§ 113. Das slawische Österreich: Galizien und Böhmen

Ungefähr zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung Österreichs (ohne Ungarn) waren in Galizien und der Bukowina konzentriert, wo sie im Jahre 1890 zirka 850.000 Menschen ausmachten. Hier nahmen die Juden, wie in alter Zeit, eine Mittelstellung zwischen dem Groß- und dem Kleingrundbesitzer, zwischen dem Herrn und dem Bauern ein und bildeten eine Massenschicht der städtischen, Handel und Industrie treibenden Bevölkerung, sowie eine Gruppe kleiner Landwirte, der „Possessoren“ oder Pächter. In politischer Beziehung lässt sich in dieser konstitutionellen Epoche immer mehr die Zwischenstellung der Juden zwischen drei Nationen — den Deutschen, Polen und Ruthenen — fühlen. Im Laufe der Entwicklung des politischen Lebens im Lande mussten die Juden sich klar werden, welcher Nation sie sich anschließen wollten, denn sie selber wurden, wie bereits gesagt, vom österreichischen Gesetz nicht als Nation anerkannt. Die Umgangssprache der galizischen Juden, das Jiddisch oder der deutsch-jüdische Jargon, war nicht in die Zahl der acht landesüblichen Sprachen aufgenommen, die vom Gesetz als Nationalsprachen anerkannt wurden. Die Juden waren also gezwungen, sich bei Volkszählungen als deutsch-sprechend oder polnisch-sprechend einzuschreiben und wurden auf diese Weise vollkommen willkürlich auf fremde Nationen verteilt, während sie in Wirklichkeit in ihrer Masse ein selbständiges Volk blieben.

Ihre oberen Gesellschaftsschichten und die modernisierte Intelligenz, die vor der Emanzipation zu der deutschen Kultur hinneigten, begannen seit den achtziger Jahren sich immer mehr den Polen zu assimilieren. Als vorherrschende sozialpolitische Schicht Galiziens betrieben die Polen überaus eifrig die Polonisierung der Ruthenen einerseits, die der Juden andererseits. Die ersteren, die in Ostgalizien (im Umkreise von Lemberg) die Mehrheit der trägen Landbevölkerung bildeten, ließen sich indessen nur schwer polonisieren; die Juden dagegen, die in den Städten der beiden Teile Galiziens (besonders in dem westlichen, dem Umkreise von Krakau) mit Polen vermischt wohnten, verfielen bald der Polonisierung, indem sie sich der politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeit fügten. Einen kulturellen Charakter hatte dieses Assimilation allerdings nur in geringerem Grade, nämlich bei der Intelligenz; in der Masse aber äußerte sie sich nur statistisch — in der Beizählung zu den Polnisch-sprechenden, also zur polnischen Nationalität, bei Volkszählungen. Für die Polen war aber eben diese Statistik am wichtigsten, denn von dem Anschluss der jüdischen Massen hing der Erwerb von Zehntausenden neuer Stimmen zugunsten der polnischen Kandidaten bei den Wahlen zum Parlament, zum Landtag und zum Stadtrat ab. Unter Beihilfe der Juden konnten die Polen also das politische Übergewicht über die Deutschen und Ruthenen im Lande gewinnen, das sie leidenschaftlich anstrebten. Die Polen duldeten daher nur jene Juden, die ihren politischen oder ökonomischen Interessen dienlich waren, verfolgten hingegen grausam jede Äußerung des nationalen Separatismus und der wirtschaftlichen Konkurrenz seitens der Juden, da sie diese, wie zu Zeiten des alten Polen, als ihre historischen Untertanen betrachteten.


Auf diesem Boden erwuchs zu Beginn der achtziger Jahre die antisemitische Bewegung auch in Galizien. Sie äußerte sich zuerst im galizischen Landtag, wo die Polen den Ton angaben. Hier trat namentlich der polnische Antisemit Merunowicz auf, der eine Broschüre über die jüdische Frage geschrieben hatte: Er schlug dem Sejm vor, den durch die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden dem Lande zugefügten Schaden zu beheben und für die Juden eine Reihe von Beschränkungen gesetzlich festzulegen. Einer derartigen Lösung konnte der Sejm indessen nicht zustimmen, da dies die Revision der Verfassungsgrundsätze Österreichs bedeutet hätte, was außerhalb der Zuständigkeit des Landesparlaments stand. Die Sejmkommission, die Merunowiczs Antrag prüfte, ergänzte ihn aber dahin, dass eine Einschränkung der Rechte der jüdischen Religionsgemeinden erforderlich sei, die aller bürgerlichen und politischen Funktionen, d. h. der letzten Reste der früheren, in einem national-selbständigen Milieu natürlichen Autonomie, beraubt werden sollten. Die jüdischen Landtagsabgeordneten aus dem Kreise der assimilierten „Polen mosaischen Glaubens“, die in den Sejm durch die Gnade polnischer Herren gekommen waren und deren Interessen treu dienten, widersprachen diesem Antrag nicht, da sie am allerwenigsten die Überbleibsel der „jüdischen Abgeschlossenheit“ schätzten. Bei der Beratung der Frage im Plenum wehrten sie sich nur gegen die Beschuldigung, dass die jüdische Gemeinde, den „schädlichen“ Talmudgeboten folgend, der Sitz geheimer Kabalen gegen die Christen wäre. Der Antrag über die Einschränkung der jüdischen Gemeindeautonomie wurde vom Sejm einstimmig, d. h. mit Zustimmung auch der jüdischen Deputierten, angenommen, die mit der von ihnen vertretenen Volksmasse nichts gemeinsam hatten (1882). Die Polen konnten mit einer derartigen Willigkeit sehr zufrieden sein: sie überzeugten sich, dass sie in der Polonisierung des Landes bei den Männern der jüdischen Öffentlichkeit auf keine Hindernisse stoßen würden. Es blieb nur noch der wirtschaftliche Kampf übrig, hier aber wurde das übliche System angewandt: den Juden wurde der Zutritt zu den freien Berufen und öffentlichen Ämtern in jeder Weise erschwert, landwirtschaftliche und städtische Genossenschaften mit dem Zweck der Unterbindung des jüdischen Handels wurden gegründet, kurz alles getan, um die jüdischen Massen auf einem tiefen sozial-ökonomischen Niveau niederzuhalten. Der ruthenische Bauer und der jüdische Händler oder Handwerker in der Stadt sollten, als Vertreter der ,,niederen Rassen“, nur den Interessen der polnischen Nation dienen, die zur Herrschaft im Lande berufen sei.

Vom alten Polen erbte das österreichische Galizien noch ein anderes Werkzeug der Einschüchterung der Judenheit: die der obskuren katholischen und griechisch-orthodoxen Volksmasse, in der die düsteren Überlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts noch lebten, zusagenden Ritualmordprozesse erlebten jetzt ihre Wiederauferstehung. Im März 1882 wurde in einem westgalizischen Dorfe die Leiche des christlichen Mädchens Mnich unweit von dem Hause des dort unter den Bauern lebenden jüdischen Pächters Ritter aufgefunden. Es stellte sich heraus, dass das Mädchen im schwangeren Zustand ermordet worden war, sodass entweder Selbstmord aus Scham oder Mord zur Verheimlichung der Sünde vorliegen konnte. Die an der Unterdrückung der Wahrheit interessierten Personen schoben indessen die Schuld den Juden zu. Die ganze Familie Ritters, mit der übrigens die Tote in Freundschaft gelebt hatte, wurde verhaftet. Gleichzeitig auch der Onkel der Toten, der Pole Stochlinski, der intimer Beziehungen zu seiner Nichte verdächtig war. So wurden zwei Prozesse — ein Ritualmord- und ein Liebesprozess— miteinander verwoben. Stochlinski wälzte die Schuld auf Ritter ab und gestand lediglich seine Gehilfenschaft. Dem Geschworenengericht in Rzeszow wurde eine juristisch sonderbar konstruierte Anklage vorgelegt, in der neben dem intimen Verbrechensmotiv (angebliche Liebschaft Ritters mit der Mnich) auch ein religiöses Motiv figurierte. Das Urteil entsprach dieser ungereimten Anklage vollauf: das Gericht erkannte sowohl Ritter mit seiner Frau als auch Stochlinski schuldig und verurteilte sie zur Todesstrafe. Dieses Urteil wurde von dem Wiener Kassationsgericht aufgehoben; während der neuen Gerichtsverhandlung in Krakau schaltete der Staatsanwalt das Ritualmordmotiv aus und bestand lediglich auf dem Familienmotiv: Ritter hätte angeblich das Mädchen getötet, um seine Liebschaft mit ihr zu verheimlichen. Auch das Krakauer Gericht verurteilte die Angeklagten zum Tode, das Urteil wurde aber erneut mangels von Beweisen kassiert. Die Angelegenheit dauerte vier Jahre; inzwischen verstarb Stochlinski, der wahrscheinlichste Urheber der Mordtat, im Gefängnis und schließlich wurde das Ehepaar Ritter von dem höchsten Gericht in Wien freigesprochen (1886).

Zu Beginn der neunziger Jahre verschärft sich der nationale und wirtschaftliche Kampf in Galizien. Es entbrannte der polnisch-ruthenische Konflikt. Die besser organisierte polnische Minderheit Ostgaliziens bedrückte die politisch und kulturell zurückgebliebene ruthenische Masse, gleichzeitig aber auch die Juden, soweit sie die Polonisierung des Landes auch nur passiv als neutrales Element, störten. Systematisch wurde dieser Kampf von der Zeit ab geführt, als in Galizien die polnische Volkspartei gegründet wurde, die auf ihre Fahne. „Katholizismus und Volkstum“ geschrieben hatte. Im Lande der drei Nationalitäten und drei Konfessionen war es ein, Appell an die Wiederbelebung des alten polnisch-ukrainisch-jüdischen Kampfes mit Hilfe neuer politischer und wirtschaftlicher Methoden. Die Volkspartei setzte es sich zur Aufgabe, sowohl die Ruthenen als auch die Juden aus verschiedenen Gebieten des Wirtschaftslebens zu verdrängen und an ihren Platz die Polen zu stellen. Überall, in den Städten wie auf dem flachen Lande, wurden „landwirtschaftliche Vereine“ gegründet, die dafür sorgen sollten, dass der Grund und Boden und sonstige Erwerbszweige in polnischen Besitz gelangen. Der polnische Bauer, der infolge Armut gezwungen war, sein Land zu verkaufen, erhielt von seinem Verein Geldunterstützung, damit er auf seinem Lande bleiben könne oder es einem andern Polen übergeben solle; andererseits aber wurde der verarmte ruthenische Bauer oder der jüdische Kleinbesitzer von den Mitgliedern der Vereine so drangsaliert, dass sie ihr Land an Polen verkaufen mussten. Um ferner den jüdischen Handel zu unterbinden, richteten die Vereine für ihre Mitglieder Warenlager und Konsumläden (hauptsächlich in Lemberg und Krakau) ein. Die Juden wurden vom Salzgewerbe ferngehalten, das von altersher in ihren Händen lag. Diese ganze tückische Verschwörung der Polonisatoren hätte mit den zusammengeschlossenen Kräften der Juden und Ruthenen abgewehrt werden sollen, aber diese beiden Nationen waren noch politisch unorganisiert und lebten obendrein nicht immer in Frieden miteinander. Noch waren die furchtbaren Überlieferungen der Zeiten der Haidamaki im Gedächtnis lebendig. Die nach Russland tendierende Partei der „Moskaufreunde“ machte aus ihrem Judenhass und ihrem Bestreben, für die einheimischen Juden das russische Pogromregime einzuführen, kein Hehl. Die Ruthenen österreichischer Orientierung und die Ukrainophilen andererseits konnten es den Juden nicht verzeihen, dass diese, wennschon gezwungen oder unbewusst, die polnische Nation stärkten, indem sie sich dieser offiziell beizählten. Für die Polen aber war es leichter, die getrennten Feinde niederzuhalten, und als 1893 in Krakau die Delegierten aller Filialen des landwirtschaftlichen Verbandes zusammenkamen, konnten sie sich mit großen Erfolgen ihres ökonomischen Kampfes brüsten.

Im gleichen Jahre fand in Krakau auch ein „katholischer Kongress“ statt, an dem dieselben „Landwirte“ aus höheren feudal-klerikalen Kreisen teilnahmen. Hier wurde der religiöse Gedanke, der in dem kämpferischen polnischen Nationalismus das Wesentlichste war, in Form der These hervorgehoben: „Die (ruthenische) Orthodoxie und das Judentum sind unsere gefährlichsten Feinde.“ Dieser alten polnischen Losung des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts entsprach vollauf die Erklärung, dass der Kongress die neumodisch antisemitische Agitation nach deutschem Muster nicht gutheißen könne. Der Berichterstatter des Kongresses, Graf Tarnowski, sagte vielmehr mit der Gutmütigkeit des Inquisitors, der die Juden „ohne Blutvergießen“ ausrottet: „Der Antisemitismus ist eine große Sünde, er widerspricht der christlichen Lehre, denn er ist grausam, unmenschlich und erregt die niedrigsten Instinkte. Gegen das Judentum muss mit christlichen Mitteln — mit wirtschaftlichen Maßnahmen — gekämpft werden. Seien wir Patrioten. Ein Katholik, der einem Juden ein Stück Landes verkauft oder verpachtet, untergräbt den Wohlstand unserer Nation.“ Dieses vom Kongress gutgeheißene katholische Boykottgebot wurde mit Hilfe der galizischen Landesverwaltung, die vornehmlich aus Polen bestand, in die Wirklichkeit umgesetzt. — Während also die höhere polnische Gesellschaft die galizischen Juden in politischer und wirtschaftlicher Beziehung mit legalen Mitteln bedrängte, wurde aber in den niederen Klassen die zynischste antisemitische Agitation geführt, die zum Kampf mit den Juden bis einschließlich von Pogromen aufforderte. Solche Aufforderungen hatten besonders während der Hitze der Leidenschaften im Wahlkampfe Erfolg. Während der Wahlkampagne von 1898 stiftete der Kandidat der antisemitischen Volkspartei, der jesuitische Pater Stojalowski die Bauern geradezu zur Misshandlung von Juden an. Es war ein; Fanatiker vom mittelalterlichen Typus, der um so gefährlicher war, als er alle Mittel der modernen Demagogie zur Heranlockung der armen Volksmassen gebrauchte. Die Bauern betrachteten ihn als ihren Beschützer vor der Bedrückung durch die Magnaten, der schlaue Pater aber, der üblichen Taktik der Christlich-Sozialen folgend, lenkte die Unzufriedenheit des Volkes auf die Juden ab und war in Wahrheit ein Verbündeter der klerikalen polnischen Aristokratie, die er nur mit Worten beschimpfte. Nachdem er seine Kandidatur zum Reichsrat im Kreise Sanok in Westgalizien aufgestellt hatte, begann Stojalowski eine wütende Agitation gegen die Juden, die bald auch ihre Früchte trug: in dreißig Dörfern und Flecken dieses Kreises fanden im Juni desselben Jahres antijüdische Pogrome statt. Unter dem dunklen Volke wurde das phantastische Gerücht ausgestreut, der verstorbene Sohn des Kaisers Franz Josefs, Kronprinz Rudolf, lebe in Wahrheit in Amerika und habe von dort befohlen, die Juden zu misshandeln. Erst das verspätete Dazwischentreten des galizischen Statthalters Poninski und der von ihm zum Schutze der Ordnung beorderten Truppen überzeugte die Raufbolde, dass Zügellosigkeit und Plünderung noch nicht vom Gesetze erlaubt sind. Da die Pogrome unter der christlich-sozialen Losung des Kampfes der polnischen Armut gegen die „jüdischen Ausbeuter“ vor sich gingen, beeilten sich die galizischen Sozialdemokraten, zwischen sich und dieser pseudosozialistischen Agitation des Jesuiten Stojalowski einen Trennungsstrich zu ziehen. „Arme Polen werden gegen arme Juden aufgehetzt,“ rief der Führer der polnischen Sozialisten, das Reichsratsmitglied Daszynski auf einer Parteiversammlung in Wien aus. Er wies darauf hin, dass die Juden, die in Galizien 12 v. H. der Gesamtbevölkerung bildeten, 90 v. H. der dortigen Besitzlosen und Armen ausmachten, die letzten Pogrome aber ihre Lage noch verschlimmern würden.

Die aus allen Arbeitsgebieten und von oben und von unten verdrängten Juden verfielen in der Tat einem derartigen Paupeperismus, den kein einziges Land außer Galizien kannte. Von den 700.000 Juden waren hier nicht weniger als eine halbe Million arm, jeder bestimmten Erwerbsquelle bar oder von Wohltätigkeit lebend. Selbst so großzügige philanthropische Einrichtungen, wie der 1891 gegründete „Baron Hirsch-Fonds“, erwiesen sich gegen diese Not machtlos. Die Gründer des Fonds hatten sich zur Aufgabe gesetzt, das Handwerk und den Ackerbau unter diesen Massen proletarisierter jüdischer Händler zu fördern; zu diesem Zweck wurden Fachschulen, Werkstätten und Landfarmen eingerichtet. Aber die polnischen Machthaber des Landes hemmten in jeder Weise die Tätigkeit des Fonds, die die wirtschaftliche Gesundung der Judenheit bezweckte. Nach dem von Wien bestätigten Statut durften Fachschulen für Juden von dem Fonds nur unter der Bedingung errichtet werden, dass der Unterricht in Galizien polnisch und in der Bukowina deutsch sein sollte. Der Zögling der galizischen Fachschule wurde also zuerst polonisiert, wenn er aber, zum Handwerk oder zur Landwirtschaft vorbereitet, seinen Beruf ausüben wollte, stellten sich ihm polnische nationale Organisationen wie die „Landwirtschaftlichen Vereine“ in den Weg. Unter diesen Umständen wuchs der Pauperismus der Juden jahraus jahrein, und als der einzige Ausweg erschien den hungrigen Volksmassen die Auswanderung. Zehntausende jüdischer Auswanderer strömten alljährlich zusammen mit ihren armen Brüdern aus Russland nach Amerika ab. In der fernen Republik jenseits des Ozeans vereinigten sich die brüderlichen Massen wieder, die, infolge der Teilung des alten Polen zwischen den Nachbarstaaten, lange Zeit hindurch durch politische Grenzen voneinander getrennt waren.

In dem andern Teil des slawischen Österreich, in Böhmen und Mähren, war die zwischenvolkliche Lage der Juden ebensowenig normal, besaß aber auch ihre Eigentümlichkeiten. Litten die Juden in Galizien unter dem triumphierenden polnischen Nationalismus, so wurden sie in Böhmen von dem bedrängten tschechischen Nationalismus bedrückt. Die deutsch-tschechischen Zwistigkeiten verwickelten sich nach der Begründung der österreichisch-ungarischen dualistischen Verfassung immer mehr. Die Tschechen beanspruchten für sich den dritten Platz in der Monarchie und eine weitgehende Autonomie. Ihnen wurde indes nur eine dürftige Provinzialselbstverwaltung belassen, und dabei betrieb die deutsche Minderheit in Tschechien ebenso eifrig die Germanisierung des Landes, wie die Polen die Polonisierung Galiziens. Sowohl Tschechen als Deutsche suchten nun die Juden zu sich herüberzuziehen, indem jede der beiden Parteien, gestützt auf das offizielle Merkmal der „Umgangssprache“ (die früher allerdings vornehmlich deutsch war), sich die Juden angliederte. In der Periode 1880 — 1900 wurden im eigentlichen Böhmen zirka 95.000 Juden, in Mähren 45.000 gezählt, was .anderthalb bis zwei V. H. der Gesamtbevölkerung ausmachte. Zuerst hatten die Juden, die nach Sprache und Kultur den Deutschen näherstanden, sich zumeist als deutschsprechend einschreiben lassen und vermehrten dadurch die Scharen der Germanisatoren, wodurch sie die Entrüstung der Tschechen hervorriefen. Nach und nach aber, in dem Maße der Entwicklung des deutschen Antisemitismus und infolge des natürlichen Bedürfnisses, mit der Mehrheit der Bevölkerung ins Einvernehmen zu kommen, verstärkte sich auf jüdischer Seite die Hinneigung zu einem Bündnis mit den Tschechen und so wurden gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts etwa 54 v. H. der Juden im eigentlichen Böhmen in der Rubrik der Tschechisch-Sprechenden geführt; nur in Mähren hatte sich das Übergewicht der „Deutsch-Juden“ (77 v. H.) erhalten.

In einer solchen Übergangszeit, in der Atmosphäre eines leidenschaftlichen Nationalkampfes, war die Lage der Juden zwischen zwei Feuern — die Erbschaft der Assimilationsepoche — nicht leicht. Versteckte Feindschaft, zuweilen aber auch wirtschaftlicher Boykott ließen sich bald von dieser, bald von jener Seite fühlen. In dem Kessel der politischen Leidenschaften kam es zuweilen zu Überfällen auf der Straße. Unter den tschechischen Chauvinisten war ein Lied verbreitet, des Inhalts, dass der Jude und der Deutsche auf dem gleichen Scheiterhaufen verbrennen sollen. In Sachen des Antisemitismus zeigten sich die Tschechen als gute Schüler der Deutschen. Die antisemitischen Pamphlete des Prager Professors Rohling wurden auch in tschechischer Sprache verbreitet. Die Judenheit Böhmens und Mährens aber war gegen diese Bedrängnis von zwei Seiten noch ohnmächtiger als die galizische: in Galizien konnten die Juden dem äußeren Druck wenigstens den passiven Widerstand dichter, kulturell abgesonderter Volksmassen entgegensetzen, die lediglich für den wirtschaftlichen, nicht aber den politischen und kulturellen Druck empfänglich waren; in den tschechischen Provinzen dagegen waren die Juden sowohl in einer bedeutend geringeren Zahl als auch in ihrer Lebensweise weniger abgesondert und litten daher unter dem feindseligen Verhältnis der Umgebung seelisch viel mehr. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts aber spielten sich in Böhmen Ereignisse ab, die das alte jüdische Prag an die längst vergangenen düsteren Zeiten der Religionskämpfe gemahnen konnten.

Im Jahre 1897 erreichte der deutsch-tschechische Konflikt seinen Höhepunkt. Das Ministerium Badeni, das den Tschechen in dei Frage der Gleichberechtigung ihrer Sprache nachgegeben hatte, fiel unter dem Druck der Proteste der Deutschen; die Obstruktion und die Skandale im Reichsrat führten zu dessen Auflösung. In Prag wurde diese Herausforderung mit Pogromen beantwortet, die sowohl gegen Deutsche als auch gegen Juden mit deutschen Namen sich richteten. In den ersten Dezembertagen zertrümmerten die Tschechen die Gebäude der deutschen Universität, des Theaters und anderer öffentlicher Institutionen; bei der Zerstörung von Läden aber machten sie zwischen Deutschen und Juden keinen Unterschied. Von Prag griffen die Pogrome auf böhmische Provinzstädte (Nachod, Melnik u. a.) über, wo auch Überfälle auf Synagogen und jüdische Schulen vorkamen. Dort, wo es keine deutsche Bevölkerung gab, musste die jüdische herhalten. Sie wurde anstatt der deutschen misshandelt. Dies hinderte indessen die antisemitischen Deutschen nicht, dort, wo sie stark waren (wie in Eger), feindliche Demonstrationen sowohl gegen Tschechen als gegen Juden zu veranstalten.

Zwei Jahre vergingen und es schlossen sich die Antisemiten der beiden feindlichen Nationalitäten zu einem gemeinsamen Feldzug gegen die Juden zusammen auf der Grundlage eines Ritualmordprozesses, ohne den damals keine anständige antisemitische Bewegung auskam. Im Frühling 1899 — der Saison ritueller Beschuldigungen — wurde in der Nähe des tschechischen Städtchens Polna im Walde die Leiche eines tschechischen Mädchens, der Näherin Agnes Hruza, mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Als verdächtig wurde der junge Jude Leopold Hilsner, ein einfacher Mann von zweifelhafter Moral, verhaftet und nur deswegen dem Gericht übergeben, weil einige Zeugen ihn am Tage der Mordtat außerhalb der Stadt am Rande des Waldes mit noch zwei unentdeckten^ Juden gesehen hatten. Der Angeklagte bestritt hartnäckig jede Schuld und dem Gericht gelang es nicht einmal, festzustellen, ob Geschlechtsaffekt oder Rache das Motiv des Verbrechens war. Aber bereits vor der Gerichtsverhandlung hatten deutsche und tschechische antisemitische Blätter im ganzen Lande verkündet, hier sei ein kollektives Ritual verbrechen verübt worden. Der wütende tschechische Antisemit Dr. Baxa trat vor dem Gericht als Privatkläger auf und erklärte geradezu, das Vorkommnis in Polna bestätige die Existenz einer „jüdischen Gemeinschaft, die unsere christlichen Mitbürger tötet, um ihr Blut zu gebrauchen“. Der Anwalt des Angeklagten erwiderte: „Nur die schamlose Agitation der antisemitischen Presse hat Schuld daran, dass Hilsner auf der Anklagebank sitzt: dank dieser Agitation ist Anklage erhoben trotz des Mangels jeglicher Beweise gegen Hilsner, nur weil er ein Jude ist.“ Das Gericht von Kuttenberg sprach Hilsner des Mordes unter Beihilfe noch einiger Personen schuldig und verurteilte ihn zum Tode durch den Strang (September 1899). Die Antisemiten frohlockten: in ihren Flugblättern und Broschüren verkündeten sie, dass die Ritualverbrechen der Juden bereits vor Gericht erwiesen seien, obwohl das Gerichtserkenntnis in Wirklichkeit gar kein religiöses Motiv des Verbrechens nannte.

Die dunkle Masse schenkte aber der Propaganda Glauben und nun ergoss sich eine neue Welle antijüdischer Pogrome über Prag, Polna, Holleschau und andere Orte.

Gegen das von den Antisemiten inspirierte Gerichtsurteil trat indessen einer der besten böhmischen Politiker, der Prager Professor Masaryk, mit einem Protest auf. In seiner Broschüre „Die Notwendigkeit der Revision des Polnaer Prozesses“ gelangte er auf Grund einer eingehenden Analyse der Angelegenheit zu dem Ergebnis, dass unter dem Einfluss der aufgeregten Leidenschaften der Öffentlichkeit ein furchtbarer Justizirrtum begangen sei. Mit der gegenwärtigen Analyse des Prozesses, sagt Masaryk, will ich nach Kräften die Schande unserer Journalistik gutmachen, die durch eine verlogene und herausfordernde Berichterstattung über die Dreyfußangelegenheit ( — in den Jahren 1898 und 99 waren die Zeitungen der ganzen Welt bekanntlich mit Berichten über diese Angelegenheit voll, die die französischen Antisemiten heraufbeschworen hatten — ) eine eigene tschechisch-österreichische Dreyfußjade vorbereitet hat. In Wahrheit spielte sich der ganze Polnaer Prozess unter dem schweren Druck des Antisemitismus mit dessen sinnlosem Glauben an den Ritualmord ab. — Die der Wahrheit zur Ehre geschriebene Broschüre wurde von den Behörden konfisziert, erlangte aber auf anderem Wege Verbreitung. Als im Reichsrat nach der Interpellation der jüdischen Deputierten beim Justizminister über den Polnaer Prozess debattiert wurde, benutzte der demokratische Deputierte Kronawetter diese Gelegenheit, um von der Tribüne herab die ganze Broschüre von Masaryk vorzulesen, die also als Parlamentsbericht in den Zeitungen zensurfrei abgedruckt werden konnte. Masaryk selbst wurde wegen Beleidigung des Gerichts zur Verantwortung gezogen; die durch die antisemitische Lüge vergifteten tschechischen Studenten veranstalteten feindliche Kundgebungen gegen den mannhaften Professor. Andererseits wurden in Wien, Prag und anderen Städten Protestmeetings gegen die neue Dreyfußaffaire abgehalten, mit der, gleich ihrem französischen Vorbild, die Schändung des gesamten jüdischen Volkes bezweckt worden war.

Tragische Töne wurden in Prag in der Versammlung der „Gesellschaft der tschechisch-jüdischen Einigung“ hörbar, die von der jüdischen Intelligenz zum Zweck der Annäherung an die Tschechen gegründet worden war. Das Mitglied der Gesellschaft Dr. Reiner, stellte das Scheitern dieses Ideals fest: „Wir sind einsam,“ rief der reuige Assimilant aus. „Die Brücke, die uns mit der jüdischen Masse verband, existiert schon lange nicht mehr, die Tschechen aber drehen uns den Rücken zu. Alle unsere tschechisch-jüdischen Vereine müssen geschlossen werden. Über zwanzig Jahre existiert unser Studentenverein, fünf Jahre unsere ,Tschechisch-jüdische Vereinigung', vier Jahre der Politische Verband. Was haben wir aber durch all das erreicht? Welche Resultate haben wir durch die Assimilation auf wirtschaftlichem, gesellschaftlichem und politischem Gebiete erlangt? Auf wirtschaftlichem Gebiete wird von den Tschechen das Prinzip verkündet: ,Jeder zu den Seinigen' (svuj k svemu) und die Parole: ,Kauft nur bei Christen'. Die politische Assimilation aber führte dazu, dass man uns als Fremde, Angehörige einer anderen Rasse, einer fremden Nationalität betrachtet. Mit den Deutschen wollen wir nicht gehen, mit den Tschechen können wir nicht.“ —

Die Hilsner-Affaire hatte noch einen langen Epilog. Auf Beschwerde des Anwalts des Verurteilten hob das Wiener Kassationsgericht das Urteil des Gerichts von Kuttenberg auf, da die Prager medizinische Fakultät sich gegen dessen medizinische Expertise ausgesprochen hatte. Die Angelegenheit kam zur abermaligen Gerichtsverhandlung in Pisek (Oktober bis Dezember 1900) wieder unter antisemitischem Drucke, und abermals wurde Hilsner zum Tode verurteilt, obwohl das religiöse Motiv des Verbrechens vom Staatsanwalt als „sinnloses Märchen“ abgelehnt wurde. Kaiser Franz Josef, dem ein Gnadengesuch eingereicht wurde, begnadigte den Verurteilten zu lebenslänglichem Kerker (1901). — So zahlte also auch Böhmen seinen Tribut dem Gespenst des Mittelalters, das sich auf der Grenze zweier Jahrhunderte der „höchsten Kultur“ wie ein düsterer Schatten aufrichtete.