an, dass wir Juden wirklich eine Nationalität in demselben Sinne bilden wie etwa die Slowaken und Slowenen in Österreich, die Litauer in Ostpreußen, oder die Lausitzer in Sachsen, und dass der Jargon das heilige Bollwerk dieser unserer Nationalität sei — wo in aller Welt gibt es ein jüdisches Territorium, in dem die Jargonbevölkerung vorherrscht oder auch nur überwiegt? Der Ruthene in Ostgalizien, der Pole in Westgalizien kann tagelang wandern, seinem Beruf nachgehen, ein Amt ausüben, Bürgerpflichten erfüllen, ohne mit fremden Volksgenossen in Berührung zu kommen, ohne einen Laut in einer andern als seiner Muttersprache hervorzubringen. Anders die Juden. Es ist sehr leicht, von „Gebieten mit überwiegend jüdischer Bevölkerung" zu reden, ,,wo die Juden in kompakten Massen als ein Volk zusammenwohnen", aber ein kleines, armseliges Landstädtchen in Litauen, Polen oder Galizien ist kein „Gebiet". Selbst in einer so großen Stadt wie Warschau, wo die Juden mehr als 39,8%, Lodz, wo sie 36,4%, Bendzin, wo sie 50% der Bevölkerung bilden — wenn der Jude ins nächste Dorf sich begibt, um ein Kalb oder einen Scheffel Korn zu kaufen, wenn er ein paar Stiefel verkaufen, einen Dienstboten dingen oder eine Fuhre mieten will, muss er sich mit „Fremdsprachigen" verständigen. Ja, wenn er aus der einen Gasse in die andere sich begibt, ist er häufig schon aus dem Herrschgebiet seiner „Nationalsprache" hinaus. Nur wenn die Christen sich entschließen wollten, die Juden ganz zu boykottieren, jeden Handel und Verkehr mit ihnen aufzugeben, wäre das zu vermeiden. Denn den Gojim unseren Jargon aufzuzwingen, das ist uns polnischen Juden bisher noch nie in den Sinn gekommen. Ich glaube auch, es wäre ein ziemlich vergebliches Unterfangen, selbst wenn Herr Dr. Bodenheimer sein ganzes Können und Wissen auf diesem Gebiete uns zur Verfügung stellen wollte. Die Juden bilden also überall nur Enklaven, Sprachinseln, Minoritäten, nirgends ein geschlossenes, über die paar Gassen hinausgehendes Territorium, überall müssten sie exterritorial sein und hätten nirgends die Möglichkeit, Reziprozität zu üben, indem sie ihrerseits in ihrem geschlossenen Gebiet oder Zentrum andern Sprachgemeinschaften exterritoriale Rechte gewähren. Diese nackte Tatsache macht die Anwendung des Renner’schen Programms auf die Juden vollends illusorisch.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage