§ 114. Das Auflodern des Antisemitismus in Ungarn und die Tisza-Eszlar-Affäre

Die Magyaren, die seit 1897 Herren des völkerreichen Ungarns geworden waren, verfielen der allgemeinen Manie der Assimilierung der nationalen Minderheiten, Ein endloser Kampf mit den nationalen Bestrebungen der Südslawen — Kroaten, Serben, Slowenen und Slowaken — entspann sich. Vor allem aber hielten sich die Magyaren für berechtigt, über das nationale Schicksal der jüdischen Bevölkerung zu verfügen, die ca. 4 v. H. der Gesamtbevölkerung Ungarns ausmachte (1888: 638.000, 1890: 725.000). Vor der Emanzipation pflegte man von den Juden den Verzicht auf ihr Volkstum zu verlangen; als aber die gewünschte Assimilation zum kulturellen Zusammenschluss der Juden mit den Deutschen führte, erhob sich ein Geschrei ob der Germanisierung Ungarns durch die Juden. Die bürgerliche Gleichberechtigung war den Juden bekanntlich unter der Voraussetzung der Magyarisierung gewährt worden und nun begann in Ungarn die übliche offizielle Umregistrierung der Juden aus der Kategorie der Deutschsprechenden in die Kategorie der Ungarischsprechenden (das volkstümliche Deutsch-jüdisch wurde auch hier nicht berücksichtigt). Was bislang die Lockungen Kossuths und der liberalen Patrioten nicht vermocht hatten, bewirkten jetzt die Drohungen der Antisemiten. In der Zeit von 1881 bis 1890 — der Blüteepoche des ungarischen Antisemitismus — stieg die Zahl der Juden, die sich ihrer Sprache nach der ungarischen Nationalität anschlössen, auf 23 V. H., gegen Ende des Jahrhunderts aber gaben bereits Dreiviertel der jüdischen Bevölkerung Ungarns als ihre Sprache die ungarische an und nur ein Viertel die deutsche (nach der Zählung von 1900). Diese offizielle Angliederung einer halben Million Juden an die ungarische Nation war sehr wichtig für die politischen Bestrebungen der Magyaren, die selbst in den Kerngebieten des Landes nur über eine schwache Mehrheit (51 V. H.) verfügten und leidenschaftlich die Stärkung ihrer vorherrschenden Position anstrebten. Zur Erringung eines solchen Sieges wurde eine intensive antisemitische Agitation erforderlich, die in der ersten Hälfte der achtziger Jahre sich bis zum äußersten Grade entwickelt hatte.

Der antisemitische Bazillus zeigte sich in Ungarn gleichzeitig mit Deutsch-Österreich. Im ungarischen Parlament bildete sich eine festgefügte Gruppe von Antisemiten, die aus dem Schöße der Parteien der Liberalen und der „Unabhängigen“ hervorgegangen war und nachgerade nach rechts umschwenkte. Istoczy, Onody, Simony waren die Anführer dieser Gruppe, die sowohl im Parlament als auch außerhalb dessen sich betätigte. Bereits 1880 hatte Istoczy zirka achtzig antisemitische Gruppen in verschiedenen Komitaten gegründet. Diesen Ortsgruppen wurde die Instruktion gegeben, dem Parlament Petitionen über die Abschaffung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden einzureichen, angesichts der Gefahr der Vergewaltigung des Landes durch die Juden. Anlässlich der Einreichung dieser Petitionen hielten die antisemitischen Abgeordneten zündende Ansprachen in Parlament und Volksversammlungen. Es war hier von der Verjudung Ungarns und insbesondere der Hauptstadt Budapest die Rede, die scherzweise „Judapest“ genannt wurde; es wurde nachgewiesen, dass die Abschaffung der bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden möglich sei, unbeschadet anderer Bestimmungen der liberalen Verfassung. Im Parlament hatte diese ganze Agitation keinen Erfolg. Das liberale Kabinett, an dessen Spitze Koloman Tisza stand, und die Mehrheit des Parlaments lehnten die reaktionären Bestrebungen der Antisemiten entschieden ab. Darauf wurde der Kampf auf die Straße hinausgetragen. Die ungarischen Antisemiten, die ihre Theorie den Deutschen entlehnt hatten, waren bereit, ihr die russische Praxis, wie sie sich in den Pogromen des Jahres 1881 geäußert hatte, zuzugesellen. In verschiedenen Komitaten hatten bereits Überfälle auf Juden begonnen, aber die Regierung ergriff entschlossene Maßnahmen zur Abwendung weiterer Unruhen. Die Antisemiten versuchten, ihre Agitation mit der „Überschwemmung“ Ungarns durch jüdische Emigranten aus Russland in Zusammenhang zu bringen. Die Einwanderung kleiner Gruppen von Flüchtlingen aus südrussischen Gouvernements 'gab der Verwaltung einiger Komitate den Anlass, die Frage der Nichtzulassung von Emigranten ins Land aufzuwerfen. Die Beratung dieser Frage im Parlament benutzte der Deputierte Onody, um das Judentum der ganzen Welt zu brandmarken und die Befreiung von dreihundert Millionen Christen von dem „Joch der acht Millionen Juden“ zu verlangen. Aber das Parlament beschloss in voller Übereinstimmung mit der Regierung, dass es nicht anginge, Verfolgte, die in Ungarn ein zeitweiliges Asyl suchten, von den ungarischen Grenzen zurückzutreiben (1882). Die Antisemiten wandten sich darauf der literarischen Propaganda zu und veröffentlichten Broschüren, in denen zu Gewalttätigkeiten gegen die Juden aufgefordert wurde, aber auch dem trat die Regierung entgegen. Eine der gefährlichsten Broschüren, die für die Arbeiter bestimmt war und die üblichen antisemitischen Erfindungen, die Beschuldigung des Ritualmords miteinbegriffen, enthielt, wurde beschlagnahmt. Dies rief eine entrüstete Rede Istoczys im Parlament hervor: der Redner erklärte geradezu, dass die Emanzipation der Juden ein Schandfleck Westeuropas sei, und man sich lediglich in Russland auf die Lösung der Judenfrage verstände. Um Ungarn auf den Weg des zarischen Russland zu locken, heckten die Antisemiten einen teuflischen Plan aus: einen Ritualmordprozess heraufzubeschwören, um dann im Zusammenhang mit der gerichtlichen Untersuchung eine energische Agitation unter der Losung: „Die Juden sind Mörder von Christen“ zu beginnen. So wurde der ungeheuerliche Prozess von Tisza-Eszlar geschaffen, der Ungarn im Laufe von fast zwei Jahren in Atem hielt.


Am 1. April 1882 verschwand im Dorfe Tisza-Eszlar, das in der Nachbarschaft des Gutes des antisemitischen Führers Onody lag, das vierzehnjährige christliche Dienstmädchen Esther Solymossi, das von seiner Herrin zum Einkauf geschickt worden war. Die Suche nach der Verschwundenen war ergebnislos und man begann in dem Dorfe, wo kurz vorher eine antisemitische Agitation betrieben worden war, auf der Stelle von einem Ritualmord zu sprechen. Das Gerücht wurde dadurch verstärkt, dass das verschwundene Mädchen an der Synagoge vorbeigehen musste, wo an diesem Tage der Diener (Schames) Josef Scharf und eine Anzahl von Besuchern versammelt waren, um einen neuen Gemeindeschächter zu wählen. Man behauptete, das Mädchen sei in die Synagoge gelockt, 24 Stunden im Keller gehalten, dann aber geschlachtet worden und das Blut sei zum Gebrauch für die Mazzos abgezapft worden. Unter dem Einfluss dieser Legende lenkten die Ortsbehörden die Untersuchung auf die Synagoge. Zwei Monate nach dem Verschwinden des Mädchens wurde in dem Fluss eine Leiche, angekleidet, mit einem bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Gesicht, aber ohne jedes Merkmal eines gewaltsamen Todes, kurz die typische Leiche einer Ertrunkenen, aufgefunden. Wäre nun festgestellt worden, dass es die Leiche von Esther Solymossi war, so wäre der Verdacht des Ritualmordes gänzlich weggefallen. Allein ein solches Resultat entsprach den Interessen jener nicht, die diese ganze Angelegenheit angezettelt hatten. Und nun wurde ein neues Gerücht ausgestreut, die Ertrunkene habe mit dem verschwundenen Mädchen nichts zu tun, die Juden hätten eine fremde Leiche in den Fluss geworfen, die sie aus dem Spital geholt und in Solymossis Kleid gehüllt hätten, um von sich den Verdacht abzulenken. Die von der Polizei verhafteten und „mit Voreingenommenheit“ verhörten Fischer, die die Leiche gefunden hatten, machten in ihrem wenig verständlichen fremden Dialekt verwirrte Aussagen, was in einem für den Untersuchungsrichter erwünschten Sinn ausgelegt wurde: nämlich dass die Fischer die Leiche von den Juden bekommen hätten (später vor dem Gericht lehnten die Fischer diese Aussage als durch Drohungen und Schläge erzwungen ab). Der Ortsarzt fand ferner, dass die Ertrunkene über vierzehn Jahre alt sei, und die Mutter der Solymossi erkannte die Leiche, deren Gesichtszüge freilich durch das lange Liegen im Wasser vollkommen entstellt waren, nicht als ihre Tochter an.

In der von wilden Gerüchten durchschwirrten Luft begannen auch Kinder unter dem Einfluss der allgemeinen Psychose zu auszusagen. Christliche Knaben, die mit dem sechsjährigen Sohn des Schames Josef Scharf spielten, gaben an, von ihm gehört zu haben, dass sein Vater ein Mädchen geschlachtet hätte. Der Knabe wurde verhört und sagte aus, er hätte es von seinem älteren Bruder, dem vierzehnjährigen Moritz gehört. Der vom Untersuchungsrichter verhörte Moritz Scharf erklärte, er kenne nur die ausgestreuten Gerüchte und habe aus diesem Anlass den kleinen Bruder verspottet. Diese wahrheitsgemäße Erklärung des Knaben wurde schief ausgelegt und er mit seinen Eltern wurden verhaftet und in Einzelzellen gesetzt. Im Gefängnis, unter der Einwirkung der neuen Umgebung und der psychischen Suggestion seitens der Verhörer, entgleiste die Phantasie des Knaben und er machte dem Untersuchungsrichter Aussagen, die er dann, zu spät, wiederrief, — nämlich dass er durch eine Ritze in der Tür der Synagoge gesehen hätte, wie sein Vater und drei zugereiste Schächter das Mädchen geschlachtet und das Blut in ein Gefäß abgezapft hätten. Laut dieser Aussage wurden die drei Angeschuldigten und noch eine Anzahl von Synagogenbesuchern, ingesamt mit den früher verhafteten fünfzehn Personen, verhaftet. Der junge Moritz wurde nach der nachbarlichen Kreisstadt Nyregyhaza überführt und in dem Hause des Kreishauptmanns untergebracht, wo ihm allerhand Kostbarkeiten versprochen wurden, falls er zum Christentum überginge. Von reichen Christen trafen beträchtliche Geldspenden und Geschenke für den jüdischen Knaben ein, der den Feinden seines Volkes einen so wichtigen Dienst geleistet hatte. —

Die Untersuchung zog sich in die Länge. Unterdessen wurde im Lande eine wütende Agitation betrieben. Während des ganzen Sommers 1882 hörten die Zeitungen nicht auf, von dem furchtbaren Drama von Tisza-Eszlar zu sprechen. In ihrer Presse und in Volksversammlungen sprachen die Antisemiten in einer Weise, dass das Volk darauf nicht anders als mit Judenpogromen reagieren konnte. Zuerst begannen Überfälle auf Juden in kleinen Städten, dann aber kam es zu richtigen Pogromen nach dem von Istoczy empfohlenen Muster. In Pressburg, dem alten Zentrum des ungarischen Judentums, wütete die von den Antisemiten aufgehetzte Menge zwei Tage (28. und 29. September 1882). Mit Rufen „Es lebe Istoczy, Onody, Simony!“ bewegte sich die Menge durch die Straßen, warf die Fenster in jüdischen Häusern und Geschäften ein, drang stellenweise ein und plünderte. Die Polizei vertrieb die Rotte, konnte aber mit ihr in allen Stadtteilen nicht fertig werden und erst die angekommenen Truppen schafften wieder Ordnung. Bald wiederholten sich die Pogrome in anderen Teilen des Pressburger Komitats. Darauf verhängte die Regierung über das ganze Komitat den Belagerungszustand und drohte den Pogromisten und deren Anstiftern grausame Strafen an. Die Antisemiten, die Anstifter, interpellierten darüber die Regierung im Parlament und bekamen vom Ministerpräsidenten Tisza die entschlossene Antwort: „Solange ich auf diesem Platz stehe, werde ich die persönliche Sicherheit nicht der Herren Räuber, Mörder und Brandstifter, sondern der anständigen Bürger schützen.“ Onody und Simony begannen wieder von der „Herrschaft der Juden“ und von der Affaire von Tisza-Eszlar zu sprechen und verlangten Repressionen gegen die „schädliche Rasse“. Tisza aber erwiderte, er beabsichtige nicht, die düsteren Überlieferungen des Absolutismus wieder zu erwecken, als die Juden bedrückt und verfolgt worden waren, sondern werde die Gleichberechtigung der Bürger streng beschützen.

Drei Wochen vor dem Pogrom in Pressburg hatten die Antisemiten noch ein Mittel angewandt, um auf die Öffentlichkeit und das Gericht, das damals vor der Verhandlung der Tisza-Eszlarschen Angelegenheit stand, einzuwirken. Sie sandten ihre Delegierten zum Dresdner Antisemiten-Kongress (§ 108), um dort die erwünschte Resolution über den Gerichtsprozess, der ganz Europa interessierte, durchzusetzen. Onody brachte mit sich das Porträt von Esther Solymossi, das über dem Vorstandstisch als Symbol angebracht wurde, und versetzte die Versammlung in Ekstase mit seiner Rede über die Tisza-EszlarAffaire: „Diese Angelegenheit geht die ganze Welt an. Das Messer des Schächters traf die ganze Menschheit ins Herz.“ Der Kongress fasste einen Beschluss, in dem das „Vertrauen zur Objektivität des ungarischen Gerichts in einer Angelegenheit, die die ganze nichtjüdische Welt aufmerksam verfolgt“, ausgesprochen wurde. —

Einige Monate darauf unternahmen die Antisemiten einen neuen Versuch, auf das Parlament einzuwirken. Auf ihr Betreiben sandte eine Gruppe christlicher Einwohner des Kreises von Topolcz, dem das Dorf Tisza-Eszlar angehörte, dem Parlament eine Petition, in der die Revision des Gesetzes über die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden verlangt wurde. Diese Petition wurde mit anderen ähnlichen Erklärungen aus antisemitischen Kreisen in einer Sonderkommission geprüft, die sie als verfassungswidrig ablehnte. Im Plenum des Parlaments entstanden aus diesem Anlass im Januar 1883 heiße Debatten. Istoczy und seine Genossen hielten die üblichen Brandreden von der „Eroberung Ungarns durch die Juden“. Ihnen wurde von den Liberalen, besonders von dem Schriftsteller Moritz Jokai eifrig widersprochen, der daran erinnerte, dass er im Jahre 1848 gemeinsam mit jüdischen Patrioten vielmehr für die Unabhängigkeit Ungarns gefochten hätte. Der Ministerpräsident Tisza sprach sich abermals gegen den reaktionären Versuch der Antisemiten aus, und die Petition wurde abgelehnt. Die Folge davon war, dass die Partei der ungarischen Unabhängigkeit aus ihrer Mitte die antisemitischen Deputierten, die die Petition unterstützt hatten, ausschloss. Die Antisemiten, die bis dahin auf der linken Seite des Parlaments saßen, setzten sich nunmehr nach rechts und bildeten ihre eigene Fraktion, die sich immer mehr ihren natürlichen Bundesgenossen — den Klerikalen — anschloss. —

Auch die von den Antisemiten in den Ausgang des Tisza-Eszlar-Prozesses gesetzten Hoffnungen scheiterten. Die offensichtlich voreingenommene Voruntersuchung durch die Ortsbehörden, die im Hinblick auf die Ritualmordbeschuldigung geführt worden war, wurde von dem Staatsanwalt des Gerichtskreises, der die Sache objektiv betrachtete, nicht gutgeheißen. Die Untersuchung wurde wieder aufgenommen und die Sache zog sich bis zum Sommer 1883 hin. Sie kam vor das Kreisgericht der Stadt Nyregyhaza und wurde sechs Wochen lang (19. Juni bis 3. August) verhandelt. Das Gericht deckte alle Fehler der Voruntersuchung auf. Schon in der Anklage musste nunmehr das religiöse Motiv des Verbrechens gänzlich ausgeschaltet werden; alle Bemühungen der von den Antisemiten gestellten Falschzeugen vermochten den gesunden Menschenverstand der Richter nicht zu verdunkeln. Der Hauptzeuge, richtiger das Opfer der Ankläger — der junge Moritz Scharf, der auch vor Gericht gegen den eigenen Vater aussagte — verwirrte sich in den ihm suggerierten Aussagen dermaßen, dass sie für die Richter jeden Wert verloren; die gerichtliche Augenscheinnahme der Synagoge ergab, dass man durch die Türritze oder die Schlossspalte unmöglich all das sehen konnte, wovon der Zeuge erzählte. Die Sachverständigen bewiesen, dass der im Fluss aufgefundene Leichnam dem Alter der Esther Solymossi entsprach. Die Verteidigung der Angeklagten lag in den Händen der besten Anwälte Ungarns, von Juden und Christen: Karl Eotvös, Friedmann, Heimann und anderer. Die überzeugendste Rede gegen die Ritualmordanklage hielt der Staatsanwalt, der den ganzen Prozess als „organisierten Überfall auf die Juden“ kennzeichnete. Die Rede des Privatklägers, des Antisemiten Salay, atmete hingegen kirchlichen Fanatismus: er verlangte Rache an den Juden im Namen Christi, „der von den Juden gekreuzigt worden war und heute im Symbol von Ritualmorden gekreuzigt wird“. „Das unschuldig vergossene christliche Blut“, rief er aus, „zog die Aufmerksamkeit des Gekreuzigten auf sich und Er befahl dem Sohn gegen den eigenen Vater auszusagen.“ Einer der Verteidiger sagte aus diesem Anlass: „Die Gespenster der vergangenen düsteren Jahrhunderte sind in die Ideen des neunzehnten Jahrhunderts eingedrungen. Vor uns stehen die furchtbaren Gespenster des religiösen Fanatismus wieder auf: die Bartholomäusnacht und die Hexenprozesse.“ Eotvös sagte in seiner glänzenden Rede, dass die Ritualmordbeschuldigung die Ankläger, nicht die Angeklagten mit Schande bedecke. Er erinnerte daran, dass gegen die Verleumdung von Tisza-Eszlar solche Männer protestierten, wie Victor Hugo, Renan und der Nationalheld von Ungarn — Ludwig Kossuth. Die Voruntersuchung, die unter dem Druck der Antisemiten geleitet wurde, nannte Eotvös die „Schande der ungarischen Justiz“, denn „einen Knaben zum Zeugen gegen den eigenen Vater abzurichten, ist der empörendste Missbrauch, der unter dem Gewande einer formellen Kriminaluntersuchung begangen werden kann.“ Der Verteidiger wies darauf hin, dass der ungarische Antisemitismus fremden Ursprungs sei: „Er würde zu uns aus fremden Ländern — aus Deutschland und aus Russland — importiert.“ Das Gericht sprach alle fünfzehn Angeklagten frei. Der junge Moritz Scharf, aus der antisemitischen Gefangenschaft befreit und dem elterlichen Haus zurückgegeben, kam zu sich und erzählte mit tiefer Reue von dem physischen und seelischen Druck, unter dem er die ihm suggerierten Aussagen gemacht hatte.

Wütend über das Scheitern ihres teuflischen Planes, versuchten die Antisemiten alle möglichen Mittel, bezichtigten das Gericht der Bestechung durch die Juden, drohten mit der Selbsthilfe des Volkes und versuchten stellenweise sogar Pogrome heraufzubeschwören. Aus kleinen Städten und Dörfern, wo die Polizei gegen die wild gewordene Menge ohnmächtig war, flüchteten die Juden in die Großstädte der Nachbarschaft, unter den Schutz der Truppen. Aber die Zentralregierung machte bald dieser Unruhe ein Ende. Tisza versandte ein Rundschreiben, in dem er die Unterdrückung jeglichen Pogromversuchs sogleich im Keime verlangte. Gegen den Antisemitismus traten mit Sendschreiben auch die höchsten Würdenträger der ungarischen katholischen und reformierten Kirche auf. Der Kaiser und König von Ungarn Franz Josef selbst verurteilte schroff die Ausschreitungen der ungarischen Antisemiten. Nach und nach verschwand das Gespenst der blutigen Beschuldigung und die Pogrompanik, und die Juden atmeten freier auf.

Der kämpferische Antisemitismus schien sich in der Tisza-Eszlarschen-Affaire, in den zweijährigen angespannten Bemühungen, einen Kreuzzug gegen die ungarischen Juden hervorzurufen, erschöpft zu haben. Von der Mitte der achtziger Jahre an nimmt er an Stärke ab, 1884, als der Rausch noch nicht vorbei war, gelang es den Antisemiten allerdings, in das Parlament siebzehn Abgeordnete zu entsenden. Aber bei jeder neuen Wahl verringerte sich ihre Zahl, und auch der frühere Schwung gab sich nur selten kund. Die linksstehende „Unabhängigkeits-Partei“, die im Parlament den größten Einfluss hatte, stand fest auf dem Boden der Unantastbarkeit der bürgerlichen Gleichberechtigung, aber sie war auch der Bedingung eingedenk, unter der den Juden die Gleichberechtigung gewährt worden war, und verlangte von ihnen eine vollständige Magyarisierung. In ihrem Manifest während der Wahlen von 1884 verlangte die Partei, die es den Juden erleichtert hatte, aus dem Netz der Tisza-EszlarVerschwörung herauszukommen, von ihnen dafür eine Kompensation: die Juden sollten auf ihre nationalen Eigentümlichkeiten verzichten; ja sie forderte hartnäckig, wie früher, von den Juden einschneidende religiöse Reformen. Die schwachen Elemente des Judentums ließen diese Forderungen auf sich einwirken; die Angst einerseits, eine sklavische Dankbarkeit andererseits trieben viele bis zur äußersten Assimilation. In schnellem Tempo ging auch die offizielle Registrierung der magyarischen Nationalität vor sich: Zehntausende früherer deutschsprachiger Juden standen jetzt in der Rubrik der Ungarisch-sprechenden. Die Ungarn folgten hier der Praxis der Polen in Galizien: sie schätzten die Juden, soweit diese ihnen behilflich waren, eine vorherrschende Nation zu sein. Der Unterschied war nur der, dass die Assimilation im chassidischen Galizien lediglich die Spitzen der jüdischen Gesellschaft ergriff, in Ungarn aber tiefer — in mittlere und untere Volksschichten eindrang. Die in nationaler Beziehung zurückhaltende Kraft verkörperte sich auch in Ungarn in der zahlreichen Partei der Orthodoxen, die zwar nicht so extrem wie in Galizien, aber doch träge genug waren, um der inneren Assimilation Widerstand zu leisten. —

