Zweiundzwanzigste Fortsetzung

Nicht genug damit, wird der Hass zwischen Juden und Polen aus allen Kräften und mit allen Mitteln geschürt. Es wurde schon erwähnt, wie die Gräuel der Russen in Polen — unter vollkommener Reinwaschung der Russen — ausschließlich auf die Polen geschoben wurden. Seitdem hört das Hetzen nicht auf. Bald lässt man die Juden in Polen sich nach der verflossenen Herrschaft der Russen zurücksehnen, damit sie vor der „gewaltsamen Polonisierung" gesichert seien, bald will man von den Juden gehört haben, dass sie eher unter der russischen Knute leben wollen, als in einem freien Polen. Das schreiben nicht etwa die Organe der „Schwarzen Hunderte“, sondern sie übernehmen es aus den zionistischen und verwandten Blättchen in Deutschland und Österreich! Keine Nummer, die nicht die albernsten und schamlosesten Lügen brächte, geeignet, den Juden ein Grauen vor den Polen einzuflößen. Die alltäglichsten Kleinigkeiten werden aufgebauscht, ins ungeheure übertrieben, auf’s gehässigste verzerrt. Alles Versöhnliche und Friedliche wird geflissentlich unterdrückt und totgeschwiegen. Aus Polen z. B. sind unzählige Fälle bekannt geworden, da mitten im Taumel des gegenseitigen Hasses und der Verleumdungen polnische Edelleute und sogar Bauern den verjagten Juden halfen und ihnen Schutz gewährten; Pfarrer haben mit eigener Lebensgefahr russische Bluturteile verhindert, das furchtbare Schicksal von ganzen Gemeinden abgewendet; in Galizien haben katholische Geistliche jüdische Mädchen wochenlang in den Kirchen versteckt gehalten, um sie vor der viehischen Lüsternheit der Russen zu schützen. In Lemberg hat all die traurige Russenzeit hindurch der Bürgermeister Rutowski sich der 50.000 jüdischen Armen hingebungsvoll angenommen. Aber von all dem schwieg die zionistische Presse beharrlich. Es liegt Methode in diesem Treiben. Das Werk der russischen Regierung wird fortgesetzt: die Polen sollen gewaltsam zum Judenhass erzogen werden. Und die zehntausende Juden, die jetzt nach Galizien heimzukehren gezwungen werden, sollen fortab in jedem Polen einen Todfeind sehen, während die Polen in jedem Juden einen „Germanisator" zu erblicken haben, der es auf den Bestand ihrer Nation abgesehen hat und jederzeit im Dienste einer auswärtigen Macht steht. Wie soll man in einer solchen mit bitterem Hass und gegenseitigem Argwohn geschwängerten Atmosphäre atmen? Wie sollen diese Menschen am Wiederaufbau ihres unsagbar verheerten Landes arbeiten?

Wem soll dieser Hass nützen? Was soll er für einen Sinn haben? Sollen die Juden aufgestachelt werden, den Polen ewigen Hass und Rache zu schwören für den Boykott? Sollen wir zur Strafe für diesen ihnen Fehde und unversöhnliche Feindschaft ansagen? Ei, du lieber Himmel! Wenn wir allen Völkern und Ländern, die uns tausendmal länger und tausendmal schlimmer gepeinigt haben, ewigen Hass und Rache schwören wollten, wir müssten eine ganze Anzahl von Ewigkeiten zu Verfügung haben!


Wir Juden, die wir von Abraham unsere Herkunft ableiten, halten an der uralten, nie vergessenen Lehre fest, dass ein Gerechter hinreicht, damit um seinetwillen einer ganzen Stadt voller Frevler verziehen werde! Wie kann ein Jude vergessen, dass die Bibel ausdrücklich verbietet, den Ägypter unfreundlich zu behandeln: ,,denn du hast ja in seinem Lande gewohnt." Sein Land war der ,,eiserne Glutofen", in dem du 400 Jahre zu Tode gebraten, das große Marterhaus, in dem du mit schwerer, erniedrigender Sklavenarbeit gepeinigt wurdest, der Ägypter erwürgte deine Knäblein, oder ließ sie wie junge Katzen im Nil ersaufen. Aber du hast in seinem Lande gewohnt, darum darfst du ihn nicht unfreundlich, nicht einmal hochmütig behandeln! Im Lande der Polen wohnen wir seit 800 oder 1.000 Jahren, wir haben dort Zuflucht vor grausamen Verfolgungen und Schutz vor Ausrottung gefunden. Das Land ist uns wahrlich kein Marterhaus und kein eiserner Glutofen gewesen. Aber wir sollen den Polen ewigen Hass und Rache schwören für die anderthalb oder zwei Jahre Boykottes, den das aufgehetzte und irregeführte, von der russischen Regierung systematisch depravierte Kleinbürgertum in Warschau veranstaltet hat! So wollen es die Juden von gestern, die Juden Basler Konfession! Und das soll die Ehre des Judentums erfordern!

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Mir ist es überhaupt unbegreiflich, wie ein echter Jude, einer, der mit dem Gefühlsleben in Bibel und Talmud wurzelt, fähig ist, Hass und Rache gegen Völker, Länder oder Generationen zu predigen. Höchstens macht der Jude seinem Groll über erlittene Schmach und Qual in einer kräftigen Verwünschung Luft. Das ist er seinem Temperament schuldig. Aber ist es nicht bezeichnend, dass die Gedenktage aller großen Verfolgungen von den Juden mit Fasten und Gebeten begangen werden, die „Selichoth" heißen, Bußlieder, Gebete um Vergebung der Sünden und um Versöhnung? Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass alle Verfolgung in der Welt ein Ausfluss der großen Sündhaftigkeit ist, in deren Bann die Menschen befangen sind, und von der sie nur durch Umkehr und Buße erlöst werden können. Wir beten um Vergebung für die Welt, zuvörderst aber für uns, denn die Verfolgung ist als Heimsuchung für unsere Sünden über uns hereingebrochen. Wie vereint sich also eine Hasspredigt mit jüdischem Empfinden und jüdischer Gesinnung?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die polnische Judenfrage