§ 118. Die Gouvernementskommissionen und der Pogrom von Warschau

Nicht nur die Pogrome und die von ihnen hervorgerufene Panik vertrieben indessen die Juden aus Russland, sondern auch jene legalen Schläge, die sie von der freigebigen Hand der Regierung des Grafen Ignatjew trafen. Nach einigen Schwankungen in der Judenfrage hatte nämlich diese judenfeindliche Regierung endlich ihren Weg gefunden. Im Anfang der Pogrombewegung verwirrt, hatte sie diese Bewegung zuerst durch die Ränke der „Rebellion“ und der revolutionären „Anarchie“ erklärt, entschied sich aber in der Folge dafür, dass es im Interesse der reaktionären Regierungspolitik und der Rechtfertigung der Russland vor dem Angesicht Europas schändenden Exzesse doch besser wäre, die ganze Schuld auf die Juden selbst abzuwälzen. So wurde die Theorie von der „Ausbeutung der Stammbevölkerung“ durch die Juden geschaffen. Diese Theorie bestand aus zwei Teilen:

1. Die Juden als vornehmlich händlerische Klasse betreiben eine unproduktive Arbeit und beuten dadurch die produktiven Klassen der christlichen Bevölkerung, insbesondere die Bauern aus;


2. nachdem die Juden sich des Handels und der Industrie „bemächtigt“ haben (hierbei wurde also implicite doch die Tatsache eines erheblichen Anteils der Juden am Gewerbe und an der Fabrikindustrie zugestanden), konkurrierten sie mit den christlichen städtischen Ständen, die deswegen mit ihren Rivalen durch Selbstjustiz abrechnen. —

Der erste Teil dieser Theorie gründete sich auf primitive Vorstellungen über das Wirtschaftsleben, die für eine Periode des Übergangs von der Naturalwirtschaft zum Kapitalismus charakteristisch sind, da alle komplizierten vermittelnden Arbeitsformen als unproduktiv und ausbeuterisch gelten. Der im zweiten Teil aber ausgesprochene Gedanke wohnt dem Wesen des Polizeistaates inne, in dem man an der Behauptung Gefallen zu finden pflegt, dass Fremdstämmige sich dieser oder jener Wirtschaftsgebiete „bemächtigt“ haben, und dass es Pflicht der Staatsgewalt sei, sich in die freie Konkurrenz einzumischen, um sie zugunsten der herrschenden Nationalität auszuschalten. Die Regierung ließ sich aber von der Primitivität dieser Theorie nicht stören. Sie brauchte ja nur einen Anhaltspunkt, um sich von der Schuld an den Pogromen reinzuwaschen und zu beweisen, dass es ein „Volksgericht“ war, eine Rache, sei es der ausgebeuteten Bauern, sei es der erfolglosen Mitkonkurrenten der Ausbeutung aus dem russischen Bürgertum an den Juden.

