§ 120. Das „Provisorische Reglement“ und der Beginn der legalen Pogrome

In der Zwischenzeit zwischen den Pogromen in Warschau und in Balta hatte das Ministerium Ignatjews für die Juden ein System legaler Pogrome ausgearbeitet. In den Geheimkammern der Kanzleien, in den Laboratorien des polizeilichen Despotismus wurde eine Kette gesetzgeberischer und administrativer Repressionen geschmiedet, die das Leben der Juden im Sinne völliger bürgerlicher Sklaverei regeln sollten. Das beim Ministerium des Innern eingerichtete Zentralkomitee für die Judenfrage (§ 118), das kurz als „Jüdisches Komitee“ bezeichnet wurde, mit noch größerem Recht aber den Namen eines antijüdischen Komitees verdiente, hatte seinen Arbeiten die Berichte der Ignatjewschen „Gouvernementskommissionen“ zugrunde gelegt und bereitete nun einen monströsen Kodex der Rechtlosigkeit vor. Der neue Entwurf wurde auf folgender Theorie aufgebaut: Die alte russische Gesetzgebung habe die Juden feindselig als abgesonderte, andersgläubige und fremdstämmige Gruppe behandelt. Eine Abweichung von diesem System wurde unter Alexander II. gemacht, als die Rechte gewisser Kategorien von Juden erweitert wurden und die „Periode der Toleranz eintrat“; aber das Leben habe die Untunlichkeit einer derartigen Toleranz gegenüber den Juden gezeigt, was auch durch die jüngste Entstehung einer antijüdischen Bewegung im Auslande (gemeint ist der deutsche Antisemitismus) sowie durch das Volksgericht in Form der Pogrome in Russland bewiesen werde. Da aber Russland jetzt den Weg einer russischen Volkspolitik beschreite, müsse man in der Judenfrage sich dem Mittelalter zuwenden, auf nutzlose Neuerungen verzichten und sich streng an die von der ganzen vorangehenden Staatsgeschichte ausgearbeiteten Grundsätze halten, denen zufolge die Juden als Fremdstämmige gelten und volle Duldsamkeit nicht genießen dürfen. — Diese ungereimte Theorie, die das Land auf die altmoskowitischen Traditionen zurückwarf, wurde als Einleitung des Entwurfs in dem Sitzungsbericht des „Jüdischen Komitees“ ausführlich dargelegt. Der Warschauer Pogrom traf die Komiteemitglieder bei dieser Arbeit und machte ihnen große Freude; sie verfehlten nicht, in ihrem Berichte zu betonen, dass die im Königreich Polen „wo die Juden die Gleichberechtigung (d. h. Freizügigkeit) genießen“, stattgefundenen Pogrome die Theorie von der Schädlichkeit des jüdischen Volkes bekräftigen. Noch schneller schrieben die Schreibfedern fort und zum Frühling 1882 war der Entwurf einer grausamen Bestrafung der Juden für die an ihnen begangenen Gewalttaten fertig.

Statt der Erweiterung des „Ansiedlungsrayons“ wurde beschlossen, ihn zu verengen: den Juden das Wohnrecht in den Dörfern zu nehmen und sie ausschließlich an die Städte zu ketten, wo sie bereits ohnehin in der Enge erstickten. Es wurde geplant, den Juden zu verbieten, sich außerhalb der Städte und Städtchen neu anzusiedeln, die jüdischen Dorfbewohner aber entweder durch Beschlüsse bäuerlicher Gemeinden ausweisen zu lassen oder sie durch das Verbot des Landkaufes, der Landpacht und des Weinhandels ihres Lebensunterhaltes zu berauben. Ignatjew schlug vor, diesen grausamen Entwurf nicht in legislativer Ordnung (durch den Reichsrat), sondern als vom Zaren bestätigte außerordentliche „provisorische Maßnahmen“ durchzuführen, die bezweckten, „das zugespitzte Verhältnis zwischen den Juden und der Stammbevölkerung zu beseitigen“. Ignatjews Entwurf machte sogar die Mitglieder des reaktionären Ministerkomitees befangen, dem er zur Beratung vorgelegt wurde. Das Komitee war der Ansicht, dass eine derartige Massenenteignung von persönlichen und Vermögensrechten außerhalb der legislativen Ordnung durchzuführen unstatthaft sei; dass den bäuerlichen Gemeinden die Ausweisung der Juden aus den Dörfern erlauben — sie der völligen Willkür unwissender Massen aussetzen hieße, die dadurch noch mehr in der Überzeugung bestärkt würden, dass man die Juden vertreiben und plündern dürfe, so dass statt der Beruhigung eine noch schlimmere „Zuspitzung der Beziehungen“ eintreten würde. Andererseits aber sprach sich das Ministerkomitee dafür aus, dass strenge Maßnahmen notwendig seien, damit die Bauern ja nicht glaubten, dass „der Wille des Zaren, sie vor jüdischer Ausbeutung zu schützen, nicht in Erfüllung ginge“. Nach einigen Zugeständnissen seitens Ignatjews wurde ein Kompromiss geschlossen: die Bestimmung über die Aussiedlung von Hunderttausenden jüdischer Dorfbewohner wurde aus dem Entwurf ausgeschaltet und nur beschlossen, den Juden die Neuansiedlung außerhalb der Städte zu verbieten.


So entstand das berühmte ,,Provisorische Reglement“, das vom Zaren dringend, ohne Vorberatung im Reichsrat, am 3, Mai 1882 bestätigt wurde. Von der Kanzleirhetorik befreit, läuft dieses Reglement auf den folgenden lakonischen Text hinaus: „1. Den Juden wird verboten, sich außerhalb der Städte neu anzusiedeln. 2. Der Vollzug von Verträgen, die den Juden den Besitztitel von Käufern und Pächtern von Immobilien auf dem flachen Lande gewähren, wird eingestellt. 3. Den Juden wird verboten, während der Sonntage und christlichen Feiertage Handel zu treiben.“ In den beiden ersten Bestimmungen dieses. Reglements war ein grausames Repressionsgesetz enthalten, das den Juden neun Zehntel des ihnen früher zugänglichen Gebietes wegnahm und Millionen von Menschen in dem stickigen Ansiedlungsrayon der westlichen Städte und Städtchen einpferchte, das sie fortan nicht einmal um eine Meile überschreiten konnten; ein Repressionsgesetz, das selbst alteingesessene Dorfbewohner des Rechtes beraubte, Immobilien neu zu kaufen oder zu pachten. Dieses „provisorische“ Gesetz galt mit unerbittlicher Strenge fünfunddreißig Jahre lang.

Nachdem die Regierung also die schon ohnehin verwüstete Judenheit noch einer schweren Strafe unterworfen hatte, hielt sie es für ihre Pflicht, auch den Pogromschuldigen eine Strafe anzudrohen. Am gleichen Tage, den 3. Mai, bestätigte der Zar den Beschluss des Ministerkomitees, feierlich zu erklären, dass die Regierung sich fest entschlossen habe, „jede Gewalttat an der Person und der Habe der Juden, die unter dem Schutz der allgemeinen Gesetze stehen, unnachsichtig zu verfolgen“. In diesem Sinne wurde an die Gouverneure ein Senatsukas (am 10. Mai) versandt, in dem ihnen eingeschärft wurde, dass es „der Verantwortung der Gouvernementsobrigkeit auferlegt wird, rechtzeitige Maßnahmen zu treffen, um Anlässe zu derartigen Unruhen abzuwenden und die Unruhen selbst gleich im Anfang zu unterdrücken“, ferner, dass „bei jeder Nachlässigkeit der Verwaltungs- und Polizeibehörden in dieser Hinsicht die Schuldigen ihre Amtsentsetzung zu gewärtigen haben werden“. Das „Provisorische Reglement“ gegen die Juden und das Zirkular gegen die Pogrome an einem und demselben Tage publizierend, wollte die Regierung dem russischen Volke gleichsam sagen: Da seht Ihr, wie wir selber mit den Juden im Wege des Gesetzes abrechnen, Ihr habt also nicht nötig, Judenpogrome in den Straßen zu veranstalten. Die Urheber des ,,Provisorischen Reglements“ konnten in der Tat unmöglich verkennen, dass dieses Reglement nur eine Modifikation jener „Gewalttaten an der Persönlichkeit und der Habe der Juden“ darstellte, die sie künftighin der Straßenmenge verwehrten, denn das Verbot der Freizügigkeit ist eine Vergewaltigung der Persönlichkeit und das Verbot des Land- oder Hauskaufs eine Gewalttat am Vermögen.

Aus dem oben angeführten Zirkular geht im übrigen hervor, dass nach dem bestialischen Pogrom von Balta den höchsten Regierungssphären denn doch das Bewusstsein gekommen war, wie schändlich für Russland und schädlich für die innere Ordnung jenes System der Nachsicht mit den Pogromen war, das ein ganzes Jahr lang geübt wurde. Sobald aber dieses Bewusstsein erwacht war, musste jener verhängnisvolle Minister, der die russische Innenpolitik dieses Schreckensjahres gemacht hatte, die Bühne verlassen. Am 30. Mai wurde Graf Ignatjew seines Postens enthoben und zum Innenminister Graf Dmitri Tolstoi ernannt, ein strenger Reaktionär, ein Cerberus der Autokratie und des Polizeistaates, zugleich aber Gegner jeglicher, die Autorität der Macht untergrabender Ausschreitungen der Menge. Einige Tage nach seiner Ernennung (am 9. Juni) veröffentlichte der neue Minister bereits ein Zirkular, in dem er, in Bestätigung der Regierungsdeklaration über die Entschlossenheit der Regierung, jegliche Gewalttaten an Juden zu verfolgen, noch besonders energisch erklärte, dass „bei jedem Ausbruch von Unruhen alle beamteten Personen, denen die Sorge um die Abwendung der Unruhen obgelegen hat, unverzüglich zur Verantwortung gezogen würden“. Diese entschlossene Erklärung der Regierung hatte eine magische Wirkung: alle Verwaltungsbeamten der Provinz verspürten sofort, dass man in Petersburg keinen Spaß mehr mit dem Gewähren lassen der Pogrome verstand, und die Pogromepidemie hörte sofort auf. Seit dem Juni 1882 nehmen die Pogrome immer mehr einen sporadischen Charakter an.

Die Folgen der von Tolstoi ergriffenen strengen Maßnahmen äußerten sich bald auch in den durch die Pogrome veranlassten Gerichtsprozessen. Bis damals ging das Bestreben der Machthaber der Lokalgewalt zumeist dahin, die Pogromteilnehmer, die ja durch ihre Aussagen die Ortsbehörden selbst kompromittieren konnten, nicht dem Gerichte zu überantworten; und wenn es dennoch zum Prozess kam, erhielten die Schuldigen zumeist nur leichte Strafen. Nach der Junideklaration der Regierung aber begann das Gericht die Pogromhelden strenger anzufassen. Im Sommer 1883 kamen viele Prozesse wegen der Pogrome in Balta und in anderen Städten zur Verhandlung und die Gerichte fällten oft die von den Übeltätern vollauf verdienten strengen Urteile (Verbannung zu Zwangsarbeiten, Arbeit in Korrektionsbataillonen usw.). In einem Falle wurden zwei der Plünderung und des Mordes beschuldigte Soldaten vom Militärkreisgericht zum Tode verurteilt. Nachdem dieses Urteil dem Generalgouverneur von Kiew, Drenteln, zur Bestätigung vorgelegt worden war, begab sich, auf Ermächtigung der jüdischen Gemeinde, der Rabbiner von Balta nach Kiew, um das Gnadengesuch der Verurteilten zu unterstützen. Es war sonderbar, einen Appell zur Begnadigung der Missetäter und Mörder aus dem Lager ihrer Opfer, aus verwüsteten Häusern zu vernehmen, wo das Stöhnen der Verwundeten, das Weinen über vernichtetes Leben und geschändete Frauenehre noch nicht verhallt waren. Es wäre indessen sehr rührend, würde sich hier nur eine spontane Anwandlung einer alles verzeihenden Nachsicht geäußert haben; in Wahrheit aber wirkten hier Motive anderer Art: Angstgefühl, Befürchtung der Rache für die Hinrichtung der Räuber seitens ihrer in Freiheit verbliebenen Gesinnungsgenossen.

Bald überzeugten sich aber die Juden von Balta, wie ihre Demut von den hochgestellten Inspiratoren der Gewalttaten eingeschätzt wurde. Anfang August kam nach Balta der Generalgouverneur von Kiew, Drenteln. Er war sehr verärgert sowohl durch das jüngste Zirkular von Tolstoi, das auch ihn im Falle eines weiteren Gewährenlassens der Pogrome in der Satrapie von Kiew mit Strafe bedrohte, als auch durch jene Schritte, die die Vertreter der jüdischen Gemeinde von Balta in Petersburg jüngst unternommen hatten, um die Ortsbehörden der Mittäterschaft bei dem Pogrom zu überführen. Nachdem also der Provinzialchef, der sogar ex officio verpflichtet gewesen wäre, den Leidtragenden sein Mitleid auszusprechen, in die verheerte Stadt gekommen war, ließ er sich den Rabbiner und die Vertreter der jüdischen Gemeinde kommen und wandte sich an sie im Beisein der Beamten mit einer Rede, die voll überströmender Wut war. Er sprach davon, dass die Juden durch ihre Handlungen „alle gegen sich aufbringen“, dass niemand sie gern sehe, dass sie „es nirgends so gut, wie in Russland haben“, dass sie mit Unrecht eine Beschwerdedeputation nach Petersburg gesandt und „die Behörden und Vertreter der Stadt als Anstifter der gegen die Juden wütenden Menge verleumdet hätten“. Zum Schluss nannte Drenteln das Gesuch der Gemeinde zugunsten der zum Tode verurteilten Pogromisten eine „Heuchelei“ und erklärte triumphierend, diese Personen seien „nicht auf die Bitte der Juden hin begnadigt worden“. Die Rede des judenfeindlichen Generals, der selber auf die Anklagebank gehörte, rief eine Pogrompanik in der ganzen Satrapie von Kiew hervor. Das Kampforgan in der jüdischen Presse, „Wosschod“, erklärte: „Nach der Rede des Generaladjutanten Drenteln ist unsere Hoffnung erschüttert, dass eine Wiederholung der Pogrome unmöglich ist. Was werden hier Ministerzirkulare fruchten, wenn die höchsten Verwaltungsbeamten an Ort und Stelle deren Wirkung durch lebendige Rede öffentlich paralysieren?“ — Das Befürchtete trat nicht ein. Der Minister Tolstoi konnte zwar den allmächtigen Generalgouverneur wegen seiner verbrecherischen Rede nicht vors Gericht ziehen, aber das strenge Ministerzirkular hielt dennoch die Satrapen in Schach, die nichts dagegen hatten, sich jede Ostern durch ein Pogromschauspiel zu belustigen.

Durch ein Machtwort wurde also in Russland die Pogrommaschine zum Stillstand gebracht, aber die Maschine der Repressionen arbeitete mit voller Kraft. Das „Provisorische Reglement“ vom 3. Mai hatte das System der legalen Verfolgung der Juden als eines „wirtschaftlich schädlichen Elements“ sanktioniert und der rohesten Willkür Tür und Tor geöffnet. Innerhalb des Ansiedlungsrayons wurden mit einem Schlag alle Ausgänge aus den überfüllten Städten in die Dörfer verriegelt; alle Arten der landwirtschaftlichen Industrie, die mit jüdischem Grundbesitz auf dem flachen Lande zusammenhingen, verringerten sich und hörten stellenweise gänzlich auf. Aus vielen Dörfern wurden dort bereits wohnende Juden ausgesiedelt, indem man das Recht der bäuerlichen Gemeinden ausnutzte, durch besondere Beschlüsse ,,lasterhafte Mitglieder“ dem Ostrazismus zu unterwerfen. Das ging äußerst einfach vor sich. Interessierte Personen aus dem Kreise der russischen Ortshändler „Kulaken“ beriefen mit Hilfe der Dorfältesten eine Gemeindeversammlung ein, traktierten die Anwesenden üppig mit Wodka und die betrunkenen halbanalphabetischen Bauern unterschrieben den „Beschluss“ über die Ausweisung der im Dorfe wohnenden Juden; der Beschluss wurde vom Gouverneur schleunigst bestätigt und erlangte sogleich Gesetzeskraft. Solche Aussiedlungen kamen besonders häufig in den dem Generalgouverneur von Kiew, Drenteln, unterstellten Gouvernements vor und es war auch kein Zweifel, dass dieser wütende Judenfeind durch die ihm untergebenen Polizeiagenten eine Agitation in dieser Richtung führte. — Der wirtschaftliche Ruin trieb die Juden außerhalb des Ansiedlungsrayons, in die inneren Gouvernements, aber hier begegnete ihnen die Geißel des Gesetzes, verstärkt durch die Skorpione der administrativen Willkür. Aus Petersburg, Moskau, Kiew, Charkow und anderen verbotenen Zentren wurden die Juden massenweise ausgewiesen. Das schädigte den Handelsverkehr so sehr, dass die russische Großkaufmannschaft in Moskau und Charkow bei der Regierung einkam, die Beschränkungen der Einreise von Juden in diese Städte zu mildern.

Die Verfolgung von Juden wurde jetzt auch von der Militärverwaltung in Angriff genommen. In der russischen Armee dienten nicht wenige jüdische Ärzte, von denen viele sich während des vorangegangenen russisch-türkischen Krieges ausgezeichnet hatten. Die reaktionäre Regierung konnte aber den sonderbaren Anblick des jüdischen Arztes nicht ertragen, der in der Armee rechtlich dem Offizier gleichgestellt war, während der jüdische Soldat keinen höheren Rang als den eines Unteroffiziers erklimmen konnte. Und so erließ am 10. April 1882 der Kriegsminister Wannowski den Befehl: a) die Zahl jüdischer Ärzte und Medizinalgehilfen in der Militärverwaltung auf 5 v. H. der Gesamtzahl des Medizinalpersonals zu beschränken; b) in den Militärdistrikten West-Russlands keine Juden mehr zum Ärztedienst zuzulassen, die 5 V. H. übersteigende Überzahl aber in die Ostdistrikte zu versetzen; c) jüdische Ärzte nur in solchen Truppenteilen zuzulassen, wo der Etat nicht weniger als zwei Ärzte vorsieht, mit der Maßgabe, dass der andere Arzt unbedingt ein Christ ist. Dieser Befehl hatte eine äußerst kränkende Fassung: „Man muss die allmähliche Vermehrung der Zahl der Ärzte mosaischen Glaubens in der Militärverwaltung angesichts ihrer nicht ganz gewissenhaften Pflichterfüllung und ihres ungünstigen Einflusses auf den sanitären Dienst in den Truppen beseitigen.“ Diese empörende Kränkung veranlasste eine Gruppe jüdischer Ärzte, sofort um ihre Entlassung zu bitten. Das Gesuch eines dieser Ärzte, des bekannten Belletristen Jaroschewski, war in so kühnem Tone gehalten, dass das Kriegsministerium es für nötig hielt, den Verfasser vors Gericht zu ziehen. „Solange“, hieß es darin, „von den jüdischen Ärzten der auf sie so grausam geworfene Makel nicht genommen wird, fügt jeder Augenblick, den sie im Dienste dieser Verwaltung zubringen, ihnen nur weitere Schande zu. Um ihrer menschlichen Würde willen dürfen sie dort nicht bleiben, wo man sie verabscheut.“

