Vierundzwanzigste Fortsetzung

Hier sind ganz andere Dinge im Spiel.

Die Sache ist die:


Man hat beobachtet, dass die Kinder gerne Krieg spielen; mit erstaunlichem Spürsinn leimen sie sich aus allerlei abgerissenen Nachrichten ein Bild des Kriegsschauplatzes zusammen und wiederholen die Operationen auf der Straße, im Schulhof und im Kinderzimmer. Es gibt eine andere Sorte von Kindern, Kindern, nicht dem Alter, sondern dem Verstände nach, die in gleicher Weise das Regieren auf eigne Faust betreiben, beim Schreibtisch, im Salon, im Redaktionszimmer, auf der Bank hinter dem Ofen. Das Regieren ist so süß! Kann man's nicht in Wirklichkeit üben, so übt man's wenigstens in der Phantasie, auf dem Papier. Wenn die russischen Bauern keinen Schnaps zum Trinken haben, reden sie von Schnaps. Leute, die einmal eine kurze Weile bei Regierungsgeschäften zusehen durften, sehnen sich ihr ganzes Leben, es wieder einmal tun zu dürfen, wenigstens eine kleine Kurbel mit anzufassen, oder der Karre von fern nachzulaufen. Andere, die den hohen Beruf in sich fühlen und überzeugt sind, es besser machen zu können, sehen zähneknirschend und geschwollen vor Neid, den anderen zu, die am sausenden Webstuhl der Zeit stehen und — wirken.

Eine solche Gruppe appetitgesegneter Politiker hat in Berlin eine Art Nebenregierung etabliert. Ganz unzufrieden mit der Politik des Kaisers und des Kanzlers, verteilen sie die Welt nach ihrem eigenen Geschmack. Es ist dieselbe Gruppe, die bis zum Krieg in einer ganzen Reihe von Broschüren und Zeitungsartikeln die Idee vertrat, dass Österreich-Ungarn morsch sei und alsbald zerfallen müsse, es sollte rechtzeitig geteilt werden, die slawischen Provinzen sollten an Russland fallen, die deutschen Kronländer vom Deutschen Reich annektiert werden. Man kann schon daraus allein auf die vollkommene Bedeutungslosigkeit dieser Sonntagspolitiker schließen. Deutschland sollte über den Trümmern der Donau-Monarchie mit der schwärzesten russischen Reaktion und dem russischen Imperialismus und Absolutismus ein ewiges Bündnis, eine neue Heilige Alliance schließen und über Europa ein neues Mittelalter heraufführen.

Dieser schöne Plan ist Ende Juli 1914 zerronnen. Jetzt soll das Projekt auf anderer Basis verwirklicht werden: mit Russland soll, je früher je besser, womöglich ein Separatfrieden geschlossen, das okkupierte polnische Gebiet zwischen Preußen und Russland geteilt, ein neuer Bund besiegelt werden. Die eine Hälfte Polens wird den Hakatisten, die andere den echt russischen Leuten zur Verwaltung und Pazifizierung ausgeliefert. Österreich kann leer ausgehen, oder mit einem mageren Knochen aus dem polnischen Leib abgefertigt werden, und derweil warten, bis es selber an die Reihe kommt. (Was für ein Schicksal bei einer solchen Kombination den Juden blühen würde, ist leicht zu erraten.)

Gegen derartige Projekte, die selbstverständlich kein Mensch ernst nimmt, sträubt sich aber der gesunde Sinn und das Gewissen der besten Deutschen mit dem Reichskanzler an der Spitze. Man will keine Provinzen mit nichtgermanischer Bevölkerung annektieren, an der man unter ungeheurer Kraftvergeudung qualvolle vergebliche Germanisierungsversuche vornehmen müsste. Die Deutschen in Kongress-Polen, etwas mehr als eine halbe Million an Zahl, leben mit der polnischen Bevölkerung im besten Einvernehmen, ihr Deutschtum wird von niemandem bedroht oder angefochten und sie bedürfen keiner Erlösung.

Es wäre so schön, wenn man dort erlösungsbedürftige Germanen feststellen könnte. . . .

Hier sprangen die Berliner Retter der polnischen Juden hilfreich bei. Ein kleines Grüppchen müßiger Literaten, unbeschäftigter Advokaten und patientenloser Ärzte machte seit langem in Zionismus. Sie hatten schon darum allein eine Art Verfügungs- und Besitzrecht über die „Ostjuden". Seit Ausbruch des Krieges war die ganze zionistische Rede- und Schreibetätigkeit lahmgelegt und diese Herren vergingen vor Langerweile. Da besannen sie sich, dass jetzt vielleicht die Konjunktur für Germanisatoren günstig wäre. Sie klopften zunächst sehr behutsam hoch oben an: ,,Germanisatoren gefällig? Wir haben polnische Juden auf Lager." Man schlug ihnen die Türe vor der Nase zu. Es war kein Bedarf in Germanisatoren. Allein sie verzweifelten nicht, sondern fingen an, richtig herumzuhausieren, pochten an immer bescheidenere Türen an: „Germanisatoren gefällig? Wir haben polnische Juden auf Lager! In allen Preislagen! Prompte Bedienung zugesichert!" Das ging so in einem fort, immer um ein paar Stufen tiefer hinab, bis sich Abnehmer fanden in der Person jener Annexionstheoretiker, die vor dem Tintenfass regieren, und jetzt für eine Weile ihren eingefleischten Antisemitismus zurückgestellt haben. Mit diesem ist ja ohnehin vorläufig kein Geschäft zu machen.

Nun hatte man in Polen die gewünschten Germanen, die man erlösen muss. Es sind dies allerdings Germanen zweiter Güte, wenn sie sich einfallen ließen, nach Germanien zu kommen, könnten sie was erleben. Aber zur Vertretung der „germanischen Idee" in Polen sind sie immerhin gut genug. Natürlich darf man sie ,,den Polen nicht ausliefern", denn sie sprechen Deutsch. Deutsch sprechen sie freilich nur an der Peltew und an der Weichsel, wenn sie nach Berlin kommen, „mauscheln" sie furchtbar. Aber eben darum sollen sie nur ruhig dort bleiben wo sie sind, und die „germanische Idee vertreten" und die „deutschen Interessen wahrnehmen“. In der Presse wird mächtig Schaum geschlagen, das breite Publikum wird irre, es fängt an, zu glauben, dass in der Tat hinter diesem Lärm etwas stecke. So hofft man, im deutschen Volke den tiefen Widerwillen gegen diese Pläne zum Schweigen zu bringen und mittels der öffentlichen Meinung auf die Regierung einen Druck in der erwünschten Richtung ausüben zu können. Die Sache hat überdies etwas Pikantes, es sieht beinahe nach Philosemitismus und Liberalismus aus. Die Juden in Deutschland glauben, einen versöhnlichen Ton herauszuhören, dessen sie gerade von dieser Seite nicht gewöhnt waren, und erwarten den Anbruch einer neuen Epoche. Ein paar fromme, strebsame Herren haben daraufhin bereits unternommen, die Juden in das Lager der Antisemiten und Hakatisten überzuführen, und erhoffen, gegen prompte Lieferung einer entsprechenden Anzahl polnischer Juden als Germanisatoren, einige günstige Blicke zu erhaschen, vielleicht sogar im Verlaufe der Zeit einmal einen Knochen zum Benagen hingeworfen zu bekommen. Die Juden in Polen hinwiederum erfahren von all dem, was mit ihnen geplant wird, erst aus den Zeitungen, wissen nicht, was sie davon zu denken haben und fürchten, dass ein Protest von ihrer Seite als eine Unfreundlichkeit gegen die deutsche Regierung oder gar gegen das Deutschtum aufgefasst werden könnte. Sie sind zum Schweigen gezwungen. Mittlerweile sieht sich mancher entthronte Pascha wieder in Amt und Würden eingesetzt, etwa als Generalgubernator eines großen Gebietes, welches er zu pazifizieren hat, und ihm zur Seite träumt sich manch anderer als Spezialminister für die Ostjuden und schwelgt von vornherein in den Wonnen der Macht. Präsident, General oder Minister der jüdischen Republik von Palästina wäre allerdings noch schöner. Aber das liegt, ach, so fern! Lieber ein Spatz in der Hand, usw. In St. Petrograd herrschen in den entsprechenden Sphären ganz analoge Bestrebungen; man möchte sich über die Weichsel hinweg die Hände reichen, um jede freiheitliche Regung, jede Hoffnung auf eine Besserung im Keime zu ersticken. Dieselbe Gattung von Juden, die hüben die „germanische Idee" vertreten soll, wird drüben, wie schon durch den seligen Plehwe geschah, zu Vertretern der im Zarismus verkörperten „slawischen Idee" dressiert werden. Das wird fortab die wahre Mission des jüdischen Volkes sein! Juden und Polen werden sich gegenseitig zerfleischen, und die Regierung wird allemal der bedrängten Partei zu Hilfe eilen, um dem gekränkten Recht zum Siege zu verhelfen. Divide et impera!

