§ 119. Die Auswanderung und der Pogrom von Balta. (1882)

Bedrückt vom Warschauer Pogrom (Dezember 1881) und von aufregenden Gerüchten über bevorstehende Repressionen, empfing die jüdische Gemeinschaft das neue Jahr. Die Unglücksfälle der jüdischen Massen hatten indessen die Wut der Regierung nicht gestillt, sondern sie nur noch mehr angefacht. „Man schlägt euch, folglich seid ihr schuld“ — das war die Logik der regierenden Kreise. Der offizielle Geschichtsschreiber dieser Epoche gesteht, dass bei der Niederschlagung der Pogrome der Regierung die erzwungene Rolle als Beschützer der Juden vor der russischen Bevölkerung lästig fiel. Zu dem Bericht des Warschauer Generalgouverneurs für das Jahr 1882, in dem von der Unterdrückung antijüdischer Unruhen mit bewaffneter Macht die Rede war, machte Alexander III. den Vermerk: „Das ist eben das Traurige an all diesen jüdischen Unruhen.“ Der Zar trauerte nicht über die misshandelten Juden, sondern über die bezähmenden und bezähmten Russen. Die Weiterblickenden in der jüdischen Gesellschaft begriffen bereits, welche Folgen diese unheilverkündenden Stimmungen der „höchsten Sphären“ haben können, weniger Scharfsichtige aber wandten sich an die Regierung selbst mit Fragen und erhielten allerdings unzweideutige Antworten. Im Januar 1882 erklärte der Minister N. Ignatjew dem Dr. Orschanski (dem Bruder des bekannten Publizisten) folgendes und gestattete ihm, es zu veröffentlichen: „Die Westgrenze steht den Juden offen. Die Juden haben von diesem Recht bereits vielfach Gebrauch gemacht und ihre Auswanderung wurde in keiner Weise gehemmt. Was die von Ihnen angeregte Frage der Übersiedlung von Juden ins Reichsinnere anbetrifft, so wird die Regierung natürlich alles vermeiden, was die Beziehungen der Juden zur Stammbevölkerung noch komplizieren könnte. Daher habe ich bereits, unbeschadet des unverletzlichen jüdischen Ansiedlungsrayons, dem „Jüdischen Komitee“ (beim Innenministerium) vorgeschlagen, auf jene wenig bevölkerten und kolonisationsbedürftigen Orte hinzuweisen, wo eine Ansiedlung des jüdischen Elements ohne Schaden für die Stammbevölkerung zugelassen werden könnte.“ Die in den Zeitungen veröffentlichte Antwort des Ministers konnte nur die Panik steigern. Wurde doch den Juden durch sie öffentlich erklärt, dass die Regierung sie loswerden wollte, dass ihnen nur ein Recht — das Recht der Auswanderung gewährt werde, dass die Erweiterung des Ansiedlungsrayons eine aussichtslose Hoffnung sei und dass die Regierung äußerstenfalls die Kolonisation einiger Gruppen von Juden in den unbewohnbaren Steppen Zentralasiens oder den Tundren Sibiriens dulden würde. Kundige wussten auch noch etwas Schlimmeres: nämlich, dass im „Jüdischen Komitee“ beim Innenministerium ein ungeheuerlicher Entwurf ausgearbeitet werde, in dem die Verringerung des Ansiedlungsrayons selbst durch Vertreibung der Juden aus den Dörfern und ihre Konzentrierung in den überfüllten Städten geplant sei.

Die Seele des Volkes war voller Bitternis, aber laut zu schreien, öffentlich zu protestieren, war unmöglich. Man musste wieder zur alten, mittelalterlichen Form des nationalen Protestes — zur Erleichterung des Herzens in der Synagoge — Zuflucht nehmen. Viele jüdische Gemeinden waren übereingekommen, auf den 18. Januar ein Fasten des ganzen Volkes mit synagogalem Gottesdienst nach dem Ritus der Trauertage anzuberaumen. In Petersburg fiel diese Trauerdemonstration besonders eindrucksvoll aus. Am bestimmten Tage versammelte sich in der Hauptsynagoge und in anderen Bethäusern die ganze jüdische Kolonie der Hauptstadt mit ihrer zahlreichen Intelligenz. Die Hymnen jahrhundertealten Märtyrertums, die „Slichoth“, wurden verlesen; in der Hauptsynagoge hielt der Rabbiner eine Rede über das Unglück des Volkes. „Als der Prediger“ — so berichtet ein Augenzeuge — mit einer vor Aufregung versagenden Stimme die gegenwärtige Lage der Juden schilderte, entrang sich wie einer einzigen Brust ein langgedehntes Stöhnen und verbreitete sich in der Synagoge. Alle weinten: Alte, Junge, langschößige arme Leute und nach letzter Mode gekleidete Stutzer, Beamte, Ärzte, Studenten, — von den Frauen ganz zu schweigen. Zwei, drei Minuten ununterbrochen dauerte dieses erschütternde Stöhnen, dieser sich nach außen sich entringende Schrei des allgemeinen Leidens an. Der Rabbiner konnte nicht weiter sprechen. Er stand auf der Kanzel, die Hände vor das Gesicht gedrückt und weinte wie ein Kind.“ — Die gleichen politischen Demonstrationen vor Gott wurden an diesen Tagen auch in vielen anderen Städten abgehalten, wobei stellenweise sogar ein dreitägiges Fasten vorgeschrieben wurde. Überall nahm die studierende Jugend an der allgemeinen Trauer teil, gleichsam in der Vorahnung, dass ihr noch Jahrzehnte des Elends und der Tränen bevorstanden . . .


Der in Russland unmögliche politische Protest erscholl aber in England. In denselben Tagen, da die russischen Juden in ihren Synagogen weinten, veranstalteten ihre englischen Stammesgenossen in Gemeinschaft mit hervorragenden politischen Männern aus der christlichen Gesellschaft „Entrüstungsmeetings“ gegen die Schrecken des russischen Judenhasses. Schon früher, sogleich nach dem Warschauer Pogrom, war in den „Times“ eine Artikelserie, betitelt „The persecution of the Jews in Russia“, erschienen, in der alle Pogrome des Jahres 1881 lebhaft geschildert wurden. Die Artikel hatten einen ungeheuren Eindruck gemacht. In einer Sonderbroschüre wiedergedruckt, die in kurzer Zeit drei Auflagen erlebte, verbreiteten sie sich weit außerhalb der Grenzen Englands. In der Gesellschaft und in der Presse ertönten verschiedene Stimmen, die die Notwendigkeit eines diplomatischen Einschreitens zugunsten der Unterdrückten und der Organisation einer materiellen Hilfe für die Pogromopfer betonten. Die russischen Diplomaten waren äußerst verwirrt durch dieses Wachstum der antirussischen Stimmung in einem Lande, dessen Regierung (das Kabinett Gladstones, das an Stelle des russenfeindlichen Kabinetts von Beaconsfield getreten war) bisher mit Russland freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatte. Im Organ des russischen Außenministeriums, dem „Journal de St. Petersbourg“, erschienen zwei Artikel, in denen versucht wurde, die besonders empörenden Tatsachen in den Schilderungen der „Times“ zu widerlegen (das russische halbamtliche Blatt leugnete namentlich die Vergewaltigung von Frauen und versicherte, Mordfälle seien sehr selten gewesen). Das „Journal“ hatte ferner die Kühnheit, zu erklären, dass die Regierung bereits an die Erörterung neuer gesetzgeberischer Maßnahmen in Bezug auf die Juden herangetreten sei — ohne natürlich die repressive Natur dieser Maßnahmen zu erwähnen. Das Organ der russischen Diplomatie fragte zum Schluss verärgert, ob denn die judenfreundlichen Agitatoren die russische Gesellschaft mit der englischen entzweien, die guten Beziehungen Russlands mit England stören wollten, die sich nach der Ablösung des Kabinetts Beaconsfield durch das Kabinett Gladstone eingebürgert hatten. — Allein diese ganze diplomatische Polemik hielt die politischen Persönlichkeiten Englands vor der Veranstaltung der vorbereiteten Demonstration doch nicht zurück.

Nacheiner ganzen Reihe von Protestmeetings in verschiedenen Städten Englands fand am ersten Februar n. St. ein grandioses Meeting im Saal des „Mansion House“ unter dem Vorsitz des Lordmayors statt. Die ganze Blüte der englischen Gesellschaft war hier vertreten: Mitglieder der beiden Kammern des Parlaments, Bischöfe, Würdenträger, Lords und Gelehrte. Die Briefe vieler einflussreicher Persönlichkeiten wurden verlesen, die nicht zum Meeting kommen konnten, aber ihre warme Sympathie mit dessen Zweck zum Ausdruck brachten (des Dichters Tennyson, des Naturforschers John Lubbok u. a.). Der erste Redner, Lord Shaftesbury, wies darauf hin, dass die englische Gesellschaft keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands verlange, aber auf dieses Land durch eine „sittliche Waffe“, im Namen „der Solidarität der Völker“ einwirken wolle. Anlässlich der Dementis des russischen Offiziosus bemerkte er, dass wenn auch nur ein zehnter Teil der englischen Mitteilungen über die Pogrome wahr ist, auch dann das Protestmeeting notwendig sei. Man müsse, nach Ansicht von Shaftesbury, an den Zaren appellieren und ihn bitten, „für die Juden kein Antiochus Epiphanes, sondern ein Cyrus zu sein“. Der Londoner Bischof erinnerte in seiner Rede daran, dass England vor einigen Jahren bei den Gerüchten über die Gewalttätigkeiten türkischer Banden gegen die von Russland beschützten Bulgaren erbebte und jetzt berechtigt sei, von dem christlichen Russland dasselbe zu verlangen, was man früher von der mohammedanischen Pforte gefordert hatte. Die stärkste Rede hielt der katholische Kardinal Manning. Er erinnerte daran, dass die russischen Juden nicht nur Objekt vorübergehender Pogrome sind, sondern beständig unter dem Druck einer schändlichen Gesetzgebung stöhnen, die dem Juden sagt: „Erdreiste dich nicht in dieser oder jener Stadt zu wohnen, du darfst dich nicht dieser oder jener Grenze um einige Meilen nähern.“ Unter lautem Gelächter und Entrüstungsrufen der Anwesenden zitierte der Redner das berüchtigte Zirkular Ignatjews über die Einsetzung von „Gouvernementskommissionen“, in dem „der Minister nach dem furchtbaren Judenpogrom die traurige Lage der christlichen Bevölkerung der südlichen Gouvernements beweinte“. Seine Rede beschloß der Kardinal Manning mit Worten, in denen ein prophetisches Pathos klang: „Es gibt ein Buch, dass das gemeinsame Besitztum des jüdischen Volkes und der Christen darstellt. Dieses Buch knüpft ein Band zwischen uns. Und in diesem Buche lese ich, dass Israel das älteste Volk auf Erden ist, während Russen, Österreicher und Engländer nur Völker von gestern sind. Dieses Volk lebt durch die Kraft seines unauslöschlichen Geistes, seiner unwandelbaren Traditionen, seines unerschütterlichen Glaubens an Gott und die göttlichen Gesetze, — ein durch die ganze Welt verstreutes, durch Feuer hindurchgegangenes, aber nicht untergegangenes, in den Staub getretenes, aber mit dem Staub nicht vermischtes Volk“.

Nach einer Reihe anderer Reden (des Kirchenhistorikers Farrar, des Professors Bryce u. a.) wurde eine Resolution gefasst, in der es hieß: dass die Gewalttätigkeiten, denen die Juden an verschiedenen Orten Russlands zum Opfer fielen, eine traurige Verletzung der Prinzipien der Zivilisation seien; dass die Versammlung, ohne das Recht noch die Lust zu haben, sich in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes einzumischen, dennoch es für ihre Pflicht halte, ihrer Überzeugung Ausdruck zu geben, dass die Behandlung der Juden durch die russische Gesetzgebung sie in den Augen der christlichen Bevölkerung erniedrigt und rohen Gewalttätigkeiten gegen sie Vorschub leistet; schließlich, dass der Lord-Mayor aufgefordert werde, eine Abschrift dieser Resolution dem Premierminister Gladstone und dem Außenminister Granville mit dem Wunsch zu übergeben, dass „bei günstiger Gelegenheit eine freundschaftliche Einwirkung im Geiste der vorangehenden Punkte der Resolution ausgeübt wird“. Es wurde ferner der Beschluss gefasst, einen Geldfond zu gründen, um die Pogromopfer zu unterstützen und ihre Lage durch Auswanderung oder durch andere Methoden zu verbessern. In das zu diesem Zweck von dem Meeting eingesetzte Komitee wurden gewählt: der Lord-Mayor, der Erzbischof von Canterbury, der Kardinal Manning, der Bischof von London, Nataniel Rothschild u. a.

Einige Tage darauf reagierte die englische Regierung auf die Resolution des Meetings. In russischen Zeitungen erschienen folgende Telegramme aus London vom 9. Februar n. St.: „Im Unterhaus erwiderte Gladstone auf eine Frage von Simon, dass die Berichte der Konsuln über die Verfolgung von Juden in Russland eingetroffen seien. Diese Angelegenheit müsse Mitleid und Abscheu einflößen, bilde aber eine Erscheinung des inneren Lebens eines anderen Staates und könne nicht Gegenstand einer offiziellen Korrespondenz oder einer Untersuchung seitens Englands werden. Möglich seien höchstens freundschaftliche Vorstellungen; alle anderen Schritte wegen des Verhältnisses der russischen Regierung zu den Juden würden der jüdischen Bevölkerung eher Schaden als Hilfe bringen.“ Sodann lautete ein Londoner Telegramm vom 14. Februar: „Im Oberhaus erwiderte Gladstone auf eine Anfrage von Worms, dass menschenfreundliche Ziele sich nicht durch Parlamentsdebatten über russische Juden verwirklichen ließen. Solche Debatteh wären eher geeignet, in einem gewissen Teil der russischen Bevölkerung eine den Juden feindselige Stimmung hervorzurufen, imd daher würde kein Termin für die Debatten über die Interpellation von Worms anberaumt werden.“

Diese Erklärungen milderten etwas den unangenehmen Eindruck, den das Londoner Meeting auf die russischen Regierungskreise gemacht hatte, aber einige Unruhe blieb doch noch zurück. Die Aussicht auf „gelegentliche freundschaftliche Vorstellungen“ seitens Englands war der russischen Regierung nicht gerade verlockend und sie bemühte sich in jeglicher Weise, diesen moralischen Schlag abzuwenden. Am 30. Januar erschien im „Regierungsboten“ eine sehr verärgerte offizielle Mitteilung über die „Gerüchte von einem bevorstehenden Einschreiten zugunsten der Juden“. „Die Judenfrage“, heißt es hier, „gehört unbedingt zu den Fragen der Innenpolitik, in der jeder Staat nach seinem Ermessen schaltet und niemals eine fremde Einmischung oder fremden Rat in irgend welcher Form dulden wird. Indem die russische Regierung sich strengstens an den Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten hält, könnte sie eine derartige Verletzung der internationalen Gepflogenheiten um so weniger dulden, als jedes Einschreiten einer ausländischen Macht zugunsten der jüdischen Nationalität in der Masse der Bevölkerung nur Unwillen erregen und die Lage der Juden ungünstig beeinflussen könnte.“ Neben dieser Drohung suchte der „Regierungsbote“ nachzuweisen, dass die Maßnahmen der Regierung gegen die Pogrome „nicht schwach waren“, wie aus der großen Zahl der bei der Unterdrückung der Unruhen Verhafteten (3.675 im Süden und 3.151 in Warschau) hervorginge. Solche Erklärungen der russischen Regierung, die zweifellos auch in der diplomatischen Korrespondenz abgegeben wurden, zwangen das Kabinett Gladstone, von „freundschaftlichen Vorstellungen“ in Petersburg zugunsten der russischen Juden Abstand zu nehmen. Gladstone weigerte sich sogar, eine Petition der Vertreter des englischen Judentums, mit Baron Rothschild an der Spitze, zur Weitergabe an die russische Regierung entgegenzunehmen. Graf Ignatjew konnte sich beruhigen: Unannehmlichkeiten mit einer befreundeten Regierung waren abgewendet, flammende Protestmeetings aber störten ihn nur wenig. Er fuhr fort, das zu tun, was den „Abscheu“ der ganzen zivilisierten Welt erweckte.

Ein großes Protestmeeting fand im Februar auch in New York statt, wohin bereits die ersten Flüchtlinge aus Russland angekommen waren. Es wurde eine Protestresolution gefasst gegen „die in Russland wieder erneuerten mittelalterlichen Verfolgungen“ und energische Vorstellungen in Petersburg namens des Volkes und der Regierung der Vereinigten Staaten verlangt. Einer der Redner des New Yorker Meetings, der Richter Davis, sagte unter jubelnden Rufen der Versammlung: ,,Wenn trotz der Lehren politischer Weisheit die Lage der russischen Juden im Wege der Gesetzgebung nicht verbessert wird, so besitzen die Amerikaner außer freundschaftlichen Ermahnungen Dollars genug, um alle drei Millionen Bürger, die vorläufig vaterlandslos sind, auf freiem amerikanischem Gebiet anzusiedeln und einzurichten.“ Der Redner, der sich also von seiner Rede mit fortreißen ließ, sprach in diesen Worten den geheimen Gedanken vieler Schwärmer des russischen Ghettos aus. —

In Russland entstanden damals zahlreiche jüdische Zirkel, deren Mitglieder sich zur Übersiedlung nach den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, nach dem Lande der Freiheit, vorbereiteten, mit der Hoffnung auf eine Wunderhilfe von außen, von den jüdischen Organisationen Europas und Amerikas. Von dem Augenblick an, da Ignatjew seine Erklärung über die Öffnung der Westgrenze für die Juden gemacht hatte, füllten sich die jüdischen Zeitungen mit Meldungen aus Hunderten von Städten, besonders aus dem Süden Russlands, über die Bildung von Emigrantengruppen. „Unsere Armen leben nur der Hoffnung auf die Auswanderung. Die Auswanderung, Amerika — das ist die Losung unserer Brüder“ — so lauten die stereotypen Sätze der damaligen Korrespondenzen. Viele Intellektuelle schwärmten von der Errichtung jüdischer landwirtschaftlicher oder Farmerkolonien in den Vereinigten Staaten, wo einige Emigrantengruppen aus dem Jahre 1881 in landwirtschaftlichen Farmen bereits ihren Unterhalt gefunden hatten. Ein Teil der Jugend ließ sich von der Idee der Kolonisierung Palästinas hinreißen und entwickelte eine starke Propaganda dieser nationalen Idee unter der Masse der Auswanderer aus dem neuen Ägypten. Man empfand es als dringende Notwendigkeit, all diese im Ansiedlungsrayon verstreuten Emigrantengruppen zusammenzuschließen und zentrale Auswanderungskomitees zu schaffen, die die elementare Volksbewegung in geregelte Bahnen lenken würden. Aber den Führern der jüdischen Öffentlichkeit mangelte hierzu die Einmütigkeit. Während die dem Volke näherstehende Intelligenz und ein Teil der Presse (insbesondere der „Rasswjet“) unaufhörlich die Organisation der Auswanderung als wichtigste Aufgabe des Augenblicks verlangten, fürchtete die Gemeindeoligarchie in Petersburg, durch die energische Förderung der Auswanderung auf sich den Vorwurf der „Illoyalität“ und mangelnden Anhänglichkeit an Russland zu laden. Der radikal gestimmte Teil der Gesellschaft andererseits erblickte in der Förderung einer Massenauswanderung gleichsam ein Zugeständnis an die Regierung Ignatjews, einen indirekten Verzicht auf den Kampf um die Gleichberechtigung in Russland selbst (das Organ dieser Gruppe war der „Wosschod“). Zum Frühling 1882 wurde die Auswanderungsfrage indessen so aktuell, dass man sich genötigt sah, zu ihrer Beratung in Petersburg eine Tagung von Provinzdelegierten einzuberufen. Kaum waren aber diese Delegierten nach der Hauptstadt gekommen, als im Süden sich wieder ein unheilverkündendes Feuer zeigte: es loderte der furchtbare Pogrom in Balta, einem wichtigen jüdischen Zentrum Podoliens, wo kurz vor der Katastrophe sich ein jüdischer Auswanderungszirkel gebildet hatte, auf.

Schon vor dem russischen Osterfest — der haute saison der Pogrome — hatte eine merkwürdige Mitteilung des „Regierungsboten“ (im März) ein allgemeines Aufsehen erregt. Es hieß darin nämlich, dass künftighin die Zeitung über alle Fälle von „jüdischen Unruhen“ nach offiziellen Berichten der Gouverneure berichten würde, — als hätte die Regierung von vornherein gewusst, dass Pogrome kommen. Selbst die konservativen „Moskauer Nachrichten“ bemerkten anlässlich dieser unvorsichtigen Mitteilung mit beißender Ironie: „Der ,Regierungsbote' hat das Publikum durch die Mitteilung erbaut, dass er über alle Fälle der Misshandlung von Juden rechtzeitig und ausführlich berichten wird, als hätte es sich um die üblichen Erscheinungen der Naturordnung gehandelt, bei denen es nur übrig bleibt, das Publikum rechtzeitig zu informieren. Gibt es wirklich keine Mittel, diesem himmelschreienden Skandal ein Ende zu machen?“ Die Ereignisse zeigten aber bald, dass kein Wille bestand, dem „Skandal“, wie die Zeitung die Taten von Räuberbanden mild bezeichnete, ein Ende zu machen. Die Ortsbehörden wurden von der jüdischen Bevölkerung wegen bevorstehender Pogrome schon vorher alarmiert. Von Mitte März an sprach man auch in Balta und Umkreis offen von dem, was kommen sollte. Als aber die Juden dem Polizeichef von Balta ihre Befürchtungen mitteilten, erhielten sie von ihm nur eine zweideutige Antwort. Nun war es freilich in einer Stadt, in der die jüdische Bevölkerung dreimal so stark war, wie die christliche, ein Leichtes, eine Selbstwehr zu bilden, aber die jüdischen Einwohner wussten, dass eine solche Organisation von der Obrigkeit streng verboten war, und mussten sich mit der geheimen Vereinbarung einiger Familien, im Augenblick der Gefahr für einander einzustehen, begnügen. So begann am zweiten Tage des russischen Osterfestes (7. Tag des jüdischen, am 29. März a. St.) ein Pogrom, in dem die Bestialität des Mobs und das verbrecherische Verhalten der Behörden alle Bacchanale des Jahres 1881 in den Schatten stellte. Folgendes berichtet darüber ein Zeitgenosse auf Grund einer speziellen Untersuchung: „Im Anfang des Pogroms zwangen die herbeigelaufenen Juden die Raufbolde, sich zurückzuziehen und im Gebäude der Feuerwehr Zuflucht zu suchen. Aber mit dem Erscheinen der Polizei und der Soldaten traten sie aus ihrer Deckung heraus. Statt nun diese Bande auseinanderzutreiben, begannen Polizei und Truppen, die Juden mit Gewehrkolben und Säbeln zu schlagen. Das gab das Signal zum Pogrom. Im selben Augenblick ertönte in einer Kirche ein Alarmgeläute und darauf begann der Mob zusammenzuströmen; allein in der Befürchtung, in diesem Stadtteil von der zahlreichen jüdischen Bevölkerung unterdrückt zu werden, begab sich die Menge über die Flussbrücke nach der sogenannten Türkischen Seite, wo die jüdische Bevölkerung geringer war. Die Menge wurde von dem Chef der Ortspolizei, dem Stadthaupt und einem Teil der Ortsgarnison begleitet, was sie indessen nicht hinderte, beim Passieren der Ssobornajastraße einen Laden und die Fenster im Hause eines jüdischen Mitgliedes der Stadtduma zu zerschlagen. Nachdem die Menge die Türkische Seite erreicht hatte, stellten die Behörden an allen drei Brücken, die die Türkische Seite mit dem ersten Stadtteil verbinden, eine Militärkette mit dem Befehl auf, keine Juden durchzulassen — was denn auch befolgt wurde. Christen aus den anderen Stadtteilen und aus dem Dorfe Alexandrowka wurden hingegen ungehindert durchgelassen. Dank dieser Verfügung wurde die Türkische Seite in drei bis vier Stunden verwüstet, sodass nach Mitternacht den Räubern dort nichts mehr zu tun übrig blieb. In der Nacht verhaftete die Polizei und die Militärbehörden vierundzwanzig Räuber und eine bei weitem größere Anzahl von Juden, weil diese sich erkühnten, bei ihren Wohnungen Posto zu fassen. Am folgenden Morgen wurden die Christen auf freien Fuß gesetzt und verstärkten die Reihen der Räuber, die Juden aber wurden von der Nacht des 29. bis zum Morgen des 31. März in Haft behalten und erst nach Ankunft des Gouverneurs freigelassen. Am 30. März begann unterdessen von 4 Uhr morgens an eine Menge Bauern in der Stadt zusammenzuströmen, etwa 5.000 mit Knütteln bewaffnete Menschen, die der Polizeichef aus umliegenden Dörfern herbeigerufen hatte. Die Ankunft dieser Menschen hatte zuerst die Juden erfreut. Sie glaubten nämlich, die Bauern seien zu ihrem Schutz herbeigerufen worden, — aber sie überzeugten sich gleich von ihrem Irrtum: die Bauern waren nur gekommen, die Juden zu misshandeln und zu plündern. Gleichzeitig mit ihnen begannen auch die Massen des Stadtmobs, sich um den Dom zu versammeln und etwa um 8 Uhr morgens Signale zur Wiederholung des Pogroms zu geben. Zuerst gelang es ihnen indessen nicht, den Pogrom zu wiederholen, weil die Offiziere des Ortsbataillons, die in der Stadt patrouillierten, die Menge mit Soldatenposten umzingelten und fast eine volle Stunde eingeschlossen hielten, während deren der Oberpriester Radsionowski den Missetätern ins Gewissen redete und ihnen beizubringen suchte, dass ihr Vorhaben den Gesetzen der Kirche und des Staates zuwider sei. Jetzt aber kamen der Polizeichef, der Militärchef und der Kreishauptmann (Isprawnik) beim Dom an; die Kette gab nach, die befreite Menge stürzte auf das in der Nähe befindliche Spirituosenlager, zertrümmerte es, betrank sich und begann mit Hilfe der herbeigerufenen Bauern, sowie Soldaten und Schutzleute, zu plündern. Dabei spielten sich jene furchtbaren Mord-, Vergewaltigungs- und Plünderungsszenen ab, deren Schilderung in den Zeitungen nur ein blasser Schatten der Wirklichkeit ist. . .“ „Der Pogrom von Balta“, schließt der Zeitgenosse seine Schilderung, „ist nicht durch die Untätigkeit, sondern gerade durch die Tätigkeit der Ortsbehörden verursacht worden,“