Das Fazit der traurigen Ereignisse von 1882 ziehend, schrieb der journalistische Betrachter jener Zeit folgendes: „Das Leben der Juden nahm von der zweiten Hälfte des Jahres 1882 an einen monotonen und düsteren, traurigen und niederdrückenden Charakter an. Gewiss, in den Straßen fliegen keine, Daunen mehr von zerrissenen Betten und keine Splitter zerschlagener Fenster, überhaupt haben jene Donner- und Blitzschläge aufgehört, die noch vor kurzem in der Luft ertönten und die Herzen des rechtgläubigen Volkes erheiterten. Haben aber die Juden wirklich viel bei dem Ersatz ungesetzlicher Verfolgungen durch gesetzliche gewonnen?“ Die nächstfolgende Zeit zeigte indessen, dass auch die „ungesetzlichen Verfolgungen“ — die Pogrome — noch nicht ganz aus dem Verkehr verschwunden waren. Das Staatsmonopol — die Ablösung von Straßenpogromen durch Verwaltungspogrome — trat eben nicht mit einem Male ein. Die Straße hat noch eine Zeitlang mit der Kanzlei konkurriert. Am 10. Mai 1883, am Vorabend der Krönung Alexanders III., fand in der großen südrussischen Stadt Rostow am Don ein Pogrom statt: ca. hundert jüdische Wohnungen und Läden wurden zertrümmert und geplündert, alles Tragbare der jüdischen Habe raubte die Menge, das Übrigbleibende vernichtete sie. Die „Bemühungen der Polizei und der Truppen vermochten — wie üblich — der Unruhe kein Ende zu machen“, und erst nach Beendigung ihres arbeitsreichen Tages zerstreuten sich die Pogrombanden, verfolgt von den Schlägen und Schüssen der Kosaken. Die Zensur verbot, von diesem Pogrom in den Zeitungen auch nur das Geringste mitzuteilen, um die Feierlichkeit der Krönungstage nicht zu trüben.

Nach den Rostower Ereignissen entstand die Befürchtung, dass im Süden eine neue Pogromserie im Anzüge sei; zwei Monate vergingen indessen und doch antwortete jenen Ereignissen nirgends ein Widerhall. Plötzlich aber, am griechischorthodoxen Feiertage des Propheten Elias (20. Juli) begannen russische Leute die Nachkommen des alten Propheten in Jekaterinoslaw zu pogromieren. Das Gedächtnis des großen biblischen Anachoreten, der das Weintrinken für ein Verbrechen erklärte, feierten seine Jekaterinoslawer Verehrer dadurch, dass sie ein ungeheures Quantum Spiritus austranken und sich bis zu jenem Grade berauschten, der zur Verübung der kühnsten Räubertaten erforderlich war. Die Hauptanstifter waren zugewanderte Arbeiter aus großrussischen Gouvernements, die Eisenbahnarbeiten in der Nähe der Stadt verrichteten. Während sie, nach dem Ausdrucke eines Zeitgenossen, den „kriegerischen Teil des Unternehmens“ übernahmen, überließen sie die „Zivilfunktionen“ den russischen Ortsbewohnern: „Während die Arbeiter und der kräftigere Teil der Bürger Häuser und Läden zertrümmerten und alle Sachen und Waren hinauswarfen, griffen Frauen und Kinder alles auf und trugen oder fuhren es nach Hause.“ Der Pogrom und die Plünderung dauerte auch den nächsten Tag, den 21. Juli an, bis zur Ankunft der Truppen. Die von dem Raub berauschte Menge band sogar mit den Truppen an und erlitt natürlich eine Niederlage. Der Anblick vieler Toter und Verwundeter ernüchterte die Menge. Der Pogrom hörte auf, aber erst nachdem 500 jüdische Familien ruiniert und ein jüdisches Heiligtum geschändet worden war: aus einer zertrümmerten Synagoge hatten die Missetäter elf Thorarollen hinausgeworfen und sie teilweise in Fetzen gerissen, teil Ameise die heiligen Schriften mit den Geboten: „Du sollst nicht morden, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht gelüsten!“, die der tiefen Überzeugung der Pogromhelden offensichtlich zuwiderliefen, in abscheulicher Weise geschändet. Das Beispiel von Jekaterinoslaw wirkte auf den Umkreis ansteckend: in einigen Städten und Flecken des Gouvernements Jekaterinoslaw ereigneten sich im August und September Pogrome, von denen der grausamste in Nowomoskowsk war (am 4. September fielen ihm dort fast alle jüdischen Häuser zum Opfer).

Das Jahr 1884 brachte in die Pogromchronik etwas Außerordentliches: einen Pogrom außerhalb des jüdischen Ansiedlungsrayons — in der altrussischen Stadt Nischni-Nowgorod, in der nur an zwanzig jüdische Familien lebten. Dieser nach der Zahl der zerstörten Häuser geringe Pogrom war nach der Zahl der menschlichen Opfer furchtbar. In dem auf offiziellen Mitteilungen beruhenden Bericht wird das Ereignis folgendermaßen geschildert: „Die Unruhen begannen am 7. Juni, etwa um 9 Uhr abends infolge der Anstiftung durch einige betrunkene Arbeiter, die hörten, wie eine christliche Mutter zu ihrem mit einem jüdischen Kind spielenden Töchterchen bemerkte, sie möchte das Spiel aufgeben, sonst würde sie von Juden geschlachtet werden. Der Pogrom begann mit der Verwüstung des jüdischen Bethauses, das voller Besucher war, worauf noch fünf von Juden bewohnte Häuser zerstört wurden; in diesen Häusern vernichtete die Menge alles, was ihr unter die Hand kam, zerschlug Türen und Fenster und warf die Sachen hinaus. Dabei wurden sechs Menschen und ein Knabe getötet und fünf Juden schwer verwundet, von denen zwei bald verstarben.“ Nach der Äußerung des Gouverneurs von Nischni-Nowgorod war das Hauptmotiv des Pogroms die Bereicherungssucht. In allen verwüsteten Häusern wurde nicht ein Gegenstand vernichtet, der von Wert war und hin weggetragen werden konnte; nicht nur Geld, sondern auch alle Gebrauchsgegenstände wurden geraubt. Die Unruhen in Nischni brachen am 7. Juni vollkommen unverhofft aus, richteten sich aber gegen die Juden, weil in dem Volke sich die Überzeugung festgesetzt hatte, dass selbst die schwersten Verbrechen straflos seien, falls sie nur an Juden, nicht aber an anderen Nationalitäten verübt werden; ferner, weil die Mehrzahl der jüdischen Familien als wohlhabend bekannt war. Die Untersuchung stellte einwandfrei fest, dass vor dem Angriff auf das Haus, in dem das Kontor von Daizelmann sich befand, die Menge durch Rufe geleitet wurde: „Wir wollen zu Daizelmann, dort gibt es was mitzunehmen.“ Die Ermordung von Daizelmann, einem Moskauer Großkaufmann, der die Liebe seiner russischen Arbeiter genoss, und anderer Juden war die Folge nicht der Rache, sondern einer zwecklosen Bestialität. Das von den Anführern der Räuberbande ausgestreute Gerücht, ein christliches Kind sei von Juden entführt worden, konnte die Menge um so weniger zum Verbrechen bewegen, als im Anfang des Pogroms selbst die Polizei der Menge das angeblich entführte Kind wohlbehalten zeigte. Es wirkte dabei vielmehr die tierische Natur roher, unwissender Leute, die die Möglichkeit erhielt, sich frei zu entfalten, dank der Überzeugung von der völligen Straflosigkeit, auf die der Bericht des Gouverneurs hinweist. Die Bartholomäusnacht von Nischni-Nowgorod erschreckte sogar die oberste Verwaltung. Auf die Bitte des Gouverneurs Baranow hin wurden die Mörder dem Kriegsgericht übergeben und erlitten schwere Strafen. Aber derselbe Gouverneur hielt es zur Beruhigung des russischen Volksgewissens auch für notwendig, die Ausweisung aller Juden aus der Stadt zu verfügen, die nach Ansicht der Polizei sich „ohne gesetzlichen Grund“ außerhalb des Ansiedlungsrayons aufhielten.

So stellte also auch hier die Verwaltung einen legalen Pogrom dem Straßenpogrom entgegen, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass die Abrechnung des Mobs mit den Juden nur eine rohe Kopie der offiziellen Abrechnung mit ihnen war und dass die Lage der Juden außerhalb des Gesetzes der Quell der Gesetzlosigkeit und der Gewalttätigkeit der Straße war. Der Blutpogrom von Nischni bewirkte nur, dass die Regierung, in der Befürchtung einer Ausdehnung des Brandes außerhalb des Ansiedlungsrayons und außerhalb des Judentums überhaupt, endgültig beschloss, fortan keine Ausschreitungen mehr zu dulden. Der Pogrom von Nischni war in der Tat der letzte in der Pogromchronik der achtziger Jahre (von einigen geringeren Vorkommnissen an verschiedenen Orten abgesehen). „Das Land beruhigte sich“ für sechs Jahre und das Monopol des „stillen Pogroms“ — der systematischen Rechtsberaubung der Juden — festigte sich unter den Händen des Grafen Tolstoi und Pobedonoszews.