In der ersten Hälfte der neunziger Jahre gelang es den ungarischen Liberalen und Unabhängigen, die Emanzipation der Juden durch die Legalisierung der Gleichberechtigung der jüdischen Religion zu vollenden. 1893 brachte die Regierung Wekerles in das Parlament einen Gesetzentwurf ein, nach dem das Judentum als gleichberechtigt mit dem Katholizismus, dem lutherischen und griechisch-orthodoxen Bekenntnis im Sinne des freien Übertritts von einer Religion zur andern anerkannt wurde, so dass die Ehen zwischen Christen und Juden gesetzlich anerkannt werden sollten, gleichviel nach welchem Ritus sie geschlossen worden sind. Gegen diesen Gesetzentwurf kämpfte die konservativ-klerikale Partei, die die letzten Privilegien des vorherrschenden Katholizismus verteidigte, lange und hartnäckig an. In der Gesellschaft und im Parlament wurde eifrig agitiert. Eine Versammlung der katholischen Bischöfe in Budapest wandte sich mit Petitionen an den Papst Leo XIII., den Kaiser Franz Josef und das ungarische Ministerium und suchte die Unverträglichkeit des Gesetzentwurfs mit der Würde der herrschenden Kirche und deren Lehren über das Ehesakrament nachzuweisen. Klerikale Blätter drohten mit dem Ausbruch des Volkszornes gegen die Juden, falls der „gottlose“ Gesetzentwurf zum Gesetz werden sollte. All das im Zusammenhang mit den Intrigen des Vatikans am Hofe des frommen Franz Josef hemmte lange die Beratung des Entwurfs im Parlament. Als er aber schließlich zur Abstimmung gestellt und fast einstimmig von der Deputiertenkammer angenommen wurde, sträubte sich das Herrenhaus, das Bollwerk der konservativen Würdenträger, gegen seine Annahme. Indem es durch die teilweise Annahme des Entwurfs, in jenem Teile, der Mischehen betraf, der liberalen Regierung eine Konzession machte, lehnte das Herrenhaus jenen Teil ab, der die Gleichberechtigung des Judentums mit des Katholizismus aussprach und einen freien Übertritt zum Judentum zuließ. Auch nachdem der Entwurf im Abgeordnetenhaus erneut angenommen worden war, nahm das Herrenhaus zu ihm abermals eine ablehnende Stellung ein. Dies führte zu einer Ministerkrisis und zur neuen Verzögerung der Angelegenheit. Erst nach zweijährigem Kampf gab das Herrenhaus, in das die Regierung viele neue Mitglieder berufen hatte, nach und nahm den Gesetzentwurf ganz an (1895). Die sittliche Bedeutung dieses Sieges der Gleichberechtigungsidee war für die Juden sehr groß; praktisch bedeutete das neue Gesetz für die Juden die Freiheit der Propaganda ihrer Religion unter Andersgläubigen, die jedoch die Juden, denen ja die Proselytenmacherei fremd war und die keine Missionare hatten, sich gar nicht zunutze machten. Das Gesetz hatte eigentlich nur Bedeutung für gemischte jüdisch-christliche Familien, indem es ihren Mitgliedern in der Wahl der Religion volle Freiheit gewährte und keine fiktiven Musschristen schuf. Das verringerte wohl die religiöse, nicht aber die nationale Assimilation, die nach wie vor in denselben liberalen Kreisen, von denen die Initiative zum neuen Gesetz herrührte, als obligatorisch angesehen wurde. Auf die Idee der nationalen Gleichberechtigung war das neunzehnte Jahrhundert noch nicht gekommen.