Leider ist die Aussicht auf Verwirklichung dieser schönen Träume sehr gering, denn in Deutschland herrscht gottlob noch immer Kaiser Wilhelm, und es regiert sein Kanzler. Aber . . . in magnis voluisse sat est.

Der Raum verbietet es mir leider, hier diesen Handel im Einzelnen zu schildern. Hinweisen möchte ich nur auf die wahrhaft bejammernswerte Rolle, die dabei dem Zionismus zugeteilt wurde. So manches zionistische Schreiberlein wird die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn es erfährt, welchen Tendenzen es gedient hat. Wenn nämlich solch ein Schreiberlein in neun von zehn Fällen auch ein dummer Kerl ist, so ist es doch in neun von zehn Fällen eine ehrliche Haut. Man hatte ihm eingeredet, dass das Wohl der Juden für sie die nationale Autonomie in Polen erfordere, und dass der Patriotismus es erheische, gegen die Polen als die Feinde der deutschen Nation zu kämpfen, und er hetzte frisch darauf los, ohne sich stören zu lassen . . . Die zionistische Jugend ist so tapfer in den Krieg gezogen, Tausende und Tausende sind ihrer als Freiwillige den ehrlichen Soldatentod gestorben. Und es mindert die Bedeutung ihres Opfers für ihr Vaterland wahrlich keineswegs, dass sie im Sterben auch an das jüdische Volk dachten, und überzeugt waren, mit ihrem Tode ihm das Lebensrecht in der Welt besser zu begründen oder neu zu erkaufen. Mittlerweile wird hinter der Front ihre weiße Fahne missbraucht, denn ein Rudel Streber hat das Bedürfnis, sich kriecherisch nach oben hin beliebt zu machen, und ergreift im Namen des Zionismus von den polnischen Juden Besitz, um sie als Tauschobjekt anzubieten. Manch anderer wird eben auf Grund seines Zionismus germanischer als jeder Germane (entdeckt z. B. frei nach Chamberlain eine „germanische Ethik") und findet richtig den Weg, welcher hinauf zu einem Ämtchen führt, einem kleinen, ganz kleinen Ämtchen vorläufig; aber man kann es ja mit Gottes Hilfe weit bringen, wenn erst der Anfang gemacht ist. Schön, ihr Herren, aber wie kommen wir polnischen Juden dazu, die Kosten eurer Werbungen zu tragen? Warum müsst ihr just auf unserem Rücken in den Himmel eurer Sehnsucht kriechen? Welcher Teufel reitet euch, eine Welt gegen uns aufzuhetzen? Wo nehmt ihr das robuste Gewissen her, uns vor ganz Europa als eine heimat- und ehrlose Zigeunerbande hinzustellen, über die ihr nach Belieben verfügen dürft? Als ein Rudel von Dirnen, welche bereitstehen, sich an jeden Stärkeren zu verkaufen? Habt ihr den Verstand verloren, oder leidet ihr an moral insanity? Wir haben die Sache satt! Wir werden unsere ungebetenen Beschützer wie böse Schädlinge mit Peitschenhieben aus unserem Garten jagen. Hier muss mit eisernem Besen ausgekehrt werden. Hört ihr Herren und lasst's euch sagen: es ist das letztemal gewesen, dass in St. Petrograd, Wien und Berlin die Haut polnischer Juden zu Markte getragen wurde!


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Nun kann man wohl begreifen, dass mancher jetzt den Kitzel verspürt, Vorsehung zu spielen und seinen Namen in die Tafeln der Geschichte einzukratzen. Nun denn: für den Tatendrang der Herren von der Behrenstraße weiß ich eine ernste und nützliche Aufgabe. Jeder, der Augen hat, zu sehen, muss sich sagen, dass in Deutschland ein neuer Antisemitismus im Anzug ist, gegen den der vergangene, der seit dem Ausgang der siebziger Jahre tobte, das reine Kinderspiel war.

Schon kurz vor dem Kriegsausbruch erlebte der Antisemitismus eine stille Wiedergeburt, nachdem er einige Jahre hindurch im Absterben zu sein schien. Seither sog er neue Kraft aus mannigfachen psychologischen, sozialen und wirtschaftlichen Ursachen. Nun schwillt er unterirdisch immer mehr an, die Regierung dämmt ihn vorläufig mit eiserner Faust ein, aber wenn erst der Krieg vorüber ist, wird er sicherlich mit einer Gewalt auflodern, von der die Arglosen sich jetzt keine Vorstellung machen. Was sich schon jetzt in der Form von gelehrten Artikeln und ernsthaften Broschüren ans Licht wagt, ist verheißungsvoll genug. Ich kenne ein paar gerissene Zeitungs-Verleger, die für die kommenden Dinge eine gute Witterung haben; sie ahnen die herannahende antisemitische Hochkonjunktur und richten sich auf eine entsprechende Massenproduktion ein. Wer Gelegenheit hat, die Stimmungen höher, viel höher hinauf zu beobachten, muss zu den gleichen Vermutungen kommen. Die Verhältnisse nach dem Kriege aber werden Gärstoff und Brennmaterial genug enthalten.