In diesem Geiste wurde auch, im Juli 1881, der Bericht des Grafen Kutajssow abgefasst, der vom Zaren nach dem Süden Russlands zur Untersuchung der „Unruhen“ abkommandiert worden war. Mit einem Gefühl der Erleichterung teilte dieser Würdenträger mit, dass die Revolutionspropaganda mit der Entstehung der Pogrome nichts zu tun habe, dass vielmehr die Revolutionäre nur hie und da erfolglos versuchten, die bereits entstandenen jüdischen Pogrome zur Entfachung einer regierungsfeindlichen Bewegung zu benutzen. Der Grund der Pogrome aber liege, nach Ansicht von Kutajssow, in den Juden selbst, die den „Hass des Volkes“ dadurch heraufbeschworen, dass sie „sich des ganzen Handels und der Industrie bemächtigt“ und „eine große gesellschaftliche Einheit gebildet“ hätten. Im Süden Russlands haben sich die Juden unter den Augen einer Generation aus einfachen „Handels Vermittlern in Millionäre, Fabrikanten und Grundbesitzer verwandelt und sind immer frecher geworden, indem sie von der Stammbevölkerung Ehrerbietung gegenüber der Geldaristokratie verlangten“. Der Abstammungsaristokrat, der Graf, konnte sich mit einem derartigen Wachstum des Einflusses der Geldaristokratie (die freilich im Vergleich mit der Masse des jüdischen Proletariats verschwindend war) nicht versöhnen und er hob ärgerlich hervor, dass die besten Häuser und Läden von Odessa in die Hände der Juden übergegangen seien. Aber selbst dieser voreingenommene Untersucher erblickt die Ursache der Entwicklung der Pogrombewegung in der Untätigkeit der Polizei und der Truppen, die wohl imstande waren, die Ausschreitungen der Menge im Keime zu ersticken, statt dessen aber die Pogrome sich auswachsen ließen. „Die aufgeregte Masse erlangte eine sonderbare Überzeugung: wenn die Obrigkeit selbst den Überfällen auf die Juden kein Ende macht, so sind diese also erlaubt; daraus entwickelte sich das Gerücht, sie seien vom Zaren selbst erlaubt, diese Erlaubnis aber erklärte sich das Volk dadurch, dass die Juden unmittelbare Urheber des Ereignisses vom 1. März sind, dass sie den Zaren ermordet haben“.

Der Minister Ignatjew machte sich die auch von Kutajssow bestätigte bequeme Theorie freudig zu eigen und zog aus ihr die kühnsten Schlussfolgerungen, die er in seinem Bericht an Alexander III. darlegte. Ignatjew suchte die Fehlerhaftigkeit der früheren Regierungspolitik nachzuweisen, die „in den letzten zwanzig Jahren (d. h. unter Alexander II.) sich bemühte, die Verschmelzung der Juden mit der übrigen Bevölkerung zu fördern, und sie in rechtlicher Beziehung den Stammbewohnern fast gleichstellte.“ Die jüngsten Pogrome bewiesen dagegen, nach Ansicht des Ministers, dass der „schädliche Einfluss der Juden“ durch derartige liberale Methoden sich nicht beseitigen lasse. „Die Hauptursache dieser dem russischen Volke so wenig eignenden Bewegung (der Pogrome)“ — schreibt Ignatjew in seinem Berichte — „wurzelt in Umständen, die ausschließlich wirtschaftlicher Natur sind. Während der letzten zwanzig Jahre haben die Juden nach und nach sich nicht nur des Handels und des Gewerbes bemächtigt, sondern auch durch Kauf und Pacht erheblichen Grundbesitz erworben, wobei sie, dank ihrem Zusammenhalten und ihrer Solidarität, mit wenigen Ausnahmen alle ihre Bemühungen nicht auf die Vermehrung der Produktivkräfte richteten, sondern auf die Ausbeutung der Stammbewohner, vorwiegend der ärmsten Klasse der Bevölkerung, wodurch sie denn auch einen Protest dieser letzteren hervorriefen, der sich in der traurigen Form der Gewalttätigkeiten äußerte. Nachdem sie die Unruhen und die Selbstjustiz energisch (?) unterdrückt hat, um die Juden vor Gewalttätigkeiten zu schützen, hält es die Regierung nunmehr für richtig und unverzüglich notwendig, nicht weniger energische Maßnahmen zu ergreifen zur Beseitigung des gegenwärtigen anormalen Verhältnisses zwischen der Stammbevölkerung und den Juden, zum Schutze der Bevölkerung vor jener schädlichen Tätigkeit der Juden, die nach den an Ort und Stelle eingezogenen Erkundigungen die Unruhen verursacht hat.“ — Dem geschickten Minister gelang es denn auch, dem Zaren beizubringen, dass die Pogrome nur ein „Volksgericht“ über die Juden gewesen waren und dass die Regierung dieses Volksgericht durch ein gesetzliches Gericht ersetzen, d. h. Strafmaßnahmen nicht gegen die Pogromhelden, sondern gegen ihre Opfer ergreifen müsse.

