Dreiundzwanzigste Fortsetzung

Seit meiner frühesten Kindheit, da ich den Erzählungen alter Leute von den achtjährigen jüdischen Knaben lauschte, die Nikolaus I. auf 25 Jahre unter die Soldaten in Sibirien steckte, bis auf die jetzige Stunde, habe ich nur von grausamen Verfolgungen und Qualen gehört und gelesen, die die Russen meinen Glaubens- und Volksgenossen zugefügt haben. Seit meiner ersten Erinnerung aus dem russisch türkischen Kriege bis zur Invasion der Russen in meine Heimatstadt Lemberg, habe ich ununterbrochen auf Opfer der russischen Verfolgungen schauen müssen, die sich durch mein Vaterland Galizien wälzten (und von der ganzen, auch der nichtjüdischen Bevölkerung mit der größten Barmherzigkeit und Gastfreundschaft aufgenommen wurden.) Dagegen habe ich nie gehört, dass von Seiten Russlands den Juden etwas Gutes widerfahren wäre, abgesehen von den vergeblichen Bemühungen zweier oder dreier liberaler Politiker und den judenfreundlichen Proklamationen einiger Literaten zweiten und dritten Ranges. Denn die Sterne erster Größe, Puschkin, Gogol, Turgeniew, oder gar Dostojewski, waren grimmige Judenfeinde; und sogar Tolstoj, der Prophet, hat nur ganz abseits, in einer versteckten Ecke mal etwas gegen die Unterdrückung der Juden geflüstert, nie aber ihre Schicksale, die sich vor seinen Augen abspielten, in einer plastischen Schöpfung verkörpert. Dafür hat er eine ganze Anzahl talmudischer und späterer jüdischer Legenden, die er gelesen oder von dem Rabbiner Minor gehört, als genuin russische Volkserzählungen „verarbeitet"' und in die Welt hinausgesandt. (Nur Solowjew, der feine mystische Schwärmer, war ein aufrichtiger Freund der Juden, aber mit der stillen Voraussetzung, dass sie am Ende doch sämtlich sich zum Christentum bekehren werden. Tschirikow hat ein sehr wohlgemeintes Judendrama verfasst, welches vorzüglich gesehene Typen darstellt, und sehr viel gespielt wurde.) Sonst hat sich für mich der Name Russland und Russisch nur mit Pogromen, Metzeleien, Ausweisungen und Razzias auf Juden verbunden. Gleichwohl habe ich nie ein unfreundliches Wort über die Russen als Volk oder als Nation geschrieben. Es heißt immer nur, die russische Regierung und ihre Bureaukratie verfolgen die Juden, sie bedienen sich der Huligans, des gemeinsten Auswurfs der russischen Gesellschaft, um unter Assistenz der Polizei und der Ochrana Pogrome zu veranstalten. Dem russischen Volk wünsche ich, und mit mir wohl alle denkenden Juden, nur Gutes: Wohlgedeihen, Aufstieg zur europäischen Kultur und vor allem Freiheit, Befreiung von dem Vampyr des Imperialismus und des Panslavismus. Mich freut es immer, wenn ich von russischen Juden höre, dass sie das russische Volk entschuldigen, mit Sympathie von ihm reden, nur die Regierung, die Bureaukratie und die Huligans für alles Böse verantwortlich machen. Darin liegt ein Zug von Vornehmheit und Größe.

Mit Polen verhält sich die Sache gerade umgekehrt. Aber die Jünglinge von Knipischok und Sukinsynow verlangen, wir sollen vergessen, dass wir in diesem Lande seit tausend Jahren stets Zuflucht gefunden, nur Gutes erfahren, dagegen Verfolgungen in ausgedehntem Maße nur von den Feinden des Landes erduldet, dass wir hier ausgedehnte, fast souveräne Rechte genossen, Lehrstätten schaffen und Institutionen herausbilden durften, die auch den Juden anderer Länder zugute kamen; dass hier nie grausame, unmenschliche oder demütigende Gesetze gegen uns geschmiedet wurden, sondern umgekehrt, Gesetzgeber, Könige und Staatsmänner uns als einen integrierenden Teil der Nation behandelt haben; dass Künstler und Schriftsteller unser Leben und die Tragik unserer Geschichte mit einer Sympathie und einem Verständnis behandelt, wie wir sie nur bei unseren eigenen Dichtern und Künstlern gefunden haben. Das alles soll ausgetilgt und vergessen sein, nur für den Boykott, der eine unverantwortliche Rotte wahnsinniger Literaten und Politikaster in Warschau eine Spanne Zeit hindurch unter der Patronanz der russischen Regierung veranstaltet hat, sollen wir an der ganzen polnischen Nation Rache nehmen, und sie mit unversöhnlicher Feindschaft „strafen“. Leute, denen Lehrinhalt und Gefühlsweise des Judentums völlig fremd sind, die überdies kein Wort Polnisch verstehen, nie in unserm Lande gelebt, von unserer Geschichte in Polen keine blasse Ahnung haben, wollen uns einreden, dass die Ehre und das Glück des jüdischen Volkes es erfordern, wir sollen unserm Vaterlande in dieser schweren Krisis in den Rücken fallen, es in den Augen der deutschen Regierung anschwärzen, diese gegen das Polentum aufreizen und ihr unsere Dienste anbieten, um so an der Verewigung der Feindschaft zwischen diesen beiden Nationen zu arbeiten. Zur größeren Ehre und zum Glück des jüdischen Volkes !