Nun hatte der Antisemitismus in Deutschland die Eigenschaft, dass er vorwiegend Exportartikel war. Für den heimischen Verbrauch kam er nur als Phrase und Schlagwort, als Rausch- und Ablenkungsmittel in Betracht. Seine praktischen Folgen für die deutschen Juden waren äußerst gering. Er hat vielen seelisch weh getan, hat Groll und Ärger erregt, aber der fühlbare Schaden, den er gestiftet, war minimal. Mancher jüdische Privatdozent ist nicht Professor, mancher Regierungsrat nicht Geheimer geworden. Aber Pogrome zu machen war in Deutschland schon technisch unmöglich; die hier herrschende Rechtsordnung und der Rechtssinn des Volkes machten alle (übrigens wahrscheinlich nicht einmal ernst gemeinten) Versuche, die Gleichberechtigung der Juden anzutasten, von vornherein aussichtslos. In wirtschaftlicher Beziehung ging er an ihnen ganz spurlos vorüber.

Die volle Wirkungskraft seines Giftes kam erst im Auslande, besonders im Osten, zur Entfaltung. Die Russen hielten die Augen seit jeher wie hypnotisiert auf Deutschland gerichtet, dieses war ihnen stets Meister in allen ernsten Fragen der Politik und des öffentlichen Lebens. Aus Frankreich bezog man Parfüms, Damenmoden und Champagner, aus Deutschland Ideen. Sogar der Panslavismus baut sich aus Gedankenfetzen auf, die der deutschen Philosophie entlehnt und — verstümmelt wurden. Auch der Antisemitismus wurde begierig aufgenommen und von den dortigen hemmungslosen Menschen sofort in die Tat umgesetzt. Durften in Deutschland Professoren, Parlamentarier und Hofprediger in öffentlichen Versammlungen die Frage erörtern, ob die Juden überhaupt im Lande zu dulden oder nicht wenigstens unter Fremdenrecht zu stellen seien, wegen der unverbesserlichen Verderbtheit ihrer Rasse, durfte man in Wien den Antrag stellen, die Regierung solle ein Schussgeld auf sie einführen, was brauchte man sich in Russland zu schämen, sie durch den Pöbel kurzweg totschlagen und vertreiben zu lassen? So ist Stöcker vor mehr als 36 Jahren der eigentliche Vater der russischen Pogrome geworden. Während man in Berlin mit wissenschaftlichen Theorien und Rednerphrasen hantierte, schwang man in Russland das Mordbeil und die Brandfackel. Was hier gesät wurde, ging dort blutig auf. Die ganze judenfeindliche Literatur Russlands ist ein einziger Abklatsch der deutschen. Jahrzehntelang waren die russischen antisemitischen Blätter, von dem ,,Nowoje Wremja“ bis hinab zum „Snamja“ nur ein Echo der Kreuzzeitung, der Staatsbürgerzeitung und der anderen bis zu Hardens „Zukunft". Die Polen wissen ungleich besser als die Russen, zwischen deutscher Kultur und Unkultur zu scheiden; obgleich sie im allgemeinen viel stärker und williger als die Russen von deutschem Geistesleben sich beeinflussen ließen, setzten sie in Bezug auf den Antisemitismus der großen Suggestion einen bewussten und hartnäckige Widerstand entgegen, und so ist ihre antisemitische Literatur bis in die letzten Jahre äußerst dürftig geblieben, aber die wenigen vorhandenen Bücher und Broschüren waren alle durchweg Übersetzungen aus dem Deutschen. Dass Sombarts Lehren dem Boykott der Juden als wissenschaftliche und moralische Rechtfertigung dienten, habe ich schon erwähnt. Niemojewskis unflätiges und abstoßendes Pasquill über die „Judenseele" ist nichts als ein Sammelsurium von Zitaten aus den Schriften deutscher Antisemiten, einige französische stammen ihrerseits aus deutschen Quellen. (Niemojewski ist übrigens seit fast einem Jahre von allen anständigen literarischen Kreisen ausgeschlossen und wird gemieden.)