In dem darauf (im August) ergangenen Allerhöchsten Befehl wurde von „anormalen Beziehungen zwischen der Stammbevölkerung einiger Gouvernements und den Juden“ gesprochen und vorgeschrieben: In Gouvernements, die eine erhebliche jüdische Bevölkerung besitzen, seien Sonderkommissionen aus Vertretern der Stände und Ortsgemeinden unter Vorsitz der Gouverneure einzusetzen. Diese Kommissionen sollten klarstellen, „welche Seiten der wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden überhaupt einen schädlichen Einfluss auf das Leben der Stammbevölkerung haben und welche gesetzgeberische und administrative Maßnahmen zur Schwächung dieses Einflusses zu ergreifen wären.“ In dieser Weise wurde also in dem Ukas über die Einsetzung der Kommissionen von vornherein eine Antwort auf die gestellte Frage gegeben: den „schädlichen Einfluss der Juden auf das wirtschaftliche Leben klarzustellen“; was noch zu beweisen war, wurde schon als bewiesen unterstellt und nur der Auftrag gegeben, das Tatsachenmaterial dem Tenor der fertigen Anklage anzupassen. Noch klarer drückte denselben Gedanken Ignatjew in seinem Zirkular an die Generalgouverneure vom 25. August aus, in dem er seinen oben erwähnten Bericht an den Zaren reproduzierte und das Dogma von den „für die christliche Bevölkerung schädlichen Folgen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden, ihrer Stammesabgeschlossenheit und ihres religiösen Fanatismus“ fest stabilisierte.

So vollzog sich das Unglaubliche: Die ruinierte, geplünderte jüdische Bevölkerung, die berechtigt gewesen wäre, eine Regierung, die sie ohne Schutz gelassen, zur Verantwortung zu ziehen, diese Bevölkerung wurde von der nämlichen Regierung dem Gerichte übergeben. Richter waren Regierungsagenten, Gouverneure (darunter auch solche, die sich der Duldung der Pogrome schuldig gemacht hatten) und Vertreter christliche? Stadt- und Landvertretungen, die zumeist nach Ermessen der Gouverneure ernannt wurden. Zu jeder Kommission wurden als Sachverständige ohne Stimmrecht zwei Vertreter der jüdischen Gemeinschaft zugelassen, die gleichsam Angeklagte waren, denn sie mussten fortwährend Anschuldigungen gegen die Juden anhören und sich rechtfertigen. Im ganzen wurden sechzehn Kommissionen eingesetzt, und zwar in fünfzehn Gouvernements des „Ansiedlungsrayons“ (ohne das Königreich Polen) sowie im Gouvernement Charkow. Den Kommissionen wurde eine zweimonatige Frist zur Beendigung ihrer Arbeiten und Einreichung der Ergebnisse beim Ministerium gegeben. Im September und Oktober tagten überall diese „Gouvernementskommissionen“, die berufen waren, über das jüdische Volk auf Grund des offiziellen Anklageakts — des Ukases vom August mit dem Kommentar des ministeriellen Rundschreibens — zu Gericht zu sitzen.

Folgendermaßen schildert ein gut informierter Zeitgenosse diese Sitzungen in einem offiziellen Memorandum: „In jeder Kommission wurde die erste Sitzung durch die Verlesung des ministeriellen Rundschreibens vom 25. August eröffnet. Diese Verlesung machte überall einen gleich starken Eindruck nach zwei Richtungen hin: auf die bäuerlichen Vertreter einerseits und auf die Vertreter der Juden andererseits. Die ersteren schöpften daraus die Überzeugung von der feindseligen Stimmung der Regierung gegenüber der jüdischen Bevölkerung und von ihrer Nachsicht für die Urheber der Unruhen, die ja, nach Erklärung des Rundschreibens, einzig und allein durch die jüdische Ausbeutung der Stammbevölkerung verursacht worden waren. Diese Überzeugung, die in den nachfolgenden Sitzungen durch die von niemandem bezähmten Angriffe der judenfeindlichen Kommissionsmitglieder noch bestärkt wurde, verfehlten die Bauern natürlich nicht, ihren Gemeinden zu übermitteln. Auf die jüdischen Kommissionsmitglieder aber machte das ministerielle Rundschreiben erschütternden Eindruck. In ihrer eigenen Person sahen sie die ganze jüdische Bevölkerung Russlands auf die Anklagebank gesetzt, sahen sie einen Bevölkerungsteil dem Gerichte des andern ausgeliefert. Und wer waren diese Richter? Nicht frei von allen Ständen gewählte Vertreter, wie etwa bei den Landschaftsversammlungen, sondern Agenten der Verwaltung selbst, beamtete Personen, die mehr oder weniger dem Gouverneur untergeben waren. Das Gericht selbst war nicht öffentlich, ein ausreichender Schutz der Angeklagten — oder, richtiger gesagt, der von vornherein Verurteilten — war nicht da. Die Stellungnahme der den Vorsitz führenden Gouverneure, die von Angriffen, Hohn und raffinierten Kränkungen strotzenden Reden der judenfeindlichen Kommissionsmitglieder, die ja die Majorität bildeten, all das unterwarf die jüdischen Mitglieder einer moralischen Folter und nahm ihnen jede Hoffnung, etwas zugunsten einer ruhigen, unvoreingenommenen, umfassenden Beurteilung der Frage ausrichten zu können. Ihre Stimme wurde in den meisten Kommissionen vollkommen unterdrückt oder übertönt. Dies zwang die jüdischen Mitglieder zu einem schriftlichen Schutz der Interessen ihrer Stammesgenossen, zur Einreichung von Denkschriften und Sonderdarstellungen. Allein diese Denkschriften und Proteste wurden nur selten einer Verlesung in den Sitzungen gewürdigt.“

Unter diesen Umständen war es durchaus kein Wunder, dass die Kommissionen ihre „Beschlüsse“ im Sinne des von der Obrigkeit eingesandten Anklageakts fassten. Die judenfeindlichen Beamten übten sich in unwissenden Raisonnements über den „Geist des Judentums“, den Talmud, die nationale Absonderung der Juden und schlugen vor, dies alles durch Polizeirepressionen auszurotten: die Autonomie der jüdischen Gemeinden aufzuheben, alle besonderen jüdischen Schulen zu schließen, alle Gebiete des inneren Lebens der Juden der Kontrolle der Regierung zu unterwerfen. Vertreter des russischen Bürgertums und des Bauerntums, von denen einige noch jüngst sich an Pogromen beteiligt oder mit ihnen sympathisiert hatten, suchten jetzt die wirtschaftliche „Schädlichkeit“ der Juden zu beweisen und verlangten Einschränkungen der Juden in der Ausübung städtischer und ländlicher Berufe, sowie im Wohnrecht außerhalb der Städte. Trotzdem äußerten fünf Gouvernementskommissionen den für die damalige Zeit ketzerischen Gedanken, dass es notwendig wäre, den Juden das Wohnrecht im ganzen Reich zu gewähren, um die im „Ansiedlungsrayon“ allzu dichte jüdische Bevölkerung dünner anzusiedeln.

Gleichzeitig mit den Gouvernements- oder richtiger Gouverneur-Kommissionen sandten auch die Satrapen des Ansiedlungsrayons ihre Denkschriften nach Petersburg ein. Der Generalgouverneur von Kiew, Drenteln, der wegen der Duldung eines zweitägigen Pogroms in seiner Residenz selbst vor ein Strafgericht gehörte, verurteilte streng das ganze jüdische Volk und verlangte Repressionsmaßnahmen ,,zum Schutze der christlichen Bevölkerung vor einem so hochmütigen Stamm, der durch seine Religion die Annäherung an die Christen ablehnt“; man müsse der „geistigen Überlegenheit des Juden“, die ihm im Existenzkampf das Übergewicht verleihe, Repressionen entgegensetzen. Drenteln schlug vor, „um die wachsende jüdische Bevölkerung zu verringern, die Auswanderung von Juden aus dem Reich zu fördern.“ Ebenso schroff wurde das Judentum in der Theorie auch von den übrigen Generalgouverneuren (von Odessa, Wilna, Charkow) verurteilt, die nur in dem Ausmaß der verlangten Repressionen voneinander abwichen. Der Herrscher von Wilna, Totleben, der die Pogrome in Litauen nicht zugelassen hatte, stimmte einem etwaigen Gesetze zu, das den Juden verbieten würde, sich wieder in Dörfern anzusiedeln, wies aber dabei darauf hin, dass er es für inopportun hielte, „die ganze jüdische Nation der Möglichkeit zu berauben, ihren Unterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen“. Es war eben zu spüren, dass der kriegerische Judenhass dem Juden sogar das Recht auf den Lebensunterhalt nehmen wollte.

