§ 108. Die Kongresse der Antisemiten und die Erstarkung der Partei. (1882—90)

Im September 1882 fand in Dresden ein „internationaler“ Antisemitenkongress statt, an dem nur Delegierte zweier Staaten — Deutschlands und Österreich-Ungarns — in einer Gesamtzahl von ca. 300 Personen teilnahmen. Alle Führer des deutschen Antisemitismus erschienen hier, aus Österreich aber kamen die Anführer der ungarischen Antisemiten, die in ihrem Lande im Zusammenhang mit dem Tisza-Eszlarschen Ritualprozess einen judenfeindlichen Terror ins Leben gerufen hatten (unten § 114). Im Sitzungssaal des Kongresses, etwas zur Seite über dem Vorstandstisch, hing das Bild des Opfers des angeblichen Ritualmordes, und so berieten unter den Fittichen eines mittelalterlichen Blutgespenstes die wiederauferstandenen Capistrani über neue Mittel zur Ausrottung des Judentums . . . Die Kongresssitzungen wechselten mit Festessen ab, auf denen Toaste auf die Führer der Bewegung und unter anderen auf den „geistigen Vater des Antisemitismus“, den Fürsten Bismarck ausgebracht wurden. Dabei wurde ein Lied gesungen mit dem Refrain: „Bald, Germanen, sei es wieder deutsch im deutschen Vaterland,“ Stöcker hielt einen Vortrag, in dem er folgende Thesen entwickelte: 1. Es ist notwendig, einen internationalen Bund zur Verhinderung der Erstarkung des Judentums zu gründen; 2. Die Judenfrage ist nicht ausschließlich eine Frage der Rasse und der Religion, sondern auch eine kulturgeschichtliche, wirtschaftliche und sittliche Frage; 3. Der Einfluss der Juden beruht auf gewissenlosem Erwerb und Gebrauch des Kapitals und auf der Feindschaft gegen die christliche gesellschaftliche Ordnung; 4. Sich als Sondernationalität betrachtend und ihren