§ 109. Die Antisemiten im Parlament, Ritualmordprozesse und Abwehrbünde. (1891 — 1900)

Die gesellschaftliche Reaktion in Deutschland wuchs unterdessen weiter und das letzte Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts war die Zeit ihrer größten Blüte. Bismarcks Absetzung vom Kanzleramt hat an seinem Regime des „Blut und Eisen“, das ja von Wilhelm II. zum Kultus erhoben wurde, nichts geändert. Der Kaiser anerkannte nur den „deutschen Gott“, die deutsche Armee und seine Mission als Monarch von Gottes Gnaden, die er in seinen offiziellen Reden wiederholt betonte; er entnahm seine Minister dem Junkertum, behandelte den liberalen Reichstag verächtlich und ließ sich nur den konservativen preußischen Landtag gefallen. Die deutsche Gesellschaft, die den Gipfel der geistigen und technischen Kultur erklommen hatte, vermochte nicht, sich über das Niveau eines halb konstitutionellen Polizeistaates, der viele Züge der monarchischen Militärdespotie behalten hatte, zu erheben. Unter diesen Umständen konnte das Reichsparlament, trotz des allgemeinen Wahlrechts, keine demokratische Institution sein. Die Nationalliberalen verbanden sich oft mit den Konservativen und bildeten zusammen im Reichstag eine starke Hemmung für alle Reformen; zwischen diesen feudal-bürgerlichen Vertretern und den Sozialdemokraten stand eine Partei von Intellektuellen, Progressisten und „Freisinnigen“ als einzige Stütze der Juden, die aber ihre Oppositionsaufgabe lediglich mit zufälliger Unterstützung des katholischen Zentrums erfolgreich erfüllen konnte. Die Antisemiten lavierten zwischen dem rechten und dem linken Flügel des Reichstages und brachten die gewissenlosesten Agitationsmethoden von der Parlamentstribüne zur Anwendung. In der Parlamentsgeschichte jener Zeit füllen sie die Rubrik der Skandalchronik aus; keine Reichstagsfraktion zeugte so viel Helden von Kriminalprozessen wie die antisemitische Fraktion. 1890 bestand sie aus fünf Mitgliedern, aber bereits 1893 brachte sie es auf sechzehn, da die Antisemiten bei der letzten Wahl eine ungeheure Agitation im Lande entwickelt und ca. eine Viertel Million Wähler für ihre Kandidaten gewonnen hatten.

Der Lärm der Straße drang mit diesen Straßenhelden ins Parlament ein. Der typische Vertreter des damaligen Skandalantisemitismus war der Abgeordnete Ahlwardt, „Rektor“ einer Volksschule in Berlin. Er hatte seine antisemitische Karriere mit der Veröffentlichung der Schrift „Der Verzweiflungskampf der arischen Völker gegen die Juden“ (1890) begonnen. Der offene Appell an die „arische“ Faust, der Aufruf zu Gewalttätigkeiten veranlasste die preußische Polizei, das Büchlein zu beschlagnahmen. Gleichzeitig wurde Ahlwardt wegen irgendeiner dunklen Angelegenheit (Aneignung von Schulgeldern) auf Verordnung des Berliner Provinzialschulkollegiums vom Rektoramt abgesetzt. Dafür beschimpfte er die Mitglieder dieses Rats in einer Broschüre „Judentaktik“ und kam durch Gerichtsurteil auf ein paar Monate ins Gefängnis. Aber alle diese Verfolgungen hielten Ahlwardt vor der Abfassung weiterer Pamphlete nicht ab. Er veröffentlichte eine Schmähschrift gegen den Berliner Bankier Bleichröder, der der deutschen Regierung große finanzielle Dienste geleistet hatte, und beleidigte beiläufig auch den Reichskanzler Caprivi. Darauf veröffentlichte er eine Broschüre „Judenflinten“, in der er den jüdischen Abgeordneten und Waffenfabrikanten Loewe beschuldigte, nach einer Verabredung mit dem „Jüdischen Weltbund“ in Paris für das preußische Kriegsministerium schlechte Flinten zu fabrizieren, um in dem bevorstehenden Kriege mit Frankreich Deutschland eine Niederlage zu bereiten. Eine offizielle Untersuchung zeigte die Unhaltbarkeit dieser Beschuldigung und Ahlwardt wurde (Ende des Jahres 1892) vom Gericht zu fünfmonatlicher Gefängnisstrafe verurteilt. Mitten während dieser Heldentaten wurde er von den Antisemiten in den Reichstag gewählt und so erhielt der ständige Gefängniskandidat die Möglichkeit, seine verleumderische Tätigkeit von der Parlamentstribüne herab, durch die parlamentarische Immunität geschützt, fortzusetzen. Eine niedrige Demagogie hatte Ahlwardt den Weg in die gesetzgebende Versammlung geebnet: während der Wahlen gab er sich für einen Freund der werktätigen Massen aus und verlangte die Beschlagnahme des Vermögens der Reichen zugunsten der Armen. Diese Taktik setzte er auch im Parlament fort, indem er Kapitalismus mit Judentum verband. Durch diese Demagogie stieß er indessen die Konservativen von sich ab, durch seine Skandale entrüstete er aber sogar seine Fraktionsgenossen, so dass er schließlich sich außerhalb aller Fraktionen sah und einen Platz unter den „Wilden“ einnehmen musste. Aber unter den Männern der Straße und der Kneipe genoss er nach wie vor großes Ansehen.


Der gesellschaftliche und Straßenantisemitismus wütete mehr als zuvor. Schon trat aus der Schule jene Jugend ins Leben, die aus den antisemitischen akademischen Kreisen der achtziger Jahre hervorgegangen war. Die Gelübde, die von den Burschen beim Bierseidel gegeben worden waren, wurden von den reifen Männern heilig erfüllt. Unterdessen aber wurden neue Reihen der studierenden Jugend vorbereitet, die entweder von den Idealen des Wilhelminischen Deutschtums oder des (wohl schlecht verstandenen) Gewaltkultus, des „Willens zur Macht“ der ,,blonden Bestie“ von Nietzsche erfüllt waren. Diese studentische Jugend verachtete die Idealisten des vorangehenden Geschlechts, demonstrierte gegen die Feier des siebzigjährigen Jubiläums des Menschenfreundes Virchow und verlangte die Verweisung der ausländischen Juden, die der Zarendespotismus aus Russland in die deutschen Tempel der Wissenschaft getrieben hatte, von der Hochschule. Deutsche Studenten jüdischer Abkunft, zuweilen sogar getaufte, wurden in die „nationalen“ Studenten- und Schüler-Vereine nicht aufgenommen. Als Beamte, Richter oder Gemeindepolitiker setzten diese Antisemiten die Politik der Verdrängung des Juden aus allen Gebieten des bürgerlichen Lebens fort. Ungeachtet des Gesetzes wurden Juden vielerorts nicht in die Geschworenenlisten aufgenommen. Jüdische Soldaten wurden selten zu Offizieren befördert, das preußische Junkertum aber verschloss den Juden seinen „edlen“ Stand ganz und gar. Am eifrigsten waren natürlich die Händler und Ladenbesitzer. Zettel mit Inschriften „Kauft nicht bei Juden“ wurden am Vorabend hoher Feiertage unter die Straßenpassanten verteilt. Hotelbesitzer in Kurorten ließen oft jüdische Gäste nicht zu, damit ihre Hotels „judenrein“ blieben und ihren guten Ruf bei echten Deutschen behielten. Auch die literarische Propaganda nahm zu: ein „Antisemitischer Katechismus“ von Theodor Fritsch wurde in Zehntausenden von Exemplaren verbreitet, die Seelen durch die Dogmen der Hassreligion vergiftend.

Auf diesem von den Miasmen des Mittelalters durchtränkten Bodens erwuchs ein neuer Ritualmordprozess. In dem Städtchen Xanten*), im Gebiet des Unterrheins, wurde die Leiche eines vermissten Kindes, des fünfjährigen Sohnes eines katholischen Tischlers aufgefunden (Juni 1891). Angesichts des rätselhaften Charakters des Mordes verbreitete sich das Gerücht, dieser sei zu einem „religiösen“ Zweck von dem Schochet der dortigen Judengemeinde und Fleischhändler Buschhof begangen worden, obwohl dieser in der Stadt den Ruf eines ehrlichen Menschen genoss und mit seinen christlichen Nachbarn befreundet war. Die ärztliche und die erste Kriminaluntersuchung ergaben keine Indizien gegen Buschhof, aber das abergläubische und teilweise boshafte Gerede hatte die Bevölkerung Xantens und der Umgegend bereits derartig aufgeregt, dass die Xantener jüdische Gemeinde sich selbst nach Berlin mit der Bitte um Abordnung eines Sonderkommissars zur Untersuchung der Angelegenheit wandte. Zuerst wurde Buschhof und seine Familie verhaftet, aber nach zwei Monaten mussten sie freigelassen werden, da die außerordentliche Untersuchung keinerlei Teilnahme ihrerseits an dem Verbrechen ergeben konnte. Darauf begann in der antisemitischen Presse und auf Parteiversammlungen die stärkste Agitation. Es wurden Resolutionen gefasst, die vom Justizminister die Wiederaufnahme der Untersuchung verlangten. Gegen diese Agitation erhob sich im Reichstag der alte Anwalt der Juden, der fortschrittliche Abgeordnete Rickert (Februar 1892). Er sprach seine Entrüstung über den Druck aus, den die Antisemiten auf das Gerichtsverfahren ausübten, berichtete über Versuche, in Xanten und an anderen Orten Pogrome hervorzurufen, und verlangte Maßnahmen zur Unterbindung der verleumderischen Hetze. Ihm erwiderte der „Vater des Antisemitismus“, Stöcker, in einer langen Rede, die, wie üblich, voller boshafte Anspielungen war. Stöcker erklärte, die Juden niemals öffentlich der Ritualmorde beschuldigt und diesen Glauben sogar seinen Freunden ausgeredet zu haben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der jüdische Religionskultus die Ermordung von Menschen, den Gebrauch des Blutes zu irgendeinem Zwecke verlangt. Aber der Streit dreht sich mehr um Worte, wird doch keiner, der die Geschichte kennt, leugnen, dass Christen, insbesondere Kinder, jahrhundertelang durch die Hand von Juden aus Aberglauben oder Fanatismus umkamen.“ Nachdem er also die geschichtliche Wahrheit geschickt verdreht hatte, die die Tatsache des Untergangs von Juden durch Christen, also nur eine gegenteilige Beschuldigung festgestellt hat, — ist Stöcker bereit anzunehmen, dass die Juden das christliche Blut nicht einem gesetzlichen Gebot zufolge, sondern aus Aberglauben gebrauchen; er ist bereit, den Ausdruck „Ritualmord“ abzuschaffen, nur um seinen Inhalt beizubehalten. Seine Rede beschloss Stöcker mit einer Herausforderung Rickerts als Mitglieds des ,,Verbandes zur Abwehr des Antisemitismus“: „Ich kenne mein Volk und bin überzeugt, dass dreiviertel unseres deutschen Volkes nicht auf Ihrer, sondern auf unserer Seite stehen werden.“ Der Justizminister Schelling erklärte, das Gericht erfülle ehrlich seine Pflicht und lasse sich von niemandem beeinflussen. In Wahrheit aber gab die Regierung der Forderung der Antisemiten nach und Buschhof wurde abermals verhaftet.

Die Angelegenheit wurde in Cleve während elf Tagen (vom 4. bis 14. Juli 1892) vom Geschworenengericht verhandelt. Die Zeugenaussagen, die wissenschaftlichen Gutachten und die gerichtliche Erörterung war dem Angeklagten günstig. Einer der autoritativsten Sachverständigen, der Orientalist Nöldecke erklärte kategorisch, das talmudische und das rabbinische Schrifttum enthielten „keine Hinweise auf das Ritual des Blutes“; zwei Staatsanwälte, die an dem Prozess teilnahmen, verwandelten sich zu warmen Verteidigern des Angeklagten und einer von ihnen rief aus: „Es ist unmöglich, mit größerer mathematischer Genauigkeit die Unschuld des Angeklagten zu beweisen, als es hier geschehen ist.“ Buschhof wurde vom Gericht einstimmig freigesprochen. Dieses Urteil, das alle Freunde der Wahrheit erfreute, verärgerte aber die Antisemiten, die es ja indirekt als Verleumder stempelte. Die Agitation in den dunklen unteren Volksschichten wurde wieder aufgenommen. Ist der Schuldige nicht gefunden, so sind die Juden vom Verdacht immer noch nicht gereinigt — urteilte die Menge, die nicht darauf kam, das Rätsel des Mordes unter denen zu suchen, die sich bemühten, die Schuld auf die Juden abzuwälzen, wie es in der Angelegenheit von Behrent in Skurz (oben § 108) der Fall war. Die Gärung in den Massen drohte stellenweise zu Ausschreitungen auszuarten. Die Stimmung in Xanten war so aufgeregt, dass der freigesprochene Buschhof und eine Anzahl jüdischer Familien gezwungen waren, die Stadt zu verlassen. Noch lange konnte die Volkserregung, die von den neuen Kreuzfahrern im Rheingebiet entfesselt worden war, nicht zur Ruhe kommen, an denselben Orten, wo vor acht Jahrhunderten Ströme jüdischen Blutes von der Hand der ersten Kreuzfahrer des Mittelalters geflossen waren 1).

*) Xanten wird unter den Ortschaften erwähnt, die unter dem ersten Kreuzzug (1096) gelitten haben.

Die „Schmach des Jahrhunderts“, die hauptsächlich die Schmach Deutschlands war: der kämpferische Antisemitismus erweckte schließlich die besten Männer des Volkes aus ihrer Passivität. Nach der zehnjährigen Propaganda des Rassenhasses, die ja schon eine reiche Ernte getragen hatte, begriffen sie, dass diese Bewegung in dem gleichen Maße für die deutsche Kultur wie für das Judentum verderblich war. Es entstand der Gedanke, eine gegen-antisemitische Liga ins Leben zu rufen, die mit den Säemännern des Hasses und der bürgerlichen Zwistigkeiten einen systematischen Kampf zu führen hätten. Ende 1890 wurde der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ gegründet, an dessen Spitze sich der bekannte Jurist Rudolph Gneist, der Führer der Reichstagsopposition Heinrich Rickert und andere angesehene Politiker und Gelehrte stellten (Gneist war Präsident des Vereins bis zum Jahre 1895, worauf er von Rickert abgelöst wurde). Anfang 1891 veröffentlichte der Verein einen Aufruf, der von 535 hervorragenden deutschen Männern unterzeichnet war und die Bürger aufforderte, in die Scharen der Kämpfer gegen die antijüdische Reaktion einzutreten. Im Laufe des Jahres 1892 traten zirka 12.000 Mitglieder dem Vereine bei, im Jahre 1893 überstieg ihre Zahl 13.000. Während der ersten Jahre seines Bestehens entwickelte der Verein eine große Propaganda, veranstaltete in vielen Städten öffentliche Versammlungen, in denen bekannte Redner sprachen, gab Broschüren, Flugblätter, sowie wöchentliche „Mitteilungen“ heraus, die eine eingehende Chronik der antisemitischen Bewegung und deren Bekämpfung enthielten. Großen Erfolg hatte das vom Verein herausgegebene polemische Buch „Der Antisemitenspiegel“ (1891 bis 1892), das gegen den „Antisemitischen Katechismus“ gerichtet war; allein während der „Katechismus“ in hunderttausend Exemplaren verbreitet worden war, brachte es der „Spiegel“, der die Ungeheuerlichkeit des ersteren zeigte, kaum bis zu einer Auflage von zehntausend Exemplaren. Während des Xantener Prozesses gab der Verein eine Schrift des Berliner Professors der Theologie und der hebräischen Sprache Hermann Strack über die Entstehung und Entwicklung des Blutaberglaubens unter den Völkern, sowie über die Geschichte der Ritualmordbeschuldigung der Juden heraus *). Der Abwehrverein war eine allgemein deutsche Organisation zur Bekämpfung des Antisemitismus: die Juden, die sich unter seinen Mitgliedern befanden, spielten darin keine aktive Rolle und zogen es vor, diese den deutschen Mitgliedern einzuräumen. Bald aber wurde vielen die Irrtümlichkeit und der demütigende Charakter einer solchen Taktik klar, die in Verzicht auf Selbstschutz und Erwartung einer Hilfe von außen bestand. Neue Worte wurden hörbar: „Niemals werden die deutschen Juden vergessen, dass Männer wie Gneist, Mommsen, Rickert und andere so kühn und mutig für sie in einer Zeit der Bedrängnis eintraten. Befreien aber die Taten dieser edlen Männer uns deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens von der Pflicht, um unsere bedrohten Rechte selbst zu kämpfen, statt uns ängstlich im Hintergrunde zu halten und andere für uns kämpfen zu lassen? Wenn dieses unwürdige Verhalten einer halben Million bevormundeter Bürger weiter dauert, so kann selbst bei den edelmütigsten unserer Verteidiger der Glaube an das heilige Werk der Emanzipation ins Wanken kommen.“ So begann das Erwachen der bürgerlichen Würde der deutschen Juden, aber noch nicht das Erwachen ihres nationalen Selbstbewusstseins. In den Kreisen der Assimilierten, in denen der Gedanke des organisierten Selbstschutzes aufgetaucht war, wurde beschlossen, ihm ausschließlich einen politischen Charakter, ohne die geringste nationale Färbung zu verleihen. In der aus diesen Kreisen herrührenden Broschüre wurden die folgenden Thesen aufgestellt: ,,Wir sind nicht deutsche Juden, sondern deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Wir stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Mit Juden anderer Länder haben wir ebensoviel gemeinsam wie deutsche Katholiken und Protestanten mit Katholiken und Protestanten anderer Länder.“ Diese Ideologie wurde dem 1893 in Berlin gegründeten „Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ zugrunde gelegt. An der Spitze dieses Vereins standen während der ersten Jahre weniger bekannte, aber für den assimilierten Durchschnitt der deutschen Judenheit desto typischere Männer (Privatdozent Martin Mendelssohn, der Jurist Max Horwitz). Die Tätigkeit des Vereins bestand nicht in einem grundsätzlichen, sondern in einem sachlich-juristischen Schutz bedrängter Juden. Auf dem Gebiete der literarischen Agitation begnügte sich der Verein mit apologetischen Artikeln in seinen kleinen Monatsheften „Im Deutschen Reich“. Seine Hauptarbeit aber konzentrierte sich in der „Rechtsschutzkommission“, der der Rechtsanwalt Eugen Fuchs vorstand. Die Kommission verfolgte alle Ausfälle der Antisemiten in der Presse und in öffentlichen Versammlungen und, wo immer sie einen Tatbestand der Verleumdung gegen bestimmte Gruppen der Judenheit wahrnahm, zog sie die Schuldigen vors Gericht. Sie organisierte die Verteidigung in Gerichtsprozessen, die aus antisemitischen Motiven heraus angestrengt worden waren. Sie reichte Beschwerden ein über ungesetzliche Handlungen der Zivil- und Militärobrigkeit gegenüber den Juden. Im Bericht über die ersten drei Jahre der Tätigkeit des Zentralvereins wird die folgende, für die damalige soziale Lage der Juden kennzeichnende Übersicht gegeben: Der Zentralverein trat für die jüdischen Soldaten ein, als diese bei einem Kontrollaufruf von dem kommandierenden Major beleidigt worden waren. Er trat für die jüdischen Ärzte ein, als ein Provinzialhospital, das einen Arzt suchte, in der Annonce von dem Aspiranten die Vorzeigung eines Taufscheines verlangte. Der Verein setzte in einigen Kreisen Preußens das von den Juden beinahe eingebüßte Recht durch, an der Rechtsprechung als Geschworene und Schöffen teilzunehmen. Er trat als Anwalt der jüdischen Lehrerinnen stets auf, wenn ihr Recht zum Unterricht an öffentlichen Schulen verletzt wurde. Er setzte es durch, dass der in einigen Schulen geübte Brauch eingestellt wurde, den Schülern als Auszeichnung Bücher antisemitischen Inhalts zu schenken. Er setzte eine offizielle Erklärung durch, die den Versuch der Antisemiten vereitelte, den Rixdorfer Raubmord in einen Ritualmord zu verwandeln. Anlässlich des Prozesses eines antisemitischen Redakteurs erwirkte der Verein eine Entscheidung des Reichsgerichts des Inhalts, dass ein für die Juden ungünstiges Urteil eines Berliner Gerichts auf einem doppelten Rechtsirrtum beruhe. Er reichte an zuständiger Stelle eine Beschwerde über die Juden verletzende Maueranschläge ein. Er ist erfolgreich gegen die Vertreter einer Gemeinde aufgetreten, die das Wahlrecht der Juden in Zweifel gezogen hatten.

*) „Der Blutaberglaube“ (1891), in neuer ergänzter Auflage 1900 unter dem Titel „Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit“.

Der „Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ tat überhaupt sehr viel Gutes, was für den Schutz der bürgerlichen Interessen und der Menschenwürde des Juden notwendig war; nur eins tat er nicht: er schützte nicht die Nationalwürde der Juden und konnte es auch nicht tun, weil er die Existenz einer jüdischen Nationalität entschieden leugnete. Der Zentralverein — heißt es auch im erwähnten Bericht — bemüht sich, in den deutschen Juden die Überzeugung zu stärken, dass die Bekenner des Judentums miteinander nur durch religiöse und historische, nicht aber durch nationale Bande verbunden sind. Die neue nationale Bewegung im Judentum wird hier lediglich als aus der antisemitischen Hetze resultierende Abschwächung des „natürlichen“, das heißt deutschen Nationalgefühls im Juden abgetan. „Aber“ — fügt der Bericht hinzu — „solche bittere Gefühle widersprechen den Grundsätzen des Zentralvereins. Geburt, Erziehung, Sprache und Gefühle haben uns zu Deutschen gemacht und keine Zeitströmung kann uns unserm teuren Vaterlande entfremden.“ Einen Kampf gegen den Antisemitismus führte auch die deutsche sozialdemokratische Partei, die alljährlich stärker wurde und im Reichstag bereits eine erhebliche Anzahl von Deputierten besaß. Einer der Zwecke des Antisemitismus bestand ja bekanntlich in der Ablenkung der Arbeiter und des Kleinbürgertums vom revolutionären Sozialismus. Zu diesem Zweck bedienten sich Stöcker, Böckel und Ahlwardt verschiedener demagogischer Mittel und spielten sich als Freunde des Proletariats auf. Diese Larve den Antisemiten herunterzureißen, war das Bestreben der Sozialdemokratie. Ihr Führer August Bebel suchte in Reden und einer Sonderbroschüre „Antisemitismus und Sozialdemokratie“ (1894) zu beweisen, dass der Antisemitismus „der Sozialismus der Dummen“ sei: die Reaktionäre und Chauvinisten hetzten die deutsche Arbeitermasse auf das Häuflein der jüdischen Kapitalisten, um das Proletariat von dem Kampf mit dem Kapitalismus überhaupt abzulenken; allein diese Täuschung würde nicht von langer Dauer sein: der gegen den jüdischen Fabrikanten aufgehetzte Arbeiter würde bald auch gegen dessen deutschen Kollegen aufstehen, und in diesem Sinne leisteten die Antisemiten den Sozialdemokraten einen Dienst. Ohne der Judenfrage eine soziale Bedeutung beizumessen, hielten die Sozialdemokraten sie auch nicht für eine nationale Frage: auch für sie war das Judentum keine Nation — denn „eine Nation ohne ein Land ist unmöglich“; der Internationalismus der Marxisten aber machte sie dem nationalen Problem gegenüber überhaupt gleichgültig. Der internationale Sozialistenkongress in Brüssel (1891) verurteilte „sowohl antisemitische als philosemitische Tendenzen“, da „für die Arbeiterklasse kein Wettstreit von Rassen und Nationalitäten existiert“. Ebenso indifferent war aber auch das Verhalten der jüdischen Mitglieder der sozialdemokratischen Partei dem Judentum gegenüber. Einer ihrer einflussreichen Führer, der assimilierte Jude Paul Singer, Mitglied des Reichstages, hat sich mit keinem einzigen Wort über die Judenfrage ausgesprochen, obwohl die Antisemiten ihn oft an seine Beteiligung an den Geschäften der Berliner Handelsfirma „Gebrüder Singer“ erinnerten. Es ist schwer zu sagen, was Singer an diesen Angriffen mehr ärgerte: die Erinnerung an den früheren Kapitalisten oder an den nominellen Juden. Der Unterschied war nur der, dass Singer das von ihm angehäufte Geldkapital für die Bedürfnisse der sozialdemokratischen Partei verwandte, das geistige Kapital seiner Ahnen aber als Trödel fortwarf.

Trotz aller Entlarvungen entwickelte sich der „Sozialismus der Dummen“ weiter in engem Zusammenhang mit dem offenen Antisemitismus der chauvinistischen Reaktionäre aus dem Mittelstand und den oberen Schichten. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts trat ein flammender Vertreter dieser reaktionären Kreise mit dem Versuch auf den Plan, den wilden Rassen-Antisemitismus Dührings in schlimmerer Form zu neuem Leben wiederzuerwecken. Der germanisierte Engländer Houston Stewart Chamberlain veröffentlichte 1892 ein Buch unter dem auffallenden Titel „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, in dem er die ganze Kulturgeschichte auf den Kampf zweier entgegengesetzter Rassen — der tugendhaften Arier und der lasterhaften Semiten — zurückführte. Den höchsten und edelsten Typus der arischen Rasse verkörperten die Germanen, die schlimmsten Vertreter des Semitismus seien die Juden. Folglich müsse zwischen diesen beiden Nationen ein unversöhnlicher Hass herrschen. Die semitischen Juden hätten die antike Welt zersetzt und der heutige „homo judaicus“ verderbe den „homo europaeus“. Diese beiden feindlichen Elemente voneinander zu trennen, den Juden als Fremdkörper aus der europäischen Gesellschaft auszustoßen, sei für den Sieg des deutschen Geistes notwendig. Das auf angeblich anthropologischen Prinzipien aufgebaute, in Wirklichkeit von lächerlichen Widersprüchen und willkürlichen Urteilen strotzende Werk Chamberlains hatte indessen in dem Publikum Erfolg, das gewohnt ist, sich von wissenschaftlichen Surrogaten zu nähren. Diese Ignorantentheorie stand noch niedriger als ihr Vorbild, die „Lehre des Hasses“ von Dühring, die von einem begabten Schriftsteller in einem Wutanfall konzipiert worden war; aber eben deshalb hatte jene einen lauten Erfolg: sie wurde von Pangermanisten, Militaristen und Reaktionären aller Art begrüßt. 1899, nachdem das Buch es zu einer Anzahl von Auflagen gebracht hatte, sprach man von ihm in allen Salons und am kaiserlichen Hof.

Der enge Zusammenhang der Chamberlainschen Rassentheorie mit der preußisch-junkerlichen Reaktion war offensichtlich und kennzeichnete den moralischen Verfall der deutschen Gesellschaft am Ausgang eines Jahrhunderts, das einst andere Offenbarungen des deutschen Geistes gesehen hatte. Dieses in der Blüte der intellektuellen Kultur sittlich verwilderte Deutschland trat ins zwanzigste Jahrhundert mit einem Schandmal an der Stirn — einem mittelalterlichen Ritualmordprozess. Vor Ostern 1900 wurde in der preußischen Stadt Konitz die Leiche des Schülers Winter gefunden, die in Stücke zerschnitten war und deren Teile an verschiedenen Orten verstreut lagen. Zunächst fiel der Verdacht auf den christlichen Schlächter Hoffmann, mit dessen Tochter der Jüngling ein Liebesverhältnis unterhalten hatte, bald aber nach der Verhaftung des Verdächtigen nahm die Angelegenheit eine andere Wendung, die zur Verhaftung des jüdischen Schlächters Israelski infolge der Anklage wegen Ritualmordes führte. Diese Wendung in der Untersuchung des Verbrechens wurde durch die Agitation der Antisemiten in Konitz selbst und in Berlin bewirkt. Das Berliner antisemitische Blatt, die „Staatsbürgerzeitung“, zeterte in jeder Nummer, in Konitz sei von jüdischen Sektierern, die christliches Blut für religiöse Sakramente gebrauchten, ein Ritualmord verübt worden. Allein die abscheuliche Verleumdung fand durch die Untersuchung keine Bestätigung und einige Monate darauf wurden die verhafteten Juden ebenso wie der Deutsche Hoffmann mangels von Beweisen auf freien Fuß gesetzt. Die antisemitischen Agitatoren, denen es also misslang, die gerichtliche Untersuchung zu beeinflussen, erreichten indessen in anderer Hinsicht einen Erfolg, nämlich mit der Anstiftung der Menge zu einem Strafgericht über die Juden. In Konitz und den Nachbarstädten und -dörfern von Pommern warf die aufgehetzte Menge die Fenster in jüdischen Wohnungen ein und beleidigte jüdische Passanten auf der Straße; es kamen auch Versuche wirklicher Pogrome vor, die aber durch das Dazwischentreten der Truppen unterbunden wurden. Im Zusammenhang mit der Konitzer Angelegenheit entstand eine Reihe von Gerichtsprozessen: wegen Falschzeugens während der Untersuchung wurde eine Anzahl Antisemiten zu Zuchthaus verurteilt; um des Gleichgewichts in der Justiz willen wurde aber auch der unschuldige Jude Lewy verurteilt, den man bei dem Worte festnagelte, er hätte den Ermordeten gar nicht gekannt. Andererseits enthüllte das Gericht viele Geheimnisse jener verbrecherischen Organisation, die in der Konitzer Angelegenheit ihre Hand im Spiele hatte. Es stellte sich heraus, dass eine Bande von Journalisten der Ortsblätter und der Berliner antisemitischen Zeitungen die Leute mit Denunziationen und Erpressungen umgarnt hatte: einige boten direkt ihre Dienste sowohl Juden als Judenfeinden für Geld an. Später, als die Leidenschaften sich beruhigten, verurteilte das Berliner Gericht den Schriftleiter der „Staatsbürgerzeitung“ Bötticher und einen seiner Mitarbeiter zu Gefängnisstrafe wegen Verleumdung der Gerichtspersonen, die in der Konitzer Angelegenheit ihre Pflicht ehrlich erfüllt hatten. Mit folgenden Worten charakterisierte der Staatsanwalt die Tätigkeit dieser Journalisten: „Ihr Zweck war nicht die Enthüllung der Wahrheit, sondern die Anfachung des Hasses gegen die Juden in der christlichen Bevölkerung. Die Agitation der Zeitung hat viel Unheil angerichtet: viele Familien wurden durch sie vollkommen zugrunde gerichtet.“ So wurde unter dem Einfluss des Antisemitismus das gedruckte Wort in einem Lande mit einer verhältnismäßig anständigen Presse, die man der feilen Pariser Boulevardpresse gegenüberzustellen pflegte, missbraucht.