§ 112. Die Antisemiten im Wiener Gemeinderat. Der Meyer-Prozess

Die österreichische Regierung, an deren Spitze lange Jahre der Graf Taaffe stand (1879 — 93), förderte die antisemitische Bewegung weder offen noch geheim, wirkte ihr vielmehr entgegen, indem sie die Staatsanwaltschaft anhielt, die frechsten Anstifter vor Gericht zu ziehen. Eine Regierung, die zwischen verschiedenen nationalpolitischen Strömungen balancieren musste, konnte natürlich keinen systematischen Kampf mit den verschiedenen Abarten des Antisemitismus führen; dennoch war die österreichische Judenpolitik jedenfalls ehrlicher als die preußische. Obwohl von konservativen Würdenträgern umgeben, verfiel Kaiser Franz Joseph antisemitischen Einflüssen nicht: an der neuen Bewegung stieß ihn nicht so sehr der Judenhass als die niedrige Demagogie und Anfachung der Leidenschaften der Masse ab, und wiederholt äußerte er sein Missvergnügen über die antisemitischen Skandale im Parlament und Gemeinderat. Einst verließ der Kaiser sogar ostentativ das Theater, als dort antijüdische Couplets angestimmt wurden. Jüdischen Abordnungen, die ihm an verschiedenen Orten vorgestellt wurden, erklärte der Kaiser stets seinen festen Entschluss, die Bürgerrechte der Juden zu schützen. Daher genoss Franz Joseph stets Popularität bei jenen jüdischen Massen, in denen an dem Monarchen vor allem die „Herzensgüte“ geschätzt wurde. Die Stellungnahme des Kaisers und seiner Regierung zum Antisemitismus zügelte einigermaßen die Anhänger dieser Bewegung, konnte letztere aber natürlicherweise nicht zum Stillstand bringen.

Die Agitation hatte ihre Früchte getragen. Die Reichsratswahlen von 1884 waren von einem leidenschaftlichen Kampf zwischen Antisemiten und Liberalen begleitet. Einige Antisemiten, darunter der wütende Judenhasser Patai, Rohlings Verteidiger im erwähnten Prozess gegen Bloch, kamen ins Parlament. 1891 gelang es den Antisemiten, dreizehn ihrer Mitglieder in den Reichsrat zu bringen. An ihrer Spitze, standen Schönerer, Patai, Fürst Liechtenstein und Schneider. Dieselben Personen waren zumeist Abgeordnete des niederösterreichischen Landtags, also Lenker der Schicksale des wichtigsten Teils Deutsch-Österreichs. In diesem Landtag mit seiner reaktionären Mehrheit machte sich der zügelloseste Antisemitismus breit: judenhetzerische Ansprachen von Rednern wie Schneider oder Gregorig überschritten alle Grenzen des parlamentarischen Anstands. In dieser Gesellschaft politischer Raufbolde tat sich besonders Karl Lueger hervor, der bald zum anerkannten Führer der deutschösterreichischen und insbesondere der Wiener Antisemiten wurde. Mitglied des Reichsrats, des Landtags und des Wiener Gemeinderats, zog er überall die Aufmerksamkeit auf sich durch seine schroffen Ausfälle gegen das Judentum, die Liberalen und die Großbourgeoisie — verschiedenartige Gruppen also, die er aber absichtlich in einen Topf warf, um sie in den Augen des Kleinbürgertums, der Stütze des Antisemitismus, zu kompromittieren. In diese Kreise des Wiener Kleinbürgertums pflanzte Lueger antisemitische Ideen unter dem Deckmantel des „christlichen Sozialismus“ ein. Ein Lieblingsredner der Wiener Masse, erwarb er besondere Volkstümlichkeit als Kommunalpolitiker. Anfang der neunziger Jahre erlangten die Antisemiten unter dem Namen „Christlich-Soziale“ fünfunddreißig Plätze im Wiener Gemeinderat. Diese Armee Luegers erfüllte die Sitzungen des Gemeinderats mit Lärm und Skandal, die oft auf die Straße übergriffen. Zügellosigkeit bemächtigte sich der Straßenmenge, der Kneipengäste, der nationaldeutschen Studentenschaft, die die jüdischen Kollegen und ihre christlichen Freunde provozierte. Ihren vollen Triumph in der Stadtverwaltung erreichten die Antisemiten im Jahre 1895. Bei den Septemberwahlen dieses Jahres hatten sie sich mit den deutschen Nationalisten koaliert und kamen in den Gemeinderat in einer solchen Zahl, dass sie mit ihren Verbündeten die Majorität bildeten. Diese Majorität wählte Lueger zum Wiener Bürgermeister. Die Antisemiten frohlockten: ihr Führer wurde ja erster Stadtbürger, Herr der Hauptstadt und konnte mit den Juden machen, was er wolle. Allein die Freude wurde ihnen bald vergällt. Der Kaiser weigerte sich, das Haupt der Skandalpartei in seinem ehrenvollen Amt zu bestätigen. Die dadurch gereizte antisemitische Reichsratsfraktion interpellierte die Regierung über die Motive der Nichtbestätigung der Wahl. Darauf gab der Ministerpräsident Graf Badeni eine vollkommen objektive und richtige Antwort: Die Regierung müsse sich überzeugen, dass die Verwaltung der Hauptstadt, die eine Bevölkerung von über eine Million Menschen hat, nicht in die Hände Unberufener gerate. Nach der Überzeugung der Regierung könne man sich dem Mehrheitsbeschlüsse dort nicht anschließen, wo gar keine Garantie vorhanden ist, dass die Stadtverwaltung leidenschaftslos, sachlich, ohne jede agitatorische Tendenz, auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller Bürger geleitet wird.


Aber Versuche zu machen und Hoffnungen in Menschen zu setzen, die sie durch ihre Vergangenheit nicht rechtfertigen, hielte sich die Regierung nicht für berechtigt. Aus diesem Grunde habe sie Seiner Majestät empfohlen, der Wahl von Lueger die Sanktion zu verweigern. Trotz der Proteste und der Ströme von Schimpfreden seitens der Antisemiten erkannte die Mehrheit des Reichsrats die Erklärungen der Regierung als befriedigend an (am 8. November), Einige Tage darauf wurde Lueger von der antisemitischen Stadtverordnetenversammlung demonstrativ wieder zum Bürgermeister gewählt; als Antwort auf diese Demonstration verlautbarte aber der Regierungskommissar auf der Stelle den Befehl des Statthalters von Niederösterreich, den Wiener Gemeinderat aufzulösen. Die Skandalmacher traten auf die Straße, versammelten eine Menge und veranstalteten vor der Hofburg eine feindliche Kundgebung mit den Rufen: „Hoch Lueger, nieder mit Badeni!“

Die im März 1896 stattgefundenen Wahlen für den Wiener Gemeinderat ergaben wieder eine Mehrheit von Antisemiten und deren Bundesgenossen, und Lueger wurde zum drittenmal zum Bürgermeister gewählt. Jetzt mussten beide Seiten — die Stadtvertretung und die Regierung — ein Kompromiss eingehen, um aus der prekären Lage herauszukommen. Lueger ließ sich dem Kaiser persönlich vorstellen und das Ergebnis dieser Audienz war die folgende diplomatische Entscheidung: Lueger solle provisorisch auf das Amt des Bürgermeisters verzichten, damit der Gemeinderat einen andern an seiner Stelle aus derselben Mehrheit der Stadtverordneten wählen könne; der Kaiser würde den neuen Kandidaten bestätigen, der in Wahrheit Luegers Strohmann war, im Laufe der Zeit aber solle auch Lueger selbst wiedergewählt und bestätigt werden können. Dieses Possenspiel wurde denn auch inszeniert. Als Bürgermeister wurde der antisemitische Buchhändler Strohbach gewählt und bestätigt, Lueger aber zum Vizebürgermeister gewählt. In Wahrheit wurde Lueger das Stadthaupt, Strohbach aber nur sein Strohmann, was den Wienern Anlass zu entsprechenden Wortwitzen gab. Bald aber wurde auch der Strohmann überflüssig. Als 1897 Lueger zum Bürgermeister wiedergewählt wurde, wurde er schon vorbehaltlos bestätigt.

Der neue antisemitische Magistrat zeigte bald seine Klauen. Er ließ die Juden zu keinem verantwortlichen Amte in der Stadtverwaltung zu, vergab an jüdische Kaufleute keine Aufträge, behandelte frühere jüdische Angestellte dermaßen, dass diese selbst auf ihre Ämter verzichteten und bedrängte in jeder Weise jüdische Händler, besonders die aus Galizien zugereisten. Jüdischen Gymnasialschülern wurde die wegen Armut nachgesuchte Befreiung vom Schulgeld verweigert. Es wurde sogar der Versuch gemacht, in städtischen Schulen jüdische Kinder von christlichen abzusondern, aber die Regierung vereitelte die Aufrichtung dieses Schulghettos, Die gleichen Repressionen wurden in ganz Niederösterreich durchgeführt, da in dem dortigen Landtag und in der Landesverwaltung dieselben Antisemiten schalteten und walteten. Das Dogma des Antisemitismus — die Verdrängung des Juden aus dem bürgerlichen und wirtschaftlichen Leben — wurde jetzt von der städtischen und der Provinzialverwaltung mit demselben Eifer verwirklicht, mit dem es in vorkonstitutioneller Zeit die reaktionäre Regierung getan hatte. —

1893 kam vor das Wiener Strafgericht eine literarische Angelegenheit, die mit dem oben erwähnten Rohling-Prozess im engen Zusammenhang stand und auf die Machenschaften dieser dunklen Gesellschaft literarischer „Judenschläger“ ein neues Licht warf. Der katholische Pater Deckert, der eine kleine Broschüre über die Existenz von Ritualmorden bei den Juden veröffentlicht hatte und vom Abgeordneten Bloch in der „Österreichischen Wochenschrift“ verspottet worden war, beschloss, sein Recht um jeden Preis zu beweisen. Er rief den dunklen Abenteurer und Renegaten Paul Meyer zu Hilfe, einen polnischen Juden, der sich getauft hatte, um bei den Leipziger christlichen Missionaren ein gut bezahltes Amt zu erhalten, und der seine rabbinischen Kenntnisse, gleich Justus-Briemann, Bestellern aus Rohlings Kreisen für Geld verkaufte. Gegen eine beträchtliche Belohnung gab nun Meyer dem Pater Deckert eine schriftliche Erklärung, in der er versicherte, in seiner Jugend selbst Augenzeuge eines in seiner Geburtsstadt Ostrow (Gouvernement Lublin) von dem dortigen Rabbiner und einigen Gemeindegliedern begangenen Ritualmords gewesen zu sein. Deckert beeilte sich, diesen Brief, in dem die Teilnehmer des angeblichen Ritualmords genannt waren, in dem katholischen „Vaterland“ zu veröffentlichen. Der Pater triumphierte: der Brief machte großen Eindruck als Kundgebung eines Augenzeugen und gewesenen Juden. Bloch und bekannte Wiener jüdische Männer beschlossen darauf, diese Machenschaften zu enthüllen. Sie setzten sich mit den in Meyers Brief genannten Personen in Ostrow in Verbindung und bewogen sie, den Verleumder und dessen Komplizen vors Gericht zu ziehen. Und nun spielte sich während der Verhandlung vor dem Wiener Strafgericht eine Tragikomödie ab. Der Hauptbeschuldigte, Paul Meyer, der auf das Gericht einen abscheulichen Eindruck machte, bestritt jede Urheberschaft an dem Brief und beteuerte, sich niemals für einen Augenzeugen eines Ritualmordes ausgegeben zu haben. Deckert aber, der also der Fälschung bezichtigt wurde, bewies, dass Meyer der tatsächliche Verfasser des Briefes war. Das Gerichtsverhör brachte auch die Machenschaften der beiden Angeklagten an den Tag: der antisemitische Pater hatte den käuflichen Täufling überredet, ihm irgendeine sensationelle Enthüllung aus dem Bereiche der ,,jüdischen Verbrechen“ zu machen und Meyer hatte daraufhin für ihn eine bewusst falsche Erklärung abgegeben, da er ja nicht vermutete, dass sie mit allen darin enthaltenen Namen veröffentlicht würde. Als dann der Brief in der Presse erschien, versuchte Meyer jede Schuld von sich abzuschütteln. Die schmutzige Affäre wurde vor dem Gericht in allen Einzelheiten enthüllt. Die beiden Angeklagten und der Redakteur des „Vaterlandes“ wurden zu Gefängnis und Geldstrafen verurteilt, sowie zur Veröffentlichung dieses Urteils in der Zeitschrift, in der Meyers Brief zuerst abgedruckt worden war, und in größeren Wiener Zeitungen. Das ehrliche Gericht verurteilte also die Inspiratoren des Antisemitismus, allein die Stimme der Wahrheit im Tempel des Themis konnte das Geschrei der zügellosen, von Leidenschaften geleiteten Straße nicht mehr übertönen.

Ein schwaches Gegengift gegen den Antisemitismus stellte der in Wien im Jahre 1891 nach dem Vorbilde von Berlin gegründete „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ dar. An seiner Spitze standen Angehörige verschiedener Parteien und Klassen, vornehmlich Christen: Baron und Baronin von Suttner (die bekannte Pazifistin), der berühmte Mediziner Professor Nothnagel und der nicht weniger bekannte Geologe und Politiker Eduard Sueß, der auf das Universitätsrektorat nach den antisemitischen Studentenskandalen verzichtet hatte. Von Zeit zu Zeit veranstaltete der Verein Versammlungen gegen antisemitische Zuchtlosigkeiten, die besonders im niederösterreichischen Landtage häufig waren. Nothnagel und andere Redner brandmarkten die „Doktrin, die von den niedrigsten Instinkten der menschlichen Natur herrühre“. Die alten Idealisten waren indessen ohnmächtig gegen diese Doktrinen, die eben durch Einwirkung auf die niedrigsten Seiten der menschlichen Natur die Menge an sich zogen. Die Führer der demokratischen und sozialistischen Parteien aber kämpften nur schwach gegen den wachsenden Judenhass an, und am allerwenigsten taten es die Radikalen jüdischer Abstammung, die ihr Volk vergessen hatten. 'Der Demokrat Kronawetter (ein Christ) bekämpfte noch von Zeit zu Zeit von der Reichsratstribüne herab den Antisemitismus, indem er ihn, gleich Bebel, als „Sozialismus der Dummen“ kennzeichnete. Der Führer der österreichischen Sozialdemokraten, der Jude Viktor Adler, dagegen sprach sich sogar auf dem Parteikongress (in Brüssel 1891) gegen die Verurteilung des Antisemitismus durch den Kongress aus. Später enthüllte er unvorsichtigerweise einen der Gründe seines Verhaltens durch die Äußerung: „Der Antisemitismus arbeitet schließlich für uns.“ Dies bedeutete: Möge der Antisemitismus der Dummen sich ruhig entwickeln, da er ja dem Sozialismus der Klugen den Weg bereitet, — eine selbst im Munde eines assimilierten Juden, der die Welt an seine Abstammung zu erinnern sich fürchtet, zynische Erklärung.