§ 116. Die russische Reaktion

In Westeuropa war die antisemitische Reaktion gegen die den Juden bereits gewährte bürgerliche Emanzipation gerichtet, in Russland aber gegen eine seit den liberalen Reformen Alexanders II. erwartete Emanzipation. Die Erwartungen erwiesen sich indes als vergeblich. Ebenso wie die allgemeinen Reformen des Zaren, der die Bauern von persönlicher Sklaverei befreite, Russland aber von politischer Sklaverei nicht befreien wollte, jäh abgebrochen wurden, ebenso schnell hörten die partiellen Verbesserungen der Lage der Juden auf. Schon in den siebziger Jahren traten hier die Umrisse der Gegenreformen klar an den Tag. Der entschiedene Sieg der Reaktion während der Thronbesteigung Alexanders III. ging mit einem Auflodern des Judenhasses einher, den das neue Russland in dieser Stärke noch nicht kannte. Neben der Bureaukratie, die die Judenfrage in den Kanzleien löste, begann die dunkle Volksmasse sie auf der Straße zu lösen; neben die Rechtlosigkeit stellte sich der Pogrom, Gleichzeitig mit dem kulturell verbrämten westlichen Antisemitismus erstand die russische Judenfeindschaft in den unverhüllten Formen des Haidamakentums des siebzehnten Jahrhunderts und der polizeilichen Repressionen der Zeiten von Nikolaus I. wieder. Sowohl im Westen als im Osten bewirkten bestimmte politische und sozialökonomische Ursachen den Judenhass, aber in Russland waren Ursachen und Folgen primitiver, gleich der ganzen Ordnung des ungeheuren Polizeistaates, der sich dem westlichen Rechtsstaate schroff entgegenstellte.

Die sozialökonomischen Gründe der neuen antijüdischen Bewegung in Russland waren den im Westen wirkenden Gründen des Judenhasses übrigens nur in einer Beziehung ähnlich: hier wie dort wurde die Unzufriedenheit durch das schnelle „Eindringen“ der Juden in die christliche Gesellschaft und die privilegierten Berufe hervorgerufen. Die unter Alexander II. den jüdischen Großkaufleuten eingeräumten Rechtserleichterungen verstärkten die Konkurrenz in dem damals blühenden russischen Gründertum — bei der Gründung von Fabriken *), dem Bau von Eisenbahnen, der Gründung von Banken und verschiedenen Aktiengesellschaften. Die Rechtserleichterungen für Juden mit Hochschulbildung aber erzeugten weiterhin einen Wetteifer zwischen ihnen und den Christen auf dem Gebiete der freien Berufe — des Arztes, Anwalts, Ingenieurs, teilweise auch des Schriftstellers und in der Tagespresse. Das Emporsteigen einiger Gruppen des Judentums auf der sozialen Leiter stieß auf eine Abwehr der entsprechenden Gruppen der russischen Gesellschaft, und lediglich der beste Teil der russischen Intelligenz nahm die gebildeten Juden in seine Mitte auf. Eine mit Regierungssubsidien geförderte antisemitische Presse entwickelte sich: das „Nowoje Wremja“ in Petersburg, „Wilenski Westnik“ (der Wilnaer Bote), „Kiewljanin“ (der Kiewer) und „Noworossijskij Telegraph“ in der Provinz betrieben eine gewissenlose judenfeindliche Propaganda. Das ,,Nowoje Wremja“ brachte das geflügelte Wort „Der Jude kommt“ in Umlauf — ein Alarmruf über das soziale Wachstum jener, die noch vor kurzem außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft standen. Dasselbe Blatt veröffentlichte die Schmähschrift des deutschen Antisemiten Marr „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“ (1879) und verfehlte nicht darauf hinzuweisen, dass ein gleicher Triumphzug Israels sich auch in Russland vollzöge.


*) S. vorangehenden Band, S. 419 Anm. (Zahlenmaterial).[/]

Dem Zusammenstoß auf dem Gipfel der gesellschaftlichen Stufenleiter entsprach ein noch schrofferer Zusammenstoß in den Tiefen. Hier treten bereits die kennzeichnenden Merkmale des russischen Judenhasses auf wirtschaftlichem Boden hervor. Nach der Bauernbefreiung kam der Jude in nähere Berührung mit dem Bauer, da zwischen den beiden kein Großgrundbesitzer und Dorfherr mehr stand. Jene Dorf- und Stadtjuden, die bisher beim Gutsbesitzer („Poriz“) als Vermittler des Absatzes landwirtschaftlicher Produkte ihren Unterhalt fanden, hatten jetzt unmittelbar mit dem Bauern zu tun, der als Bodenbesitzer zum Herrn seiner eigenen Arbeit geworden war. Der Einkauf landwirtschaftlicher Produkte in Dörfern und auf Stadtmärkten und ihr Austausch gegen Stadtwaren wurde in West-Russland hauptsächlich von Juden betrieben, die in ihrer Mittelklasse, infolge ihrer Rechtlosigkeit und Eingeschlossenheit im „Ansiedlungsrayon“, immer noch an den Kleinhandel gekettet waren. Zwischen dem Bauern als landwirtschaftlichen Kleinproduzenten und dem Handelsvermittler entstanden aber naturgemäß Konflikte, die besonders scharf wurden, wenn das Geschäft in den von Juden betriebenen Kneipen abgeschlossen und das bäuerliche Getreide gegen jüdischen Branntwein ausgetauscht wurde, — eine schändliche Erbschaft des polnischen Herrentums und der russischen Trunksucht. Dieses von der Epoche Chmelnickis und des Hajdamakentums her wohlbekannte ukrainische Bild erhielt sich auf dem gleichen Territorium auch in der „Epoche der großen Reformen“, die das befreite Bauerntum kulturell ja gänzlich unberührt, vielmehr es in Unwissenheit, Trunksucht und Primitivität der Sitten weiter verharren ließen. In den Tiefen des russischen Volkes aber, in einem von vulkanischen Kräften alter Leidenschaften und Vorurteile noch gesättigten Boden, musste jede politische „Wirrnis“ wie in alter Zeit drohende unterirdische Erschütterungen als Vorboten einer nahenden Katastrophe hervorrufen. Und die Katastrophe entlud sich denn auch in dem Moment, da der revolutionäre Terror in Russland schließlich den Zarenmord vom i. (13.) März 1881 zeitigte *).

[i]*) In diesem Kapitel entsprechen alle Zeitdaten der damals in Russland geltenden alten Zeitrechnung.


In diesem Moment kamen sozialökonomische Faktoren mit politischen zusammen und verstärkten den offiziellen Judenhass jener Zeit. Die revolutionäre Bewegung, die durch ein Zugeständnis im Sinne der „Rechtsordnung“ oder durch Gewährung der Verfassung hätte zur Ruhe gebracht werden können, hatte, da dieses Zugeständnis unterblieb, immer mehr um sich gegriffen. Und als sie gegen Ende der siebziger Jahre polizeilichem Terror begegnete, verwandelte sie sich ihrerseits in roten Terror. Unaufhörliche Attentate auf das Leben Alexanders II. erzeugten im Volke äußerste Unruhe. Die Teilnahme einer Gruppe der fortschrittlichen jüdischen Jugend an der revolutionären Bewegung erzürnte die regierenden Kreise: man entrüstete sich hier darüber, dass die mit „Rechtsvorteilen“ beschenkte jüdische Intelligenz meuterte, — als hätten die Kämpfer um die Gleichheit durch persönliche Privilegien befriedigt werden können, die die Ungleichheit im Volke nur noch vertieften. In konservativen Kreisen wuchs die Überzeugung, dass die Reformen überhaupt schädlich wären und das Volk verdürben, das nach jedem Zugeständnis ein weiteres verlangte. Der zwischen Zugeständnissen und Repressionen schwankende Zar neigte in seinem letzten Lebensjahr schließlich der „Versöhnungspolitik“ zu und der von ihm ernannte Minister-Diktator Loris-Melikoff sollte diese Aussöhnung mit der Gesellschaft durch die „Diktatur des Herzens“ verwirklichen. Ein Surrogat der „Verfassung“ in der Form der Heranziehung der Mitglieder der Landschaften (Zemstwo) zur Beratung von Gesetzesvorlagen wurde in Aussicht genommen. Aber mitten in den Vorbereitungen zu diesem Kompromiss vollzog sich die Katastrophe vom 1. März 1881. Unter den Terroristen, die die Ermordung Alexanders II. vorbereitet hatten, befand sich auch eine Jüdin — Hessja Helfmann, die in der ganzen Angelegenheit eine sekundäre Rolle spielte: als Freundin eines Revolutionärs unterhielt sie eine geheime Wohnung für konspirative Zwecke *). In Polizeikreisen merkte man sich das und zog daraus die nötige Schlussfolgerung.

*) Im Prozess der Zarenmörder (Ryssakow, Scheljabow, Perowskaja) zu Tode verurteilt, blieb die Helfmann infolge Schwangerschaft im Gefängnis; nach der Geburt eines Kindes, das man der unglücklichen Mutter wegnahm, starb sie im Gefängnis.

Den blutbesudelten Thron bestieg nunmehr Alexander III., ein unbeschränkter Monarch mit denkbar beschränktestem Gesichtskreis. Ein Mann vom altrussischen Habitus, Eiferer der Orthodoxie und des russischen Volkstums, teilte er die üblichen Vorurteile seines Kreises gegen die Juden. Schon als Thronfolger zeichnete er den bekannten Abenteurer Lutostanski, der ihm seine abscheuliche Schmähschrift „Über den Gebrauch christlichen Blutes durch Juden“ überreichte, durch ein Geschenk aus*). Aus derartigen Büchern seine Kenntnisse der jüdischen Religion schöpfend, beurteilte der künftige Zar die wirtschaftliche Rolle der Juden nach dem Skandalprozess der Lieferanten der Intendantur im russisch-türkischen Kriege. Sonstige Kenntnisse vom Judentum besaß der künftige Herrscher von fünf Millionen Juden offenbar nicht. Seine allgemeine politische Erziehung erhielt Alexander III. unter der Leitung eines eingefleischten Reaktionärs K. Pobedonoszew, eines früheren Professors der Moskauer Universität, der Oberprokurator der „Heiligsten Synode“ geworden war. Während er den russischen Thronfolger in Staatswissenschaften unterrichtete, verstand es der frühere Professor des bürgerlichen Rechts, im Geiste seines Zöglings die Grundsätze der bürgerlichen Rechtlosigkeit fest zu verwurzeln. Er verstand es, seinem Zögling die Vorstellung von einem kirchlich-polizeilichen Idealstaat einzuflößen, in dem das rechtgläubige russische Volk von Aufklärung und politischer Freiheit noch nicht „verdorben“, gottes- und zarenfürchtig war, sich Andersgläubigen und Fremdstämmigen fernhielt und die Stellung einer vorherrschenden Nation innehatte. Die Losung „Russland für die Russen“ verwurzelte sich tief im Gehirn Alexanders III., der sie dann auch in seiner Politik unweigerlich verwirklichte; Nach der Katastrophe vom 1. März schwankte der neue Zar nicht lange zwischen den entgegengesetzten Ratschlägen seiner Würdenträger, von denen die fortschrittlichen ihm zur Gewährung einer gemäßigten Verfassung, die reaktionären aber zur Beibehaltung einer strengen Autokratie und zum Abbruch des Reformwerks rieten. Die Partei des „Groß-Inquisitors“ (wie später Pobedonoszew genannt wurde) siegte: es wurde beschlossen, das Regime der absoluten Autokratie mit der ganzen Fülle der Macht zu stützen. Das von Pobedonoszew geschriebene Zarenmanifest vom 29. April 1881 verkündete dem Volke im Tone himmlischer Offenbarung: „Gottes Stimme befiehlt Uns, das Werk der Regierung getrost zu übernehmen.

*) Dieses Geschenk (ein Brillantring) wurde von Lutostanski während seines Prozesses gegen den Redakteur der hebräischen Zeitung „Hameliz“. Zederbaum, dem Gericht vorgelegt, um die Richter einzuschüchtern, doch das liberale Gericht hielt stand und lehnte die Beschwerde Lutostanskis gegen Zederbaum als gewissenlos ab. (S. vorangehenden Band § 97 am Schluss.)

mit dem Glauben an die Kraft und die Wahrheit der selbstherrlichen Gewalt, die zu befestigen und zu beschützen Wir berufen sind“. Der Zar rief alle seine treuen Untertanen zur „Ausrottung der Verschwörung“ (Revolution) und zur „Stärkung des Glaubens und der Sittlichkeit“ auf. Statt einer europäischen Parlamentsverfassung schenkte der Zar dem Lande bald eine Gendarmerieverfassung — das berühmte „Reglement über verstärkten Schutz“ (August 1881). Dieser Akt verlieh den Satrapen in den Hauptstädten und in vielen Provinzen — den Gouverneuren und Generalgouverneuren — eine fast unbeschränkte Macht: das Recht, außerordentliche, das normale Gesetz abschaffende Gesetze zu erlassen, jeden der „politischen Unzuverlässigkeit“ verdächtigen Bürger zu verhaften und nach Sibirien zu verbannen und überhaupt über das Schicksal der Bürger nach freiem Ermessen zu verfügen. Diese magna charta von Freiheiten, die der Polizei gegen die Bürger geschenkt wurde, wurde später alljährlich durch besondere Zarenukase wieder erneuert, die die polizeiliche Willkür auf immer weitere Gouvernements ausdehnten. Die Polizei Verfassung von 1881 überlebte die papierene Parlamentsverfassung von 1905 und beherrschte das Leben Russlands bis zur Umwälzung im Februar 1917.

Der Zarenmord vom 1. März stieß naturgemäß nicht nur die Regierung, sondern auch den größten Teil der vom Gespenst des Anarchismus geängstigten russischen Gesellschaft auf den Weg der Reaktion. Der in wirren Zeiten übliche Ruf „Sucht den Juden!“ ertönte wieder. Immer feindseliger wurde der Ton der weit verbreiteten und der Regierung nahestehenden russischen Pressorgane. Das „Nowoje Wremja“ und eine Reihe der von der Regierung subventionierten Provinzblätter begannen von den Juden in einem Ton zu sprechen, als wüssten sie über diese irgendein furchtbares Geheimnis. Fast am nächsten Tage nach dem Ereignis vom 1. März begannen die Blätter dieser Sorte auf die Teilnahme der Juden am Zarenmord anzuspielen und bald danach tauchten in den Blättern des Südens schon Alarmgerüchte über bevorstehende Überfälle auf Juden auf. Eine unheimliche Gärung machte sich in den Tiefen des russischen Volkes bemerkbar und von oben stießen unsichtbare Hände die Volksmassen auf den Weg eines ungeheuren Verbrechens. Geheimnisvolle Sendlinge aus Petersburg tauchten in den Großstädten des russischen Südens (Elisawetgrad, Kiew, Odessa) schon im März auf und führten mit den obersten Polizeichefs geheime Verhandlungen über ein mögliches „Auflodern des Volkszornes gegen die Juden“, wobei sie zu verstehen gaben, dass eine Hinderung des Volkes durch die Polizei unerwünscht wäre. In Eisenbahnwagen und Stationen begegneten Gestalten großrussischer Händler und Arbeiter (in Süd-Russland „Kazapen“ genannt), die mit einfachen russischen Leuten sich über die bevorstehende Abrechnung mit den Juden unterhielten, judenfeindliche Zeitungsartikel vorlasen und versicherten, es gäbe einen „Zarenukas“, der es gestattete, während der nächsten christlichen Ostern „die Juden zu schlagen“. Bis heute ist noch nicht aufgeklärt, weichte Organisation diese Pogrompropaganda im Volke betrieb und ob daran namentlich die Geheimliga der Würdenträger teilnahm, die sich unter dem Namen „Heilige Wehr“ im März 1881 zur Beschützung der Person des Zaren und zum terroristischen Kampf mit den „Feinden der Ordnung“ gebildet hatte (Mitglieder dieser Liga, die bis zum Herbst 1882 existierte, waren unter anderen Pobedonoszew und der künftige Minister Ignatjew); dass aber die Pogrome vorbereitet und organisiert worden waren, ist daraus zu ersehen, dass sie fast gleichzeitig an vielen Orten Süd-Russlands entstanden und überall nach der gleichen Schablone — gleichförmige Betätigung der Menge und Untätigkeit der Behörden — vor sich gingen.