§ 115. Das innere Leben und die Literatur

So sehr das innere Leben der Juden in Deutschland jener Epoche monoton war, so bunt und voller Gegensätze war das Leben verschiedener Gruppen der Judenheit Österreich-Ungarns. Die Gruppe der Juden Wiens und Deutsch-Österreichs, teilweise auch Böhmens und Mährens, näherte sich dem deutschen Kulturtyp. Das jüdische Galizien und Ungarn hingegen stellten ganz besondere geistig-kulturelle Typen dar.

In Wien und Deutsch-Österreich war bereits der Kampf zwischen der alten und der neuen Kultur zur Ruhe gekommen, und im Leben der jüdischen Gemeinden herrschte jene öde Stille, die in von jungen Mitgliedern verlassenen Familien beobachtet zu werden pflegt. Denn die jüdische Jugend ging in der allgemeinen Kultur und der fremden nationalen Umgebung auf, die Männer der älteren Generation aber, die wirklichen Gemeindemitglieder, waren nur formell Synagogengenossen. Nach dem neuen, 1890 bestätigten Gemeindestatut war die jüdische Gemeinde — ein Überbleibsel der früheren Autonomie — nach wie vor lediglich als religiös-wohltätige Organisation anerkannt, deren gewähltes Organ oder Rat „Kultus vorstand“ hieß und eine Art Tempelvorstand darstellte. Die große Wiener Gemeinde imponierte wohl durch ihre äußeren Einrichtungen: schöne Reformtempel, gelehrte Rabbiner und Prediger, verschiedene Wohltätigkeitsinstitutionen nach europäischem Typus, aber der lebendige Geist war dieser Gemeinde abhanden gekommen; sie vermochte nicht auf die brennenden Tagesfragen der Politik und des allgemeinen kulturellen Kampfes zu reagieren.


Ein Ersatz der politischen Organisation war die „Österreichisch-israelitische Union“, die 1884, mitten in der Brandung des Antisemitismus, mit dem Zweck gegründet worden war, das jüdische Wissen zu fördern, die Interessen der österreichischen Juden wahrzunehmen, die gegen sie verbreiteten Vorurteile zu zerstreuen und alle Versuche zu bekämpfen, die religiöse und Rassenfeindschaft gegen die Juden zu steigern. An der Spitze der Union haben damals der Abgeordnete des Reichsrats Bloch und der Wiener Ober-Rabbiner, der Historiker Güdemann gestanden. Das doppelte Ziel der Union — der Kampf mit dem Antisemitismus und die Popularisierung jüdischen Wissens — wurde indessen, in sehr bescheidenem Ausmaß, nicht von der Organisation, sondern von Einzelpersönlichkeiten verwirklicht. Bloch hatte ja auch schon früher die Antisemiten aus Rohlings Kreise energisch bekämpft und Güdemann gute Bücher über die Geschichte der jüdischen Kultur geschrieben. Bis zu einem gewissen Grade gelang es der Union, die jüdische Öffentlichkeit zu beleben: es steigerte sich die Teilnahme der Juden an den Parlamentsund Kommunalwahlen, es wurden Maßnahmen getroffen zur Verbesserung der elementaren „Religionsschulen“ und in Wien wurde ein jüdisches theologisches Seminar zur Vorbereitung von Rabbinern gegründet. 1885 unternahm die Union den kühnen Versuch, zu denselben Zwecken alle österreichischen Gemeinden zusammenzuschließen und ein Zentralorgan dieses Zusammenschlusses, einen Gemeindebund zu schaffen; aber die österreichische Regierung bekam Angst vor dem Gespenst der neuen nationalpolitischen Organisation und lehnte die Bestätigung ihres Statuts ab. Man war gezwungen, das Statut des Gemeindebundes zu ändern und diesen auf die Stufe eines religiös-wohltätigen Organs der zusammengeschlossenen Kultusgemeinden herabzudrücken. Eine halb politische, halb wohltätige Organisation war die „Israelitische Allianz zu Wien“, die sich 1873 von der „Alliance Israélite Universelle“ in Paris abgezweigt hatte, aber denselben Zweck der Hilfeleistung an die „unterdrückten Brüder im Osten“ verfolgte. Den „Osten“ stellten für Wien das nachbarliche Russland und Rumänien dar, wo die Judenverfolgungen seitens der Regierungen nicht aufhörten. Die Tätigkeit der Allianz äußerte sich in Geldhilfe für Emigranten aus beiden Ländern und ihrer Weiterleitung nach Amerika. Die kulturelle Tätigkeit der Wiener Allianz entwickelte sich in den neunziger Jahren in den östlichen Provinzen Österreichs selbst — in Galizien und der Bukowina, wo Fachschulen und allgemeine Schulen für Juden aus den Mitteln des Barons Hirsch gegründet wurden, dessen Millionfonds die Wiener Allianz zu ihrer Verfügung erhalten hatte.