Wie soll man sich das alles erklären?

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Vollkommen rätselhaft aber muss es erscheinen, dass dies alles im Namen des Zionismus geschehen darf.

Schon dass im Namen des Zionismus diese so fragwürdige „völkische Autonomie" für die Juden gefordert wird, ist sehr bedenklich, denn sie ist, bei Lichte besehen, sein schärfster Widerspruch. Der Zionismus erstrebt die Schaffung eines jüdischen Gemeinwesens, oder wie die Basler Formel lautet: „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk" in Palästina. In diesem Lande soll die Sprache des jüdischen Volkes das Hebräische sein. Es ist klar, dass man zur Erreichung eines solchen Ziels alle Kräfte anspannen muss. Mittlerweile sollen wir aber in einer ganzen Reihe von Ländern öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätten für das jüdische Volk schaffen, in denen die Sprache des jüdischen Volkes der Jargon sein soll. Wir sollen die hebräische Sprache zu neuem Leben erwecken und sie zu einem Instrument moderner Bildung und Wissenschaft ausgestalten, und zugleich den Jargon derart ausbilden, dass er eine dem Deutschen gleichwertige Kultursprache wird. Nebenbei aber auch den Osten, insbesondere Polen „germanisieren", die Vorherrschaft der deutschen Sprache dem Lande aufzwingen — und durch unsere eigne Unkenntnis des Polnischen dessen Einfluss zurückdrängen.

Wir sollen in Palästina eine hebräische, von reinstem jüdischen Geiste durchwehte Kultur schaffen, inzwischen aber die jüdisch-deutsche Kultur in Osteuropa ausbauen. In Palästina sollen wir Städte gründen, und zugleich Warschau, und natürlich auch die anderen polnischen Städte, den Polen wegnehmen. Wir sollen Palästina mit einer jüdischer Bauernbevölkerung besiedeln, zugleich aber, nach dem Vorschlag des Klystierpolitikers der „Jüdischen Presse“, Polen als Siedlungsland betrachten, die dortigen Juden in Bauern verwandeln, sie an die dortige Scholle binden, damit der deutsche Einfluss im Lande ein Element habe, dessen er sich jeder Zeit bedienen könne. Wir sollen die Idee des Judentums in der Welt hochhalten, und zugleich die „germanische Idee" in Polen vertreten. Wenn wir in Palästina eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte erwerben, müssen wir doch dem Orient gegenüber wohl etwelche jüdische Interessen wahrnehmen. Zugleich aber sollen wir uns der ungeheuren Aufgabe widmen, die Interessen des Hundertmillionenvolkes der Deutschen und seines mächtigen Reiches den Polen, na, und auch den andern Slaven gegenüber zu verfechten. Heißt das nicht, unsere Leistungsfähigkeit ein klein wenig überschätzen?

Vor allem aber möchte ich wissen: in welchem Zusammenhang steht der Zionismus mit dem Polenhass? Warum geben sich gerade die zionistischen und ihnen verwandten Organe zur Schürung der wahnsinnigen Polenhetze her? Nehmen wir an, die Zionisten hätten alle Anstalten getroffen, um die Juden aus dem „Golus" zu erlösen, und sie gleich nach dem Kriege in das gelobte Land zu führen, — ist es notwendig, dass wir von Polen — ausgerechnet von Polen! — allein mit Groll und Bitterkeit scheiden? Was für ein Interesse hat der Zionismus daran, dass die Polen vor der ganzen Welt, und zunächst vor ihren jüdischen Landsleuten, als die geschworenen Gegner und Todfeinde der Juden dastehen, die Juden hinwiederum den Polen als die berufenen und wohlbestallten Zerstörer und Vernichter ihrer Nationalität, ihrer Kultur, Sprache und Freiheit gelten?

Wer antwortet mir darauf?

Betrachtet man dieses Gewirr unlösbarer Fragen, so hat man das Gefühl, vor einem Rätsel zu stehen.

Ich will euch verraten, was dahinter steckt.

Es handelt sich hier weder um nationale Autonomie der Juden, noch um die Erhaltung des Jargons oder des Hebräischen, es handelt sich überhaupt hier nicht um Interessen des Juden oder des Judentums. Ebensowenig handelt es sich um irgendwelche Interessen der Deutschen oder des Deutschtums.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage