§ 110. Die Statistik. Das innere Leben

Die Statistik zeigt in Zahlen die Ergebnisse, die die Dynamik des jüdischen Lebens in den ersten Jahrzehnten der Emanzipation zeitigte. 1871 belief sich die Zahl der Juden in Deutschland auf rund 512.000, 1880 auf 561.000, 1890 auf 567.000; davon entfielen auf Preußen zirka zwei Drittel. Das Verhältnis der Juden zur Gesamtbevölkerung betrug etwas über 1 v. H, (1,1 bis 1,2 V. H.). 1895 wurde eine Berufszählung der Bevölkerung vorgenommen, die ein klares Bild der sozialökonomischen Lage der Juden im Reiche ergab. Die arbeitsfähige Hälfte der jüdischen Bevölkerung verteilte sich nach dem Beruf folgendermaßen: Handel 133.451 (zirka 54 v. H. aller Arbeitsfähigen), Industrie 45.993 (19 v. H.), Kapitalseinkommen 39.870 (16 V. H.), öffentlicher Dienst und freie Berufe 14.641 (6 V. H.), Hausdienst 6.371 (2,61 v. H.), Ackerbau und Landwirtschaft 3.371 (1,38 V. H.). Die größere Hälfte der arbeitsfähigen Juden war also im Handel beschäftigt, ungefähr der fünfte Teil in der Fabrikindustrie und im Handwerk, ein Sechstel lebte vom Kapitalseinkommen (hauptsächlich Witwen), ein Siebentel übte einen freien Beruf aus oder war im Staats- oder Gemeindedienst angestellt, einige Tausend waren Hausangestellte. Am allerwenigsten befassten sich die Juden mit der Landwirtschaft, da sie vom Ackerbau schon längst losgelöst waren, zum Landbesitz aber von den Agrariern und Junkern, den Nachkommen der Feudalherren und Monopolisten des Großgrundbesitzes, nur selten zugelassen wurden. Im Grunde genommen hat also das neue Judentum in Deutschland seine alte wirtschaftliche Struktur beibehalten: auch jetzt waren drei Viertel der jüdischen Bevölkerung in Handel und Industrie beschäftigt. Neu war nur die erhebliche Zahl von Personen der liberalen Berufe und von Beamten — ein Ergebnis der Emanzipation. Die Zahl dieser letzteren Kategorie wäre indessen noch erheblich größer gewesen, hätte die deutsche Regierung und Gesellschaft den Juden, die den Staatsdienst anstrebten, nicht überall Hindernisse bereitet.

Die Juden lebten vorwiegend in Großstädten, den Zentren politischen Lebens und geistiger Kultur, und der ihnen innewohnende Intellektualismus zog sie zu entsprechenden Beschäftigungen hin. Die deutsche Schule wurde von den deutschen Juden in einem Maße besucht, das ihr prozentuales Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bei weitem überstieg. Das hatte seinen Grund vor allem in dem Mangel an Nationalschulen mit allgemeiner Bildung, für die ja die „Religionsschulen“ der jüdischen Gemeinden, die einen Annex der Synagoge darstellten, keinen Ersatz boten. Die große Masse der jüdischen Jugend erhielt ihre Bildung in der deutschen Schule aller Stufen, und hier trat die folgende Erscheinung hervor: während von hundert studierenden Christen in Preußen vierundneunzig sich mit der obligatorischen niederen Schule begnügten und nur sechs die Mittelschule besuchten, besuchte von hundert studierenden Juden fast die Hälfte, das heißt eine achtfache Zahl als die der Christen, die Mittelschule. An den preußischen Universitäten bildeten die Juden 1895 ein Zehntel der gesamten Studentenschaft, während sie im Lande nur etwas über ein Hundertstel der Gesamtbevölkerung ausmachten, — auch hier also studierten sie in einer Zahl, welche die der Christen ums Zehnfache überstieg. Die deutsche Schule war der Hauptfaktor der Assimilation der Juden: in ihr wurden die letzten Reste der nationalen Tradition ausgerottet und durch deutsche Ideale ersetzt. In dem gleichen Maße, in dem der jüdische Intellekt durch die vorbildliche deutsche Schule gewann, erlitt das jüdische nationale Selbstbewusstsein Abbruch.


Die zweite Stufe zur Assimilation bildeten die Mischehen zwischen Juden und Christen. Ihre Zahl nahm in dieser Epoche stark zu. Bis 1880 bildeten die Mischehen in Preußen ein Zehntel aller jüdischen Ehen, in den folgenden Jahren aber wuchsen sie und bildeten 1896 schon ein Fünftel aller Ehen, das heißt auf fünf Ehen entfielen vier rein jüdische und eine Mischehe. Ursprünglich bildeten die Heiraten von Christen mit Jüdinnen die Mehrzahl, zum Schluss der betrachteten Periode aber nahmen die Fälle der Heiraten von Juden mit Christinnen zu. In beiden Fällen aber pflegten die Kinder getauft zu werden, und so ging die Mehrzahl den Nachkommenschaft dem Judentum verloren.

Die letzte Stufe der Assimilation — die Taufe — zeigt in dieser Zeit gleichfalls eine Zunahme: In Preußen nahm die Zahl der Taufen während der Zeit von 1880 bis 1896 um das vierfache zu (76 Taufen im Jahre 1879 und 312 im Jahre 1896). Der Zählung entgingen allerdings vollkommen die Taufen der Kinder von Eltern, die selbst im Judentum verblieben, ihren Kindern aber durch die Teilnahme an der herrschenden Kirche eine gute Karriere sichern wollten. Die Taufepidemie am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts überstieg in ihrem Umfang die Berliner Taufepidemie zu Anfang des Jahrhunderts (oben §31). Damals war indessen noch ein gewisser naiver Idealismus oder Romantismus beteiligt; in der neuen Abtrünnigkeit aber herrschten Feigheit und Materialismus vor. Die religiöse Assimilation wurde zum Werkzeug der Verwirklichung der bürgerlichen Gleichberechtigung, ebenso wie die nationale Assimilation das Werkzeug ihrer Erreichung gewesen war. Nur in seltenen Fällen traten Juden zum Christentum aus Überzeugung, aus mystischer Stimmung heraus oder aus extremer ideeller Konsequenz im Sinne Mommsens über, das heißt von dem Gedanken beherrscht: wenn sich schon der deutschen Kultur assimilieren, dann vollauf, denn aus dieser Kultur lasse sich ihr christliches Element nicht ausschalten. Übrigens war die absolute Zahl der Taufen geringfügig: durchschnittlich etwa 500 Taufen jährlich auf ganz Deutschland, was bei einer eine halbe Million übersteigenden jüdischen Bevölkerung nur einen geringen Bruchteil bedeutete. Nur im Zusammenhang mit den Mischehen und der epidemieartigen Assimilation als Vorbereitung zum Abfall der Nachkommenschaft erlangte diese Erscheinung die Bedeutung eines bedrohlichen Symptoms.

Unterdessen nahm auch das natürliche Wachstum der jüdischen Bevölkerung in Deutschland jahraus, jahrein ab. Eine staunenswerte Erscheinung machte sich im Leben der deutschen Juden der neuen Formation bemerkbar: die Zahl der Geburten sank beträchtlich im Verhältnis zu der früheren Geburtenzahl und stand ziemlich weit hinter der Geburtenfrequenz der Christen: in der vorangehenden Epoche entfielen auf 1.000 Juden im Jahre durchschnittlich 37 Geburten, von 1879 an aber sinkt diese Zahl und erreicht 1897 die Zahl 22, während die christlichen Geburten ihre Normalfrequenz (38 auf 1.000) behalten. Diese Erscheinung wurzelte nicht etwa in dem Sinken des Wohlstandes der Juden (der ja absolut gestiegen war), sondern in dem schnellen Wachstum der Bedürfnisse inmitten einer komplizierteren Kultur: viele verzichteten auf die Ehe oder schränkten die Zeugung ein (Zweikindersystem), um persönlich besser leben zu können. Die Abnahme der Volks Vermehrung und der direkte Verlust infolge von Mischehen und Taufen führten dazu, dass die allgemeine Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland im Vergleich mit der christlichen Bevölkerung stark sank. 1888 betrug das prozentuale Verhältnis der Juden zur Gesamtbevölkerung in Preußen 1,33 V. H., 1900 aber 1,14 V. H. Die Emigration spielte dabei keine Rolle, denn sie war geringfügig und überstieg! jedenfalls nicht die allgemeine deutsche Auswanderung.

Die unvermeidliche Folge des neuen Assimilationsprozesses war der Verfall der nationalen Geisteskultur. Vorbei war jene heroische Epoche, da die neu erwachte deutsche Judenheit, nachdem sie sich die europäische Kultur angeeignet, ein kritisches Verhalten ihren alten Geisteswerten gegenüber einnahm, Religionsreformen einführte, eine wissenschaftliche Erhellung der Vergangenheit erstrebte und im Prozesse des ideellen Kampfes eine freie „jüdische Wissenschaft“ schuf. Jetzt wurde die Kritik von einer Gleichgültigkeit allen nationalen Werten gegenüber abgelöst, die das junge, durch die deutsche Schule hindurchgegangene Geschlecht ja fast nicht kannte. Der Kampf um die religiöse Reform büßte seinen Sinn ein für Leute, die das Judentum nicht kannten, und überhaupt der Religion gegenüber gleichgültig waren. In den Gemeinden erhielt sich noch die frühere Einteilung in Orthodoxe und „Liberale“, wie sich die Anhänger der reformierten Synagoge nannten. Diese beiden Gruppen wetteiferten miteinander bei den Gemeindeangelegenheiten und in Großstädten bestanden faktisch zwei gesonderte Gemeinden; aber das Verhältnis der beiden zur Nationalitätsfrage war im allgemeinen das gleiche. Sowohl die Orthodoxen als die Liberalen betrachteten sich als Deutsche jüdischen Glaubens; da aber die Orthodoxen in diesem Glauben einen größeren Ballast von Riten beibehielten als die Liberalen, hemmten sie dadurch teilweise die Assimilation in deren extremen, die Grenzen der Religion verletzenden Formen. Das Organ der Liberalen war die alte Wochenschrift „Allgemeine Zeitung des Judentums“, die nach dem Tode ihres Begründers Ludwig Philippsohn (1889) von dem Literarhistoriker Gustav Karpeles redigiert wurde. Das Organ der gemäßigten Orthodoxen war die Wochenschrift „Jüdische Presse“, die in Berlin unter der Redaktion des Rabbiners Esriel Hildesheimer (oben § 88) erschien. Die Gruppe der extremen Orthodoxen aber, die sich bestrebte, den rituellen Rigorismus des Schulchan Aruch mit dem Firnis der deutschen Kultur zu überdecken, führte ihre Propaganda in der Zeitschrift „Der Israelit“, die in Mainz von M. Lehmann herausgegeben wurde.

Der nationale Verfall äußerte sich am stärksten auf dem Gebiete der jüdischen Wissenschaft, die einst den Stolz der deutschen Juden bildete. Viele tüchtige Geisteskräfte und Talente waren in der allgemeinen deutschen Wissenschaft und Literatur aufgegangen, auf dem jüdischen Acker blieben nur sehr wenig Arbeiter. Die Vertreter der jüdischen wissenschaftlichen Renaissance waren am Ende ihrer Tage. Der Geschichtsschreiber Graetz (oben § 89), der sein siebzigstes Lebensjahr überschritten hatte, vervollkommnete weiter seine enzyklopädische Arbeit und ergänzte sie auf Grund neuer Forschungen. In die Stille seines Breslauer Arbeitszimmers drangen die ersten Schlachtrufe des Antisemitismus ein: der preußische Historiker Treitschke baute, wie oben erzählt, seine Anklage gegen das Judentum auf Zitaten aus Graetz' Geschichte auf, in denen nicht der königlich-preußische, sondern der jüdische Maßstab bei der Bewertung der geschichtlichen Ereignisse zugrunde gelegt war. Graetz reagierte schwach auf diese „Anschuldigung“ des jüdischen Nationalismus, die ja die Unzufriedenheit der Assimilantenkreise gegen den Historiker noch verstärkte. Die Entrüstung über den jüdischen Geschichtsschreiber, der sich als schlechter deutscher Patriot erwies, war in diesen Kreisen so stark, dass Graetz nicht zu der „Historischen Kommission“ hinzugezogen wurde, die 1885 in Berlin zur Bearbeitung der Materialien über die Geschichte der Juden in Deutschland eingesetzt wurde. In den allerletzten Jahren seines Lebens vertiefte sich Graetz in die kritische Erforschung des biblischen Textes und verschied mitten in dieser Arbeit (1891).

Auf dem Gebiete der biblischen Wissenschaft leisteten christliche Forscher in dieser Epoche bedeutend mehr als jüdische. Die Schule der „Bibelkritik“ in der protestantischen Theologie, deren Vertreter im neunzehnten Jahrhundert de Wette, Ewald, Reiß und Graf waren, erreichte ihren Höhepunkt in dem harmonischen wissenschaftlichen System Wellhausens, des Verfassers der „Prolegomena zur Geschichte Israels“ (1878) und der „Israelitischen und jüdischen Geschichte“ (1894). Hier wurde die fragmentarische Theorie der Entstehung der Bibel mit einer solchen Meisterschaft der logischen Analyse bearbeitet, dass Wellhausen für die einen der Darwin der Bibelwissenschaft, für die andern aber zum gefährlichen Zerstörer der Tradition wurde. Diese Doktrin enthielt in der Tat einen gesunden Kern — als Versuch, die natürliche Entwicklung des Judaismus von den primitiven Formen der Religion bis zu dem universalen ethischen Monotheismus der Propheten darzustellen. Ihr Fehler aber bestand nur in der kühnen Prätention, die Details dieses Entwicklungspozesses wiederherzustellen, sowie darin, dass Hypothesen, die auf einer geistreichen Analyse der biblischen Texte aufgebaut waren, für Tatsachen ausgegeben wurden, aus denen dann sichere Schlüsse gezogen wurden. Der philosophisch-historische Irrtum, der selbst freidenkenden christlichen „Theologen eigen ist, trat auch in Wellhausens Werk grell hervor: er verhält sich positiv zu der religiösen Entwicklung des Judaismus in ihren universalen Elementen, negativ aber gegenüber ihren nationalen Äußerungen. Die Periode der Formung der jüdischen Nation inmitten der hellenisch-römischen Welt wird von Wellhausen (ebenso wie von Renan) als Periode des Verfalls, der Entartung des religiösen Bewusstseins, das schließlich im Christentum wiedergeboren sei, dargestellt. Dieser evangelische Anti-Judaismus bildet eine charakteristische Parallele zum damaligen sozialen Antisemitismus. — Objektiver wurde die Geschichte von Judäa zur Zeit der Entstehung des Christentums in dem umfangreichen Werke des Göttinger Professors Schürer bearbeitet („Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi“, drei Bände, 1890/1902). Der Verfasser hat das gesamte Material über die politische Geschichte dieser Epoche sorgfältiger als Graetz untersucht, aber als christlicher Theologe hat er doch die Rolle des großen nationalen Kampfes Judäas als Hauptantrieb zur Entstehung des Christentums unterschätzt, das ja eine Reaktion des religiösen Individualismus gegen den Nationalismus, gegen die heldenhaften Bemühungen des jüdischen Volkes, seine selbständige Existenz in der griechisch-römischen Welt zu behaupten, darstellte.

Nach Graetz erschienen an Stelle synthetischer Geister nur eifrige Arbeiter — Materialiensammler und Verfasser von Monographien. Die erwähnte Historische Kommission gab „Regesten“ und „Quellen“ zur Geschichte der Juden in Deutschland im Mittelalter („Regesten“ von Aronius und drei Bände ,,Quellen“, 1887/1892), sowie eine Vierteljahrsschrift zur Geschichte der deutschen Juden, unter der Redaktion von Ludwig Geiger, dem Sohn des bekannten Reformators, heraus („Zeitschrift für Geschichte der Juden in Deutschland“ 1887/92). Außerdem erschien in Breslau die alte „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“, die mit dem Namen von Frankl und Graetz verbunden war und nach einiger Unterbrechung von deren Schülern weitergeführt wurde. Alles, was in diesen Veröffentlichungen erschien, war nur Baumaterial, das auf seinen Architekten wartete. Unterdessen aber arbeiteten Kompilatoren. Gustav Karpeles veröffentlichte eine kompilative Geschichte der jüdischen Literatur, in der er Zunz und Graetz getreu kopierte. Gleichzeitig wurden zwei umfangreiche Monographien veröffentlicht: die „Geschichte der Juden in Rom“ von A. Berliner und eine gemeinsame Arbeit unter demselben Titel von Vogelstein und Rieger (1893/95). Einige dem östlichen Judentum entstammende Einwanderer mit westlicher wissenschaftlicher Schulung versuchten es, in der jüdischen wissenschaftlichen Literatur die aus ihr längst vertriebene Nationalsprache wieder zu beleben. Simon Bernfeld in Berlin, ein Schriftsteller von enzyklopädischem jüdischem Wissen, bereicherte die Wissenschaft durch eine Reihe historischer Monographien: Daat Elohim (Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie, 1896—99), Toldot hareformation beisrael (Geschichte der Reformation im Judentum, 1900), kritische Abhandlungen über die jüdische Geschichtsschreibung und ihre Vertreter zu verschiedenen Zeiten. All diese Schriften waren vor allem für jene Leser in Russland und Galizien bestimmt, die den Zusammenhang mit den Urquellen jüdischen Wissens noch nicht eingebüßt hatten.

Pflanzstätten der jüdischen Wissenschaft waren drei Hochschulen: das älteste Theologische Seminar in Breslau, dessen Ruhm sich nach Graetz und Frankl verdunkelte, die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin, die 1872 von Abraham Geiger gegründet wurde und als die wissenschaftliche Hochburg der reformerischen Liberalen galt; schließlich das als Gegengewicht dazu von den Orthodoxen gegründete Rabbinerinstitut Hildesheimers. Diese Schulen lieferten den Gemeinden der beiden Lager Rabbiner und Prediger, der wissenschaftlichen Literatur aber bescheidene Arbeiter. — Die Popularisierung des jüdischen Wissens wurde stark durch die von Karpeles gegründeten „Vereine für jüdische Geschichte und Literatur“ gefördert. Von 1892 an entstehen solche Vereine in vielen Städten und beleben das Gemeindeleben durch Veranstaltung von Vorlesungen und Kursen und Einrichtung von Bibliotheken und Lesehallen.

Solange noch wenigstens in einigen Geistern unter der Asche der Funke des jüdischen Wissens glomm, solange das Bewusstsein nicht geschwunden war, dass die dreitausendjährige Kultur des Judentums es mit der dreihundertjährigen Kultur Deutschlands aufnehmen kann — war noch nicht alles verloren. In Deutschlands Nachbarschaft, jenseits vom Njemen und der Weichsel, lag ein großes Reservoir jüdischer Geisteskräfte. Aus dem zaristischen Russland drang das Gejammer der Verfolgten und Ruinierten, aber auch neue Ideen, Aufrufe zur nationalen Wiedergeburt herüber, die am Ausgang des Jahrhunderts auch im Westen einen Widerhall fanden. Die Entwicklung der neuen nationalen Bewegung — zuerst in der Form des Zionismus — fällt indessen in die zweite Hälfte der betrachteten Epoche, deren Zäsur das Jahr 1897, das Jahr des ersten zionistischen Kongresses bildet.