Der eigentliche politische Kampf gegen den Antisemitismus konzentrierte sich in der Wiener jüdischen Presse. Die Antisemiten zählten freilich alle liberalen deutschen Blätter zu. der „jüdischen Presse“, mit der einflussreichen „Neuen freien Presse“ an der Spitze, die unter ihren Redakteuren und Mitarbeitern allerdings nicht wenig Juden hatte. In Wahrheit aber bekämpften diese Blätter den Antisemitismus lediglich als antiliberale Bewegung und die assimilierten jüdischen Mitarbeiter dachten dabei am allerwenigsten an ihr früheres Volkstum. Ein wahrer Vorkämpfer der jüdischen Interessen war vielmehr das Organ des Abgeordneten Bloch, die „Österreichische Wochenschrift“, die seit 1884 in Wien mit Unterstützung der erwähnten „Österreichisch-israelitischen Union“ erschien. Ihr Schriftleiter, ein geborener Galizier, der die Ehre des Judentums von der Parlamentstribüne herab energisch verteidigte, und solche gelehrten Mitarbeiter, wie Güdemann und David Kaufmann, bewahrten diese Zeitschrift vor den Exzessen der Assimilation und machten sie zum Sprachrohr des gesünderen Teils des österreichischen Judentums. An politischer und literarischer Bedeutung stand diesem Organ die „Neuzeit“ (seit 1882), die Wochenschrift des Predigers Jellinek, nach. Anfangs der achtziger Jahre erschien in Wien außerdem noch die seit früher her national gerichtete, kampfesfrohe Zeitschrift „Haschachar“ von Smolenskin, die unter dem Einfluss der Krisis in Russland zum Organ der Palästinophilen geworden war. Diese Zeitschrift lebte jedoch nur noch ihre letzten Jahre gleich ihrem begabten, bald vorzeitig verstorbenen Redakteur. Aus dem von Smolenskin in Wien begründeten nationalen Studentenverein „Kadimah“ ging der junge Publizist Nathan Birnbaum hervor, der von 1885 an die Zeitschrift „Selbstemanzipation“ — einen Vorboten der zionistischen Presse — herausgab.

Auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Literatur wurde die in der vorangehenden Epoche begonnene Arbeit fortgesetzt. Der alte A. H. Weiß vollendete sein Hauptwerk über die Geschichte des Rabbinismus (Band 3 — 5 des „Dor dor wedorschow“, erschienen 1883 — 1891). Güdemann ergänzte unter dem Geheul der antisemitischen Schakale seine „Geschichte der jüdischen Kultur und des Erziehungswesens im Mittelalter“ (§ 94), in die aus der umgebenden Zeitatmosphäre indessen apologetische Tendenzen eingedrungen waren. Ein anderer Schüler von Graetz, der Dozent des Rabbinerseminars in Budapest David Kaufmann arbeitete erfolgreich auf dem Gebiete der Geschichte der jüdischen Philosophie und speziell der Geschichte der Juden in Österreich („Geschichte der Attributenlehre in der jüdischen Religionsphilosophie“, 1877; „Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien“, 1887; „Samson Wertheimer“, 1888, und viele Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften). Es waren indes nur die Reste der früheren wissenschaftlichen Renaissance. Neue schöpferische Kräfte zeigten sich weder in der Wissenschaft noch auf andern Gebieten der jüdischen Literatur, da die meisten begabten Geister sich der deutschen Literatur zuwandten und dort in der allgemeinen Masse aufgingen.

Zwei kulturelle Gegensätze blieben nach wie vor in Galizien bestehen: auf der einen Seite die in deutschem oder polnischem Geist assimilierte Intelligenz, auf der andern eine träge chassidische Masse, die in den Träumen des achtzehnten Jahrhunderts befangen fortlebte. Schon längst waren die schöpferischen Kräfte des Rabbinismus und des Chassidismus erschöpft, aber die Kraft der Trägheit war noch groß genug, um jede lebendige kulturelle Bewegung zu hemmen. Eine Gruppe germanisierter Intellektueller in Lemberg und in Krakau, die in dem Bunde „Schomer Israel“ zusammengeschlossen waren, setzte ihren wenig erfolgreichen Kampf gegen die Obskuranten aus dem rabbinisch-chassidischen Bund „Machsikei hadath“ fort; der Kampf wurde in den Gemeinden, um den Einfluss in der Verwaltung, in der die orthodoxe Mehrheit herrschte, geführt. Aber auch im Lager der Assimilanten ging eine Spaltung zwischen den Anhängern der Germanisierung und denen der Polonisierung vor sich. Gegen den Bund „Schomer Israel“ trat der zu Beginn der achtziger Jahre entstandene polenfreundliche Bund „Agudath achim“ („Przymierze braci“ — ein „Brüderbund“) auf, der in Krakau in polnischer Sprache eine Zeitschrift „Ojczyzna“ (das Vaterland) herausgab. Gestützt auf die wachsende politische Macht der Polen in Galizien, hatten diese Prediger des Polonismus großen Erfolg und drängten die Germanophilen allmählich in den Hintergrund. Dem politischen Druck der polnischen Herren mussten auch die Orthodoxen nachgeben: von den polnischen Herren in der Landwirtschaft, der Industrie und dem Handel wirtschaftlich abhängig, stimmten sie bei den Parlaments-, Landtags- und Kommunalwahlen vornehmlich für die konservativen Kandidaten der polnischen Partei. Als Belohnung dafür ließen die Polen einige jüdische Deputierte, die durch die Disziplin der polnischen Fraktionen streng gebunden waren, in den Reichsrat und den galizischen Sejm gelangen. So kam 1880 in den Reichsrat das Haupt der fanatischsten Orthodoxen, der Krakauer Rabbiner Simon Schreiber, Sohn des ungarischen Rabbiners und Verfolgers der Aufklärung Moses Sofer. Der jüdische Obskurant war Mitglied des parlamentarischen Polenklubs und stimmte mit den anderen Klubmitgliedern oft ohne zu wissen wofür, denn er verstand die Parlamentsreden nur schlecht. Im übrigen führten die Polen in die Vertretungskörper für gewöhnlich die ihnen ergebenen intelligenten Juden aus der Gruppe der assimilierten „Polen mosaischen Glaubens“ ein, die sich von dem eingefleischten, schlecht verhehlten Judenhass ihrer politischen Bundesgenossen nicht stören ließen. Zwischen diesen beiden Extremen, die ja“ gleicherweise für das Wachstum einer lebendigen Nationalkultur ungeeignet waren, stand die Gruppe der alten „Maskilim“, der Freunde der Bildung und Pfleger der althebräischen Sprache. Die ganzen Bestrebungen dieser mit der breiteren literarischen Renaissance in Russland verbundenen Gruppe fanden in der literarischen Tätigkeit in der Nationalsprache Ausdruck. Hier spiegelten sich die Gedanken und Hoffnungen des Übergangsgeschlechts, das auf der Grenze der alten und der neuen Kultur stand, wieder. Das beliebte literarische Genre war hier der soziale Roman, in dem der Kampf der Ideen geschildert wurde. Ein solcher „ideologischer“ Romanschriftsteller war Ruwin Braudes, der die Gemüter der galizisch-russischen Maskilim durch seinen großen Roman „Die Religion und das Leben“ (Hadat wehachaim, 1876 — 85) erregte. Hier wird das seelische Drama eines jungen Talmudisten geschildert, der in sich die neuen Ideen eingesogen hat und eine Reform des Judaismus im nationalprogressiven Sinne — Erleichterung der Last der Riten, Läuterung der religiösen Begriffe von chassidischer Mystik und Volksaberglauben — predigt. Ein anderer sozialer Roman von Braudes, „Zwei Extreme“ (Sehte hakzowot, 1888) berührt die wunde Stelle des jüdischen Lebens in Galizien — die anormale Kulturpolarität der Gesellschaft, in der keine starke Zwischenströmung vorhanden ist zwischen dem erstorbenen Stillstand des alten Geschlechts und dem selbstmörderischen Streben des neuen Geschlechts zum Abgrund des nationalen Nichtseins hin. Das traditionelle Leben wurde von M. Brandstetter in seinen Novellen geschildert, in denen das Leben des typischen galizischen Städtchens mit seinen Rabbinern, Zadikim, der chassidischen Masse, Reichen und Armen, Fanatikern und Lichtsuchern, Judenfreunden und Judenhassern hervortrat (Mordechaj Kisowicz, Niflaot meir Zydyczow, Zorer hajehudim migrilew und andere). Die humoristischen Skizzen von Nathan Samueli aus Lemberg, der hebräisch und deutsch schrieb („Kulturbilder“, 1885; „Min hachaim“, 1891 u. a.) veranschaulichten gleichfalls das Leben des jüdischen Galizien in seinen der modernen Zeit vollkommen fremden Offenbarungen. Das jüdische Leben in Galizien zu schildern, versuchte auch der deutsche Schriftsteller L. Sacher-Masoch (Judengeschichten 1878 — 82 u. a.), aber seine naiven idyllischen Schilderungen spiegeln lediglich die Vorstellungen eines abseitigen Beobachters wieder, der das Wesen des eigenartigen jüdischen Lebens nicht versteht. Das Lieblingsthema seiner Erzählungen ist die Liebe, die einen edelmütigen Christen und eine jüdische Schönheit aus dem fanatisch-chassidischen Milieu verbindet. —

Auf dem Gebiete der jüdischen Wissenschaft hat Galizien in dieser Epoche nichts hervorgebracht, was der Heimat eines Rappoport und eines Krochmal würdig wäre. Der Lemberger Gelehrte Salomon Buber gab alte Midraschim nach handschriftlichen Varianten mit einem kritischen Vergleich der Texte heraus (Midrasch Tanchuma u. a.). Kleinere wissenschaftliche, publizistische und belletristische Arbeiten erschienen in dem periodischen Sammelwerk ,,Ozar hasafrut“ in Krakau (bei Gräber, 1887 — 96) und anderen Zeitschriften.

In Ungarn dauerte die Spaltung zwischen den Orthodoxen und den Reformisten-Neologen in den Gemeinden fort (§ 93)Die orthodoxen Gemeinden erkannten diejenigen nicht als Rabbiner an, die diesen Titel im Budapester Rabbinerseminar erhielten, wo der Unterricht im modernen wissenschaftlichen Geiste geleitet wurde, und wählten nach wie vor ihre Seelsorger aus den Zöglingen talmudischer Jeschiboth. Allein der alte Rabbinismus hatte schon längst seine Lebenskraft eingebüßt und besaß nur noch eine konservierende Kraft, die nur vor der extremen Assimilation zurückhielt. Die hebräische Literatur, die auch schon früher in Ungarn keine hervorragenden schöpferischen Schriftsteller besessen hatte, verlor jetzt auch die Leser, da hier die Zwischenschicht der Maskilim fast gänzlich fehlte, die in Galizien diese Literatur verstand. Eine neue wissenschaftliche Literatur in deutscher Sprache war in den Lehrsälen des Budapester Seminars in Entstehung begriffen, wo der oben erwähnte David Kaufmann und W. Bacher, Verfasser vieler Untersuchungen auf dem Gebiete der Geschichte der talmudischen Agada und der hebräischen Linguistik (Die Agada der Tanaiten, Agada der Amoraiten u. a.), unterrichteten. Es begannen jüdische Bücher und Zeitschriften in ungarischer Sprache zu erscheinen, die natürlich nur eine lokale Bedeutung haben konnten.

Noch schwächer schlug der Geistespuls der tschechisch-mähririschen Judenheit. Prag, das längst aufgehört hatte, das Zentrum des Rabbinismus zu sein, war noch nicht das Zentrum der neuen jüdischen Kultur geworden. Die doppelte Assimilation, nach der deutschen und der tschechischen Seite hin, tat ihr zerstörendes Werk. Erst im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, da aus der Hauptstadt Österreichs der Appell zur nationalen Wiedergeburt erscholl, sollten auf allen diesen Friedhöfen einer gewesenen Kultur die verdorrten toten Knochen sich zu regen beginnen und das Wunder von Hesekiel sich wiederholen.