Die Regierung war des gewünschten Ergebnisses der Arbeiten der Gouvernementskommissionen von vornherein sicher. Sie setzte, ohne die Beschlüsse der Kommissionen abzuwarten, in Petersburg (am 19. Oktober) ein „Zentralkomitee für die Untersuchung der Judenfrage“ ein. Das Komitee war dem Innenministerium beigegeben und bestand aus einigen Beamten unter dem Vorsitz des Ministergehilfen Gotowzew. Die Beamten hatten sich schon daran gemacht, einen Entwurf von „provisorischen Maßnahmen“ im Geiste ihres Chefs Ignatjew fertigzustellen und schoben unter diesen Entwurf nach Eingang der Beschlüsse der Gouvernementskommissionen nur noch das ,,Fundament“. Im Beginn des Jahres 1882 arbeitete die Maschine zur Anfertigung von Repressionen bereits mit Volldampf.

Diesem organisierten Kreuzzug der Judenfeinde, die nach den Straßenpogromen administrative Pogrome vorbereiteten, konnte die Judenheit keine organisierte Kraft entgegensetzen. Der kleine privatim tagende Kongress jüdischer Notabein in Petersburg (September 1881) bot nur ein trauriges Bild. Die von dem Baron Günzburg eingeladenen Provinzgäste erörterten die Fragen der Auswanderung, des Kampfes mit der judenfeindlichen Presse und dergleichen mehr, stellten sich darauf Ignatjew vor, der sie diplomatisch des „Wohlwollens der Regierung“ versicherte, und fuhren nach Hause. Die einzige gesellschaftliche Kraft des Judentums verkörperte sich in der jüdischen Presse (insbesondere in deren drei in russischer Sprache erscheinenden Organen „Rasswjet“ („Morgendämmerung“), „Russkij Jewrej“ („Der russische Jude“) und ,,Wosschod“ („Sonnenaufgang“), aber ihr Einfluss ging ja über die jüdische Gesellschaft nicht hinaus. Indem sie ihre Aufgabe des Kampfes ums Recht eifrig erfüllte, konnte diese Presse dennoch jene Kreise der russischen Gesellschaft nicht beeinflussen, die von solchen Blättern, wie das halboffiziöse „Nowoje Wremja“ und die slawophile „Russj“, ausgiebig mit dem Gifte des Judenhasses getränkt wurden. Das erstgenannte Blatt, das die Ansicht der Regierungskreise zum Ausdruck brachte, stellte mitten im Brande der Sommerpogrome in allem Ernst die Hamletfrage in bezug auf die Juden: „Schlagen oder nicht schlagen?“ *) — (Anfangssatz eines Artikels dieser Zeitung) — und antwortete, dass man wohl schlagen müsse, dass aber in Russland als einem monarchistisch-konservativen Land diese Funktion nicht von der Bevölkerung, sondern von der Regierung versehen werden müsse, die durch ein System von Repressionen dem Judentum ja empfindlichere Schläge versetzen könne als die Menge auf der Straße. Der Schriftleiter der Moskauer ,,Russj“ Iwan Aksakow aber griff die liberale Presse an, die ihr Mitleid mit den Pogromopfern ausgesprochen hatte, und suchte zu beweisen, dass russische Leute jüdische Häuser in „gerechtem Zorn“ zerstörten. Die Argumente der Kirche des Mittelalters und des neudeutschen Antisemitismus in einen Topf werfend, behauptete Aksakow, der Judaismus sei seiner Natur nach „der christlichen Zivilisation feindlich“ und das jüdische Volk strebe die ,,Weltherrschaft durch Geldmacht“ an.

*) Ein Wortspiel, das darauf beruht, dass im Russischen „Sein“ (bytj) und „Schlagen“ (bitj) klangähnlich sind. Anm. des Übers.

Die antisemitische Welle drang aus Deutschland sogar in einige Kreise der radikalen russischen Intelligenz ein. Unter den revolutionären „Narodniki“, den Verherrlichern der bäuerlichen „Landkommune“, die das jüdische Leben nicht im geringsten kannten, machte sich gleichfalls die Vorstellung vom jüdischen Ausbeuter geltend, nur dass er hier dem Haufen der russischen Ausbeuter aus der Bourgeoisie — „den Kulaken und Gemeindefressern“ — zugesellt wurde. Auf diesem Boden erwuchs ein trauriges Missverständnis. Ein Teil der Sozialisten-Revolutionäre von der Partei des „Volkswillens“ (Narodowolzy) fand, dass, wenn russische Bauern und Arbeiter die jüdische Bourgeoisie plündern (in Wirklichkeit wurde freilich die arme jüdische Masse von den Pogromen getroffen), sie leicht auch zur Plünderung ihrer eigenen Bourgeoisie bewogen werden könnten. Und so unternahmen es einige geheimnisvolle Persönlichkeiten während der Frühlings- und Sommerpogrome, durch Proklamationen und mündliche Propaganda die Bewegung auch gegen russische Grundbesitzer und Beamte zu lenken *). Ende August 1881 erschien eine Proklamation des Vollzugskomitees der Partei des „Volkswillens“, in der dargelegt wurde, dass der Zar das freie ukrainische Volk unterjocht und bäuerliches Land unter Grundherren und Beamten verteilt hätte; letztere begönnerten angeblich die Juden, die sich mit ihnen gemeinschaftlich bereicherten. Deshalb müsse das Volk gegen die Juden, die Grundherren und den Zaren vorgehen. „Helft uns denn, Arbeiter, steht auf“ — heißt es in der Proklamation — , „nehmt Rache an den Herren, plündert die Juden und tötet die Beamten.“ Diese Proklamation rührte nur von einem Teil der Mitglieder des Vollzugskomitees her, der damals in Moskau sich befand, war weder von anderen Komiteemitgliedern noch von der Partei im ganzen gebilligt worden und wurde deshalb — als ein die Partei kompromittierender Akt — eingezogen und vernichtet, nachdem ein Teil der Exemplare sich allerdings bereits' verbreitet hatte. Nichtsdestoweniger fuhren auch in der nächstfolgenden Zeit die Anhänger des „Volkswillens“ fort, die Benutzung der antijüdischen Bewegung zum Zwecke einer allgemeinen sozialen Revolution theoretisch zu rechtfertigen. Erst später überzeugten sie sich, dass eine derartige Taktik sowohl verbrecherisch wie fehlerhaft war, da das Leben zeigte, dass die antijüdische Bewegung gerade für die schwarzen Reaktionäre ein sicheres Werkzeug war, um den Volkszorn von der Quelle aller Übel — dem politischen Regime — auf die am meisten unterdrückten Opfer dieses selben Regimes abzuleiten. —

*) Diese Fälle gaben denn auch den Anlass zu den oben (§ 117) erwähnten Vermutungen der Regierung über die Teilnahme von Revolutionären an der antijüdischen Bewegung.