Näheres über diese „wilden Szenen“, über die etwas zu verbreiten die damalige Zensur verbot, erfahren wir aus unveröffentlichten Quellen und späteren Gerichtsberichten. Außer der Zertrümmerung von 1.250 Häusern und Läden, der Vernichtung und Plünderung von Waren und Habe („alle Wohlhabenden sind in Bettler verwandelt, nicht weniger als 15.000 Menschen haben ihre Existenzquellen verloren,“ teilte der Ortsrabbiner mit), wurden in Balta Menschen ermordet, verstümmelt und Frauen vergewaltigt. 40 Juden wurden schwer verwundet und getötet, zirka 170 leicht verwundet; viele, besonders Frauen, wurden vor Angst wahnsinnig. Über zwanzig Fälle von Vergewaltigungen von Frauen sind vorgekommen. Die siebzehnjährige Tochter eines armen Schleifers (Eida Malis) wurde von einer Bande vertierter Burschen vor den Augen ihres Bruders vergewaltigt; die Mutter der Unglücklichen lief auf die Straße hinaus und rief den in der Nähe stehenden Schutzmann zu Hilfe; dieser folgte der Frau in ihr Häuschen, aber statt zu helfen vergewaltigte er sie selbst. In das Haus des Boruch Schljachowski drangen Räuber ein und ermordeten den Hausherrn. Seine Frau und Tochter liefen davon und verbargen sich in dem anliegenden Gemüsegarten, aber der russische Nachbar lockte sie, angeblich, um ihre Ehre vor den Pogromburschen zu schützen, in sein Haus und vergewaltigte dort die Tochter vor den Augen der Mutter. Die Soldaten der Ortsgarnison misshandelten oft Juden, die sich auf der Straße während der „Kriegshandlungen“ des Mobs sehen ließen. Dem Polizeiritual gemäß wurden Truppen zur Bezähmung der bestialischen Menschen aus der Nachbarstadt erst am dritten Tage herbeigerufen, als der Gouverneur von Podolien schon zur Untersuchung gekommen war. Sogleich stellte sich heraus, dass die Ortsbehörden (Polizeichef, Kreishauptmann, Militärchef, Stadthaupt, Adelsmarschall) direkt oder indirekt am Pogrom beteiligt waren. Daher wurden denn auch viele verhaftete Pogromisten von der Polizei aus dem Gefängnis bald freigelassen, denn sie drohten ja, die Anstifter aus dem Kreise der Ortsbehörden und der Vertreter der russischen Gesellschaft der Obrigkeit anzugeben. Den Juden aber drohte der Mob noch lange mit Massaker und völliger Ausrottung, falls sie sich erkühnen sollten, ihre Henker vor Gericht zu überführen.

Der Pogrom von Balta zeitigte nur schwache Nachahmung in den umliegenden Ortschaften: einigen Städtchen der Gouvernements von Podolien und Cherson (Letitschew, Dubossary u. a.). Die ganze Energie der Zerstörung und der Bestialität war durch die Heldentaten von Balta gleichsam erschöpft. Überhaupt hatte die Pogromkampagne des Frühlings von 1882 nur ein kleines Gebiet ergriffen, dafür aber die Kampagne von 1881 in qualitativer Hinsicht übertroffen: die Taten von Balta waren ein beträchtlicher Vorschuss auf die späteren Schrecken von Kischinew und die Oktoberpogrome des Jahres 1905.

Unter dem unmittelbaren Eindruck des Pogroms von Balta tagte in Petersburg vom 8. bis 27. April ein Kongress der Delegierten jüdischer Gemeinden, der von Baron Horaz Günzburg mit Erlaubnis des Ministers Ignatjew zusammenberufen wurde. Etwa fünfundzwanzig Delegierte aus der Provinz (unter ihnen der bekannte Augenarzt Dr. Mandelstamm aus Kiew und Rabbi Izchak-Elchanan aus Kowno) und fünfzehn Petersburger Notabein (Baron Günzburg, der Eisenbahnfinanzier S. Poljakow, Prof. N. Bakst u. a.) kamen hier zusammen. Den Hauptteil der Tagesordnung nahm die Auswanderungsfrage ein, aber im Zusammenhang damit entwickelte sich eine Debatte über die allgemeine Lage des Volkes. Ein Gemisch tiefer nationaler Trauer und eines Mangels an Zivilcourage trat auf diesem kleinen Kongress zutage. Einerseits wurden so aufregende Reden über die aussichtslose Lage der Juden gehalten, dass einer der Delegierten (Schmerling aus Mohilew) nach Schluss seiner Rede in Ohnmacht fiel und einige Stunden später verschied. Andererseits aber schielten die einflussreichsten, besonders die hauptstädtischen Delegierten feige nach der Regierung hinüber, in der Befürchtung, eines mangelnden Patriotismus verdächtigt zu werden. Manche erblickten in der Auswanderung sogar einen unerlaubten Protest, eine „Rebellion“ und verblieben bei dieser Ansicht auch, nachdem der Kongress vom Innenminister die Aufforderung erhalten hatte, die Frage zu erörtern, „wie die jüdische Bevölkerung im Ansiedlungsrayon dünner angesiedelt werden könnte, wobei zu berücksichtigen ist, dass die inneren Gouvernements Russlands den Juden auch weiter verschlossen bleiben werden.“ Äußerster Servilismus sprach namentlich aus der Rede des Finanziers Poljakow, der erklärte, die Arbeit des Kongresses würde unfruchtbar bleiben, falls sie nicht „auf der Grundlage der Regierungsinstruktion“ geführt werden würde. Poljakow berichtete dem Kongress, dass er seinen russischen Patriotismus im Gespräch mit Ignatjew in dem folgenden Satz zum Ausdruck gebracht habe: „Die Förderung der Auswanderung von Juden aus Russland ist gleichsam eine Anstiftung zur Rebellion, denn für russische Bürger gibt es keine Auswanderung“; als aber der Minister ihn wiedergefragt habe, wie denn die dichte jüdische Bevölkerung des Ansiedlungsrayons sonst zerstreut werden könnte, habe er, Poljakow, geantwortet: „Durch Ansiedlung von Juden in ganz Russland.“ Der Minister habe darauf indessen erwidert, er könnte eine Übersiedelung von Juden nur nach Zentralasien und nach der jüngst eroberten Oase Achal-Teke zulassen. Und der diensteifrige Finanzier empfahl denn auch dem Kongress in allem Ernst, Ignatjews Vorschlag zu erörtern. Gegen diesen Vorschlag sprach sich aber Dr, Mandelstamm als gegen eine neue Verhöhnung der Juden lebhaft aus; selbst Prof. Bakst, ein grundsätzlicher Gegner der Auswanderung, erklärte, die vom Minister vorgeschlagene Ansiedlung von Juden sei im Grunde eine „Verbannung nach entfernten Orten“ und käme einer offiziellen „Erklärung der Juden zu Verbrechern“ gleich. Der „Verbannungsentwurf“ wurde denn auch abgelehnt, doch gleichzeitig sprach sich die Mehrheit des Kongresses auch gegen die Einsetzung von Auswanderungskomitees zur Regulierung der Auslandsemigration aus, denn dies würde angeblich die Vorstellung erwecken, als wollten die Juden Russland verlassen. Nach langwierigen Debatten wurden endlich die folgenden Beschlüsse gefasst:

1. Der Plan einer Emigration ist als der Würde des russischen Staates (!) und den historisch erworbenen Rechten der Juden auf ihr gegenwärtiges Vaterland widersprechend abzulehnen.

2. Als das einzige Mittel zur Regelung der Beziehungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und der Stammbevölkerung ist die Notwendigkeit der Aufhebung der geltenden Ausnahmegesetzgebung in Bezug auf die Juden hervorzuheben.

3. Die Regierung ist von der während der Unruhen offensichtlich zutage getretenen Untätigkeit der Behörden in Kenntnis zu setzen.

4. Die Regierung ist um Auffindung von Mitteln zur Entschädigung der jüdischen Bevölkerung, die während der Pogrome infolge des mangelnden Polizeischutzes zu Schaden kam, anzugehen.

Gleichzeitig beschloss der Kongress, die in den „Gouvernementskommissionen“ wieder aufgefrischte alte Beschuldigung abzulehnen, dass unter den Juden sich angeblich die alte autonome Gemeindeorganisation (Kahal) erhalten habe, die im geheimen wirke und die Absonderung der Juden zum Schaden anderer Bevölkerungsschichten aufrecht erhalte. Die betreffende Resolution lautete: „Die Unterzeichneten, Vertreter verschiedener Zentren der jüdischen Ansiedlung in Russland, Rabbiner und Mitglieder von Tempelvorständen, halten es für ihre heilige Pflicht, den allwissenden Gott als Zeugen anrufend, öffentlich, angesichts ganz Russlands zu erklären, dass weder eine offene, noch eine geheime Kahalverwaltung unter den russischen Juden existiert und dass das Leben der Juden von einer derartigen Organisation und allen ihr böswillig zugeschriebenen Attributen vollkommen frei ist.“ Die Unterzeichner dieser feierlichen Erklärung waren sich nicht bewusst, welch einen kränkenden Verzicht auf die nationalen Rechte die Erklärung bedeutete, dass die Juden ihre frühere weite Gemeindeautonomie nicht nur eingebüßt hatten (leider traf dies faktisch zu), sondern auch, dass sie die Existenz einer solchen inneren Autonomie in der Gegenwart für etwas Verbrecherisches, Antistaatliches, des Verlustes bürgerlicher Rechte Würdiges halten würden. Das Ergebnis der Beschlüsse des Kongresses fand schließlich darin Ausdruck, dass seine Delegierten sich in verschiedenen Kombinationen den Mitgliedern des Ministerrats (darunter auch Pobedonoszew) vorstellen ließen. Im Geiste der erwähnten Beschlüsse wurde auch ein Gesuch an den Zaren abgefasst. Aber dieses Gesuch kam schon zu spät: das „Provisorische Reglement“ vom 3. Mai 1882 hatte den Bittstellern bereits Antwort gegeben — den Juden wurde offiziell der Krieg erklärt.