§ 111. Deutsch-Österreich. Die Agitation in Wien und der Rohling-Prozess

Die Ursachen der antisemitischen Bewegung waren in Deutschland und Österreich verschieden, ebenso wie die Staatsordnung und die nationale Zusammensetzung dieser beiden Reiche verschieden waren. In Österreich fehlte vor allem das psychologische Motiv der Reaktion — die Berauschung durch das Kriegsglück, und darum fehlte hier auch der Kultus des Militarismus und die krankhafte Überwucherung der Staatsidee, wie es in Deutschland der Fall war. Das in allen äußeren und inneren Kriegen besiegte Österreich erstrebte keine Kriegslorbeeren: die ganze Sorge der dualistischen Monarchie galt nur der Zurückhaltung der zentrifugalen Kräfte ihrer verschiedenen nationalen Bestandteile im Rahmen des staatlichen Verbandes. Ein einheitlicher Staatsnationalismus war hier unmöglich. Während Deutschland es nur mit zwei unbedeutenden fremdstämmigen Bestandteilen — den Polen in Posen und den Juden — zu tun hatte und daher deren Verdeutschung zum Staatsprinzip erheben konnte, besaß das bunte Österreich-Ungarn keine vorherrschende Staatsnation, sondern hatte deren einige in verschiedenen Teilen des Staates. In dem deutschen Österreich betrachteten sich die Deutschen * als souveräne Nation, in Böhmen und Mähren bestritten ihnen die Tschechen diesen Titel, in Galizien herrschten die Polen vor, in dem selbständigen Ungarn aber die Magyaren. Jede dieser großen Nationen bestrebte sich, die in ihrer Mitte wohnenden nationalen Minoritäten aufzunehmen, sie zu assimilieren. In Deutsch-Österreich wurden sie germanisiert, im slawischen Österreich slawisiert, in Ungarn magyarisiert. Am schlimmsten aber hatten es inmitten dieser nationalen Zwistigkeiten die Juden: jede anerkannte nationale Minderheit hatte gegen sich jeweils nur einen einzigen Gegner in der nationalen Mehrheit des betreffenden Gebietes; die Juden aber, denen die Eigenschaft als Nation selbst offiziell bestritten wurde, hatten alle die übrigen, miteinander ringenden Nationalitäten des betreffenden Gebietes, von denen jede verlangte, dass die Juden sie im Kampfe gegen die übrigen unterstützten, zu ihren Gegnern.

Die Zahl der Juden in Österreich-Ungarn war sehr erheblich: 1888 betrug sie im zisleithanischen Österreich über eine Million (1890: 1.143.305), in Ungarn 638.000, was in beiden Teilen der Monarchie durchschnittlich über 4 v. H. der Gesamtbevölkerung ausmachte. In einigen Provinzen aber, wie beispielsweise Galizien und der Bukowina, machten die Juden zirka 12 v. H. der Gesamtbevölkerung, in vielen Städten sogar deren größere Hälfte aus. Bei einem solchen Kräfteverhältnis war der Wetteifer zwischen den Juden und den umgebenden Völkern in gewissen Zweigen des Wirtschaftslebens besonders scharf fühlbar 1). Schon der nationale Antagonismus, der ja in Österreich nicht nur kulturellen, sondern auch politischen Charakter hatte, versetzte die Juden ohnehin in eine solche Lage, dass sie fast überall sich zwischen zwei Feuern befanden. Die Tschechen, die Polen und die Ungarn vermochten es nicht, in ihren Gebieten ruhig zuzusehen, wie die Juden sich den Deutschen assimilierten und dadurch diese ihre Gegner stärkten. Die Deutschen aber entrüsteten sich über die Polonisierung und die Magyarisierung gewisser Gruppen der Judenheit. Inmitten der miteinander kämpfenden Völker waren die Juden einem allseitigen Druck ausgesetzt. Niemand erkannte sie als Nation für sich an, da sie in keiner Provinz die Majorität bildeten, obschon das andere äußere Merkmal der Nationalität, die Sprache, in den bodenständigen jüdischen Massen Galiziens, der Bukowina und teilweise Ungarns allerdings vorhanden war. So kam es, dass jede nationale Mehrheit eines gegebenen Gebietes von den Juden verlangte, dass sie sich ihr beizähle, und Widerspenstige, zu anderen nationalen Gruppen Hinneigende, verfolgte; die kleinen Nationalitäten aber hassten ihrerseits die Juden, die sich der Mehrheit, der Unterdrückerin der kleineren Nationen, anschlossen.


*) Nach ihrem Beruf verteilten sich die Juden in Österreich (ohne Ungarn) gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgendermaßen: die kleinere Hälfte (553.000 von 1.224.000 nach der Volkszählung von 1900) trieb Handel, circa 1/3 (351.000) Industrie (Handwerk und Fabrikproduktion), circa 1/6 (198.000) freie Berufe und Staatsdienst, über 1/10 (139.000) Landwirtschaft. Diese Berufsverteilung war nicht so einseitig wie in Deutschland (§ 110), doch stach sie von der allgemeinen Berufsgliederung scharf ab, weil die Christen in der Landwirtschaft, die Juden aber im Handel überwogen. Dieselben Berufsverhältnisse ungefähr herrschten auch in Ungarn.

Hätte freilich die verhängnisvolle Verirrung des Jahrhunderts die Führer des Judentums nicht gezwungen, auf ihr Recht als Nation zu verzichten, so hätten die Juden ja überall nur um ihre eigene, nicht aber um eine fremde nationale Selbstbestimmung kämpfen können, Schulter an Schulter mit anderen nationalen Gruppen, zwischen denen sie jetzt nur ganz passiv hin und her taumelten, während sie von allen Seiten Püffe erhielten. Eben die zwischenvolkliche Lage der Juden war die Hauptquelle ihrer Leiden in dem buntscheckigen Reich. Dazu kamen kulturelle und soziale Gegensätze in der österreichischen Judenheit selbst, die ja bei weitem schroffer waren als die Gegensätze innerhalb der deutschen Judenheit. Der germanisierte Wiener Jude hatte mit dem stammestreuen und oft primitiven galizischen Chassid nichts gemeinsam; die magyarisierten Reformer Ungarns hatten die Masse der orthodoxen Fanatiker gegen sich. Auch die Extreme des Reichtums und der Armut in der Judenheit waren auffallend: einerseits die Wiener Bankiers und Großkaufleute, andererseits die galizischen Armen, die in den Straßen der schmucken Hauptstadt nicht selten in ihren Fetzen erschienen. Alle diese nationalen und sozial-wirtschaftlichen Konflikte bereiteten den Weg für den Antisemitismus, der in jedem Teile Österreich-Ungarns seine Eigentümlichkeiten hatte und sich von seinem deutschen Prototyp in vielem unterschied.

Dem deutschen Vorbild kam nur der Antisemitismus Deutsch-Österreichs, insbesondere Wiens nahe. In der Hauptstadt war ja das Hauptmotiv des Antisemitismus — der Neid über die sozial-ökonomischen Erfolge der Juden nach der Emanzipation — am meisten fühlbar. Nach der Verfassung von 1867, die die bürgerliche Gleichberechtigung endgültig festgelegt hatte, entfalteten die Juden in den Großstädten ihre bis dahin von der Rechtlosigkeit gefesselten Kräfte und erklommen in kurzer Zeit viele Stufen der sozialen Leiter. Viele von den Intellektuellen taten sich als Beamte, Richter, Lehrer, Professoren, in allen freien Berufen und sogar in der Armee hervor, in der der Zutritt zum Offiziersrang den Juden nicht so erschwert war wie in Preußen. Die Mitarbeit von Juden an der großen Tagespresse war in Wien nicht weniger auffallend als in Berlin. Natürlicherweise zeigte sich die entfesselte Energie aber vor allem im Hauptberuf der jüdischen Massen — im Handel. Kaufleute, die aus der Provinz nach dem für sie bis dahin verschlossenen Wien geströmt kamen, erfüllten die Hauptstadt mit dem Getriebe des Handels, entwickelten eine fieberhafte Tätigkeit in Aktienunternehmen und allen Formen des Gründertums nach dem Vorbild von Berlin. Der Finanzkrach, der fast gleichzeitig sich in beiden Hauptstädten entlud (1873), wurde den Juden aufs Kerbholz geschrieben. Das war eine der Erscheinungen der sozialen Reaktion, die durch die schnellen Erfolge der emanzipierten Juden in Österreichs Hauptstadt hervorgerufen worden war. Der Zustrom der Juden aus dem galizischen „Halb-Asien“ und aus andern Krähwinkeln ärgerte die Wiener, die sich noch an das Privileg der Hauptstadt de non tolerandis judaeis erinnerten *). Viele seufzten diesen glücklichen Zeiten nach, da Kaufleute, Industrielle oder Angehörige der freien Berufe keine jüdische Konkurrenz zu fürchten hatten, die den Verdienst verringerte, die Warenpreise verbilligte.

*) Die Zahl der Juden Wiens verdoppelte sich von 1869 bis 1879; 1880 betrug sie 73.000, 1890 aber stieg sie auf 118.000.

Von der „jüdischen Gefahr“ begann man zuerst im Lager des althergebrachten Judenhasses, nämlich unter den Klerikalen — die auch unter dem neuen Regime einigen Einfluss im katholischen Österreich behielten — zu sprechen. Schon 1871 trat in Prag ein neuer Eisenmenger auf, der Professor der dortigen Universität August Rohling, der in seinem Buch „Der Talmudjude“ das Judentum „entlarvte“. Der alte, längst vergessene Syllogismus wurde in diesem Buche aufgefrischt: Alle verletzenden Äußerungen des Talmuds über Götzendiener bezögen sich auf Christen, die die Juden, den Geboten ihrer Religion zufolge, zu verachten hätten — und deshalb dürften Juden in einem christlichen Staat nicht geduldet werden. Die aus der historischen Rumpelkammer entnommene rostige Waffe der Judenhasser erweckte indessen mehr als archäologisches Interesse. Eine Polemik entbrannte. Rohling wurde des Plagiats an dem „Entlarvten Judentum“ von Eisenmenger beschuldigt, der freilich seinerseits aus zweifelhaften mittelalterlichen Quellen geschöpft hatte; er wurde -ferner der [Verstümmelung von Talmudzitaten und einfach des mangelnden Verständnisses alter Texte überführt. Die Polemik rief indessen nur noch ein größeres Interesse für Rohlings Schmähschrift hervor und das Buch wurde jahraus jahrein neu aufgelegt und in deutscher und tschechischer Sprache durch Agenten des Klerikalismus massenhaft verbreitet. Der triumphierende Rohling hatte dabei die Frechheit, zu erklären, er wäre bereit, jedem tausend Taler zu bezahlen, der die Fehlerhaftigkeit auch nur eines Zitats in seinem Buche nachweisen würde. Er ist seiner Verpflichtung aber auch dann nicht nachgekommen, als Autoritäten der christlichen Theologie die Falschheit vieler seiner Zitate nachgewiesen hatten. Der altehrwürdige protestantische Theologe und bekannte Hebraist Franz Delitzsch aus Leipzig kam bei seiner Kritik des Rohlingschen Buches (1880) zu dem Ergebnis, dass es von Lüge und Verleumdung, fehlerhaften Übersetzungen, verstümmelten Texten, unrichtigen Auslegungen strotze und der Verfasser vom talmudischen Schrifttum nichts verstände. Rohling schwieg. Der Fälscher wurde aber von einer einflussreichen Gruppe von Wiener Klerikalen — den höchsten Vertretern der katholischen Geistlichkeit — und der schwarzen Presse („Wiener Kirchenzeitung“, „Vaterland“ u. a.) unterstützt. Ein wütender Feind der Protestanten und der Juden, war Rohling ein Werkzeug dieser Gruppe von Obskuranten, die sich in Österreich für den vor kurzem in Deutschland nicht ohne Teilnahme jüdischer Männer ausgefochtenen antikatholischen „Kulturkampf“ entschädigen wollten.

Das Erscheinen von antisemitischen Organisationen in Deutschland zu Beginn der achtziger Jahre feuerte die österreichischen Judenhasser an. Wien bemühte sich eifrig, es Berlin gleichzutun. Die aus Deutschland importierte Modeware wurde auf den politischen Markt zuerst von dem deutschen Chauvinisten Georg von Schönerer, Mitglied des österreichischen Reichsrats und Führer der Alldeutschen, getragen. Gleich Stöcker versuchte er zuerst, den Antisemitismus unter dem Deckmantel des „christlichen Sozialismus“ den Arbeitermassen aufzupfropfen; es gelang ihm aber nicht, die Wiener Arbeiter zu täuschen, und so hisste er seine wahre Flagge, die des wütenden deutschen Chauvinisten. In agitatorischen Reden und Aufsätzen (seit 1882 gab er eine kleine Zeitschrift „Unverfälschte deutsche Worte“ heraus) entwickelte Schönerer den Gedanken, dass das Judentum in Österreich das deutsche Element zugunsten anderer Nationen schwäche und daher mit den Slawen und den übrigen Fremdstämmigen als Vaterlandsfeind gelten müsse. Schönerers antisemitische Philippika hatte im Reichsrat, in dem alle Nationalitäten Österreich vertreten waren und das Alldeutschtum als unverwirklichbarer Traum galt, keinen Erfolg. Größere Erfolge ernteten aber demagogische Antisemiten, die unter dem christlichen Kleinbürgertum Wiens — den Händlern, Handwerkern, Gastwirten, Restaurateuren — mit wirtschaftlichen Argumenten agitierten. Antisemitische Vereine, wie der „Verband christlicher Handwerker“ und die „Reformpartei“, wurden gegründet, deren Ziel aber in Wahrheit eine Konterreform — die Abschaffung oder Minderung der Rechte der Juden war. Die Straßenagitation fand bei allen persönlich interessierten oder überhaupt zügellosen Elementen der Wiener Bevölkerung einen Widerhall. Im lustigen Wien wiederholten sich die Berliner Skandale. In den von Juden bevölkerten Stadtvierteln belästigten die Antisemiten jüdische Passanten; deutsche chauvinistische Studenten beleidigten ihre jüdischen Kollegen in den Hochschulen. In den Kneipen, in denen die Antisemiten ihre Versammlungen abzuhalten pflegten, wurden die Juden gebrandmarkt, wobei die Redner sich auf den „gelehrten“ Rohling beriefen und die Phantasie der Menge durch verfälschte Zitate aus jüdischen Religionsbüchern aufreizten.

Im Frühling 1882 hielt einer dieser Agitatoren namens Franz Holubek in der Versammlung des Verbandes christlicher Handwerker unter Schönerers Vorsitz eine Rede. Der Jude, sagte er, ist nicht unser Mitbürger; er ist unser Herr und Unterdrücker geworden. Wisst Ihr, was über Euch im Talmud gesagt ist? Dort heißt es, wir alle (Christen) seien Schweine, Hunde und Esel. Als Holubek wegen Aufhetzung eines Bevölkerungsteils gegen den andern vors Gericht gezogen wurde, brachte sein Anwalt zu seiner Verteidigung ein entsprechendes Zitat aus Rohlings Buch. Holubek selbst erklärte vor dem Gerichte, eine „wissenschaftliche“ Charakteristik des Verhältnisses der Juden zu Andersgläubigen, die sich auf ein so autoritatives Buch wie das Werk des Prager Professors gründe, dürfe nicht als Aufforderung zu Gewalttätigkeiten angesehen werden. Das Gericht ließ diese Argumente auf sich einwirken und sprach Holubek frei. Dieses Urteil war eine direkte Herausforderung der Judenheit, die ja öffentlich einer obligatorischen Christophobie beschuldigt wurde. Am nächsten Tage (den 30. Oktober 1882) erschien in Wiener Zeitungen eine offizielle, von den bekannten gelehrten Rabbinern Güdemann und Jellinek unterschriebene Erklärung, dass die vor dem Gericht aus Rohlings Buch zitierte Stelle sich in Wahrheit im Talmud nicht befinde und dieser überhaupt nichts den Christen Feindliches enthalte. Durch dieses Dementi gereizt, veröffentlichte Rohling in einer Zeitung, dann in einer Sonderbroschüre seine „Antwort an die Rabbiner“, die lauter Beschimpfungen der Wiener Rabbiner enthielt, weil diese die das Judentum kompromittierenden Talmudstellen angeblich verheimlichten. Die Antwort wurde vom Publikum gelesen und wirkte aufreizend. Viele glaubten, dass der Talmud in der Tat den Christenhass vorschreibe. Die mangelnde Zivilcourage der Vertreter der Wiener jüdischen Gemeinde aber konnte ihrerseits solchen falschen Vorstellungen nur Vorschub leisten. Nachdem sie in ihrer Erwiderung darauf hingewiesen hatten, dass der Talmud nichts dem Christentum Feindliches enthalte, hätten nämlich die Rabbiner den Vorbehalt machen müssen, dass sich dies auf Vorschriften des Gesetzes, nicht aber auf die dem andern Glauben feindliche Meinungen bezieht, deren der Talmud natürlich nicht weniger enthält als das Evangelium, die Apostelbriefe und die Schriften der Kirchenväter, die alle voll der schroffsten und verletzendsten Äußerungen über das Judentum sind. Und das Wesen der Verteidigung hätte darin bestehen sollen, dass die Christen kein Recht haben, den Juden jene Äußerungen ihres alten Schrifttums vorzuhalten, die nur ein Widerhall der noch feindseligeren, zuweilen von den Schlägen der Brachialgewalt gegen die Juden noch unterstützten Äußerungen des damaligen kirchlichen Schrifttums sind.

Zu dieser Zeit wurden die beiden Hälften der Habsburger-Monarchie durch die Kunde von einem angeblichen Ritualmord in dem ungarischen Dorf Tisza-Eszlar und den damit verbundenen Gerichtsprozess, in dem der minderjährige Sohn des angeschuldigten Juden gegen seinen Vater ausgesagt hatte, in Erregung versetzt. Aus diesem Anlass entwickelten die Antisemiten im Lande eine wütende Agitation. Rohling trat mit neuen Enthüllungen in einer Broschüre „Die Menschenopfer des Rabbinismus“ auf, in der er die abscheuliche Verleumdung zu begründen suchte. Dieser in einen Zündstoff geworfene Funke hätte eine furchtbare Explosion hervorrufen können. Weiter zu schweigen oder sich lediglich mit Zeitungsdementis zu begnügen, war unmöglich: es tat Not, den verleumderischen Anstifter vor Gericht zu überführen. Dieser Aufgabe nahm, sich einer der wenigen kühnen Männer jenes feigen Geschlechts an, der Abgeordnete des Reichsrats und Rabbiner von Florisdorf (bei Wien), Dr. Joseph Bloch. Ende 1882 und Anfang 1883 veröffentlichte er in der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ eine Folge von Artikeln, in denen er Rohling die gelehrte Maske herunterriss, seine völlige Ignoranz im talmudischen und rabbinischen Schrifttum nachwies und viele Beispiele der von ihm verstümmelten Zitate anführte 1). Bloch erklärte, dass Rohling den Talmud im Original nie gelesen habe und nicht imstande sei, auch nur eine einzige Talmudseite zu übersetzen; gleichzeitig verpflichtete sich Bloch, eine Strafe von 3.000 Gulden zu zahlen, falls Rohling eine beliebig aufgeschlagene Seite im Talmud öffentlich lesen und richtig übersetzen würde. Statt einer direkten Antwort auf diese Herausforderung fuhr Rohling indessen nur fort, das Feuer zu schüren, und erklärte in der Presse, er sei bereit, die Richtigkeit seiner Zitate aus dem rabbinischen Schrifttum, die die Existenz von Ritualmorden bei den Juden bewiesen, mit seinem Eid zu bekräftigen. Darauf beschuldigte Bloch in der Presse Rohling der Bereitschaft zu einem Falscheid, Da durch sollte der Verleumder gezwungen werden, den Beleidiger vor Gericht zu ziehen, und dort wollte man ihm seine Spitzbubenstreiche nachweisen. In der Tat reichte Rohling bald darauf eine Beleidigungsklage gegen den Abgeordneten Bloch bei einem Wiener Gericht ein. Infolge der Immunität des Angeschuldigten war die Zustimmung des Reichsrats zu ihrer Aufhebung erforderlich, die Anfang 1884 erteilt wurde.

*) Es genügt darauf hinzuweisen, dass Rohling die im Talmud übliche Ausdrucks weise „margela bepume“ (Einer pflegte zu sagen) einfach nach dem Wortklang „eine Perle in seinem Munde“ übersetzte.

Da Bloch und sein talentvoller Anwalt Joseph Kopp vor dem Gericht die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle feststellen wollten, bereiteten sie für die wissenschaftlichen Gerichtssachverständigen ein ungeheures Material vor: eine Fülle authentischer Zitate aus dem rabbinischen und kirchlichen Schrifttum sowie verschiedene Auskünfte und Erläuterungen. Ein langer Kampf entstand bei der Wahl von Sachverständigen zur Prüfung der Zitate. In dem Bestreben, die Wahl der Sachverständigen einer kompetenten Instanz zu überlassen, ersuchte Bloch das Gericht, damit die deutsche „Morgenländische Gesellschaft“ zu beauftragen, die solche Spezialisten aus ihrer Mitte stellen könne. Die Gesellschaft empfahl denn auch einige Spezialisten, doch erklärten diese sich für nicht genügend kompetent; zweifellos kompetente Gelehrte (Delitzsch und andere) lehnte aber Rohling mit der Begründung ab, sie hätten sich bereits in der Presse abfällig über sein Buch geäußert. Von aufgeforderten Orientalisten erklärte sich nur der Straßburger Professor Nöldeke bereit, an der Zitatenprüfung teilzunehmen. Rohling seinerseits bestand auf der Hinzuziehung zweier „Spezialisten“, die sich nachträglich als seine Helfershelfer bei der Verfälschung von Zitaten herausstellten: es waren dies der gekaufte Jude Justus-Briemann, den Rohling als „früheren Rabbiner“ titulierte, und der wenig bekannte Lehrer der hebräischen Sprache an der Akademie von Münster, Dr. Ecker.

Bald ergab sich, dass Briemann eine sehr verdächtige Persönlichkeit war. Aron Briemann war aus Krakau gebürtig, hatte sich in Holland und Deutschland herumgetrieben, war kein Rabbiner, sondern druckte nur unter seinem Namen ein rabbinisches Buch ab, beschloss, des Plagiats überführt, sich zu taufen, und ging zuerst zum Protestantismus, dann zum Katholizismus über. Auf Anraten seiner Gönner aus dem Kreise Rohlings und der preußischen Katholiken verfasste und veröffentlichte er unter dem Namen Dr. Justus ein Buch: „Der Judenspiegel oder hundert neu entdeckte noch geltende Gesetze über das Verhältnis der Juden zu den Christen, mit einer sehr interessanten Einleitung“ (1883). Das Buch wurde in Paderborn, dem Sitze der preußischen Katholiken, in einer Druckerei hergestellt, die bereits einige antisemitische Pamphlete veröffentlicht hatte. Als eine preußische Zeitung einen Auszug aus Justus' Buche mit lobenden Worten brachte, wurde der Zeitungsredakteur wegen Erregung religiösen Hasses vor Gericht angeklagt. — Dieser feile Renegat Justus, der Rohling verfälschte Zitate geliefert hatte, und der Judenhasser Ecker wurden nun von Rohling als Gerichtssachverständige vorgeschlagen. Allein nachdem das Gericht über sie Erkundigungen eingezogen hatte, lehnte es sie ab. Nöldeke wurde noch ein kompetenter Sachverständiger, der Dresdner Professor Wünsche zugesellt, der die talmudische Hagada ins Deutsche übersetzt hatte. Beide Sachverständigen gaben ein für Rohling ungünstiges Gutachten ab und bekräftigten nur die bereits feststehende Ansicht von seinen quasi-wissenschaftlichen Elaboraten als den Produkten von Ignoranz, Hass, Betrug und teilweise Selbstbetrug. Rohling musste sich überzeugen, dass er dem Makel einer Abweisung seiner Klage nicht entgehen würde, falls der Prozess bis zu Ende geführt würde. Und so beeilte er sich, dem Strafgericht zu erklären, dass er auf seine Klage gegen Bloch verzichte und um Einstellung des Verfahrens bitte (1885). So kam es also nicht zu einem Gerichtserkenntnis, aber Rohlings Selbstverurteilung kam ja einem solchen Erkenntnis gleich. In besseren Gesellschaftskreisen kannte man bereits den wahren Wert der Schmähschriften von Rohling und Justus-Briemann, und nur die nichtswissenden Maniaken des Judenhasses benutzen sie in der Folge als Agitationswaffe in verschiedenen Ländern, unter anderem auch in Russland (Schmakow).