Nach den Juliereignissen schien die Pogromepidemie zum Stillstand gekommen und sich nicht bald wieder erneuern zu wollen. Deshalb kam völlig unerwartet im Dezember 1881 die Kunde von einem dreitägigen Pogrom in der Hauptstadt des Königreichs Polen Warschau. Ein Pogrom in Warschau, wo die Beziehungen zwischen Polen und Juden noch nicht zugespitzt waren, ließ sich am allerwenigsten erwarten; allein die von außen her abkommandierten Pogromorganisatoren verstanden es, sich den lokalen Verhältnissen anzupassen — und das böse Werk vollzog sich. Am Tage des katholischen Weihnachtsfestes, am 13. (25.) Dezember, erscholl in der von Besuchern überfüllten Kirche zum Heiligen Kreuz, im Zentrum der Stadt, plötzlich ein Geschrei: „Es brennt!“ Das Publikum stürzte zu den Ausgängen und in der furchtbaren Panik wurden neunundzwanzig Menschen zu Tode gedrückt und viele verstümmelt. Der Alarm erwies sich aber als falsch: es brannte nirgends und alle glaubten, dass es der übliche Trick der erfahrenen Warschauer Diebe war, um im entstehenden Gedränge die Taschen der Besucher zu leeren. Doch nun streuten, mitten in der an der Kirche versammelten Menge, die mit Entsetzen die Leichen der Todgedrückten betrachtete, unbekannte Agitatoren das (später als falsch erwiesene) Gerücht aus, dass in der Kirche zwei Juden als Urheber des Alarms gefaßt worden seien. Im Nu ertönten irgendwoher Pfiffe, die ein Signal zum Pogrom gaben. Der städtische Mob begann jüdische Passanten zu verprügeln und darauf setzte die übliche Zertrümmerung jüdischer Läden, Kneipen und Wohnungen in den dem Zentrum anliegenden Straßen ein. Räuberbanden zogen unter der Anführung stadtbekannter Diebe und unbekannter Personen, die von Zeit zu Zeit durch Pfiffe Signale gaben und die Menge auf die eine oder die andere Straße lenkten. Polizei und Truppen waren nur in äußerst geringer Zahl da, wie stets dort, wo die Obrigkeit selbst von der Gefahr nicht unmittelbar bedroht war. Dies gab den Räubern Mut zur weiteren Tätigkeit. Am nächsten Tage arbeiteten sie schon in vielen Straßen in den zentralen Stadtteilen sowie in den Vororten, aber nicht in dicht von Juden bevölkerten Straßen, wo sie eine ernste Abwehr befürchteten. An einigen Stellen verteidigten sich auch die Juden und beide Seiten hatten Verwundete. Nunmehr verhafteten zwar Polizei und Soldaten viele Missetäter und brachten sie nach der Wache, fanden aber nicht den Mut, die Menge zu zerstreuen und so taten die Pogromisten ihr verbrecherisches Werk angesichts der Wächter der öffentlichen Sicherheit. Nach der üblichen Schablone erinnerten sich die Behörden erst am dritten Tage daran, dass es Zeit wäre, die Ordnung wiederherzustellen, denn die „Lektion“ war schon zu Ende. Am 27. Dezember erschien ein Befehl des Warschauer Generalgouverneurs, der die Stadt in vier Distrikte einteilte und an die Spitze jedes Distrikts je einen Kommandeur eines Garderegiments stellte. Die Truppen wurden in den Straßen aufgestellt und ließen keine Ansammlung von Pogrombanden zu; schon am selben Tage hörte der Unfug gänzlich auf. Es war aber schon zu spät, da in der Stadt bereits etwa 1.500 jüdische Wohnungen, Läden und Bethäuser zerstört und geplündert und vierundzwanzig Juden verwundet worden waren; der Vermögensschaden betrug einige Millionen Rubel. Über 3.000 Pogromisten wurden verhaftet, unter denen eine Menge Halbwüchsiger war. Im allgemeinen hatte sich am Pogrom nur die Hefe der polnischen Bevölkerung beteiligt, aber in ihrer Mitte waren häufig Unbekannte, die russisch sprachen und wohl die Organisatoren des Pogroms waren. Polnische Patrioten aus der höchsten Gesellschaft entrüsteten sich über die Veranstaltung eines rohen „russischen“ Pogroms in Warschau. In einem Aufruf an das Volk protestierten die Vertreter der polnischen Intelligenz gegen die abscheulichen, die Hauptstadt Polens schändenden Szenen; dasselbe tat auch der Erzbischof von Warschau und die Priester gingen während des Pogroms mit Kreuzen durch die Straßen und ermahnten die Menge, auseinanderzugehen. Bezeichnend ist hingegen, dass der Warschauer Generalgouverneur während der Pogromtage eine Delegation polnischer Bürger abgewiesen hat, die um die Erlaubnis, eine Bürger wehr zu bilden, eingekommen war und für die Wiederherstellung der Ruhe in der Stadt in einem Tage sich verbürgte. Das offizielle Pogromreglement gestattete offenbar nicht die geringsten Abweichungen; die Unruhen mussten nach einer bestimmten Ordnung, nach dem Gebot vor sich gehen: zwei Tage plündern, am dritten aufhören. Jemand hatte es offenbar nötig, dass auch die polnische Hauptstadt die Erfahrung von Kiew und Odessa durchmachte, dass die „kulturellen Polen“ nicht hinter den „russischen Barbaren“ zurückblieben, um Europa zu zeigen, dass der Pogrom keine ausschließlich russische Erfindung war. In Wahrheit wurde freilich nur ein umgekehrtes Resultat erzielt: die schändlichen Ereignisse von Warschau, die dem Pogromzyklus von 1881 die Krone aufsetzten, machten auf Europa und Amerika noch stärkeren Eindruck als alle früheren Pogrome, da Warschau mit dem Westen durch einen regen Handelsverkehr eng verknüpft war und der Ruin der Stadt sich auf dem europäischen Markt unmittelbar fühlen ließ. So ging das furchtbare Jahr 1881 zu Ende als ein Bruder jähr der kritischen Daten der jüdischen Geschichte: 1096, 1348, 1391, 1648, 1768. Über hundert Jahre waren seit dem letzten Auflodern des Haidamakentums vergangen — und wieder erscholl über die Felder und die Steppen derselben Ukraine der alte Ruf: „Schlagt die Juden!“ Von Kiew bis zum Tauris loderte der Brand eines neuen Haidamakentums, stellenweise freilich von großrussischen Brandstiftern angefacht. Der Kleinrusse schlug den Juden, mit dem er auf wirtschaftlichem Boden hart zusammenstieß; der zugewanderte Großrusse aber schlug einen ihm fernstehenden, fremden und deshalb geheimnisvollen Helden dunkler, abergläubischer Legenden. Wie in den früheren Jahrhunderten, flossen auch jetzt in dem Hasse gegen das Judentum religiöse, nationale und wirtschaftliche Motive zusammen; aber jetzt gesellte sich ihnen noch ein neues Element — das bürgerlich-politische, bei. Im Jahre 1881 erhob sich die Welle der Barbarei gegen die jüdische Gesellschaft, die in der kurzen Reformepoche auf das Ziel der bürgerlichen Gleichberechtigung zustrebte und für sich einen Platz im Staatsleben Russlands verlangte. Der scharfe Wind der politischen Reaktion, der nach dem 1. März einsetzte, peitschte diese antijüdische Welle mit besonderer Kraft vorwärts und das wilde Element entlud sich in mittelalterlichen Formen. Es war in demselben Jahre, da im nachbarlichen Deutschland ein modernisierter Antisemitismus wütete. Hier kämpfte die gesellschaftliche Reaktion gegen die gesetzlich bereits anerkannte jüdische Emanzipation an; dort, in Russland, aber kämpfte eine Reaktion der Regierung im Bunde mit dunklen Elementen der Gesellschaft gegen eine Emanzipation, die durch die vorangehende Reformepoche erst vorbereitet worden war. Von oben wie von unten wollte man in Russland keinen gleichberechtigten, freien Juden an Stelle des erniedrigten und versklavten sehen. Der Jude hatte bereits den Kopf erhoben — und bekam den ersten Pogromschlag, dem viele noch furchtbarere folgen werden.