Und das wird auch in Zukunft so sein. Ebensowenig wie die Russen je deutsche Industrieprodukte werden entbehren können, werden sie es ohne deutsche Ideen aushalten. Natürlich wird die aus Deutschland kommende Unkultur des Antisemitismus auch fürderhin ungleich leichter Anklang, Verständnis und Verbreitung finden als die Kultur in Gestalt der Lehren deutscher Forscher und Denker, denn erstere trifft auf eine verwandte Disposition, kitzelt die gemeinen Instinkte und stellt keine Anforderungen an Geist und Hirn.

Wenn nun in Deutschland schon jetzt eine sehr angesehene und gerade in maßgebenden Kreisen einflussreiche Zeitschrift schreiben darf: man könne dem russischen Verwaltungssystem gegen die Juden, mit dem Pogrom als ständiger Einrichtung, Verstand und Weitblick nicht absprechen, denn nach ihrer Emanzipation würden die Juden in Russland gleich wie dies in Westeuropa geschehen, nur zu leicht im Wirtschaftsleben und bald auch im politischen Leben die Führung an sich reißen — so wird man sich das in Russland nicht zweimal sagen lassen. In Polen wird jetzt der Einfluss Deutschlands ungleich größer (sein als vor dem Kriege, die russische Begierung hat hier seit zehn Jahren mittels der ihr ergebenen Nationaldemokratie in den breiten Schichten eine judenfeindliche Stimmung geweckt und genährt, welche unser unseliges Bettungskomitee durch seine Hetze seit einem Jahre mächtig geschürt und vertieft hat. In Polen würden also die neu-antisemitischen Strömungen einen ausgezeichnet vorbereiteten Boden finden. Der Widerstand, der ihnen in der vergangenen Epoche entgegengesetzt wurde, wird nicht mehr vorhanden sein. Die Meister des deutschen Antisemitismus werden im Osten gelehrige Schüler finden, die ihren Theorien mit Dreschflegel, Mordbeil und Brandfackel Geltung verschaffen werden.

Andererseits kündigt sich jetzt schon in Deutschland unter den Juden eine starke Abfallbewegung an — gleichwie sie nach den Befreiungskriegen und nach 1870/71 um sich griff. Auch diese Bewegung wird, gleich ihren Vorgängerinnen, sich nach Polen ausbreiten. dort aber auch als Reaktion unter den orthodoxen Massen eine starke Abneigung und einen Widerstand gegen Bildung und Fortschritt wecken. Man kann sich leicht ausmalen, was für einem Chaos wir polnischen Juden entgegengehen.

Hier erwächst nun den führenden Geistern unseres Bettungskomitees für den Osten eine ernste und dankbare Aufgabe. Wenn sie es aufrichtig gut mit den ,,Ostjuden“ meinen, so brauchen sie nur bei sich daheim Ordnung zu halten, den neu entstehenden Antisemitismus im Keime zu ersticken, die Abfallbewegung zu bekämpfen und die Anhänglichkeit an das Judentum zu stärken. Freilich, eine solche Tätigkeit bietet keine Gelegenheit, mit den hohen Behörden, oder richtiger, mit deren Portiers, in Berührung zu kommen, in den Wartezimmern der Ministerialsekretäre herumzusitzen und „Eingaben", die von keinem Menschen gelesen werden, an die Begierungsstellen zu machen. Aus einer solchen Tätigkeit wird kein Titel und kein Orden erblühen, aber sie kann dafür wirklich nützlich und fruchtbringend werden. Allerdings würde dazu eine tüchtige Kenntnis des Wesens und der Geschichte des Judentums gehören, die man aus den Artikeln und Notizen der zionistischen Blättchen — der einzigen jüdischen Lektüre dieser Herren nicht gewinnen kann. Auch dürfte man nicht beim Studium der hebräischen Fibel, das ich angeraten habe, stehen bleiben, sondern müsste sich schon etwas höher hinaufwagen.

So gering ich die Kapazität dieser Herren einschätze, so bin ich doch der Meinung, dass sie zu einem Wirken im eigenen Kreise viel weniger unfähig sind, als das Schicksal der Juden in einem fremden Lande zu lenken. Wenn sie aber ernstlich daran gehen wollten, vor der eigenen Türe zu fegen und im eigenen Hause nach dem Rechten zu sehen, so würde ihnen das so viel zu schaffen geben, dass sie keine Zeit fänden, das jüdische Volk in Polen glücklich zu machen. Und das allein wäre schon ein enormer Gewinn.

      Berlin, im Dezember 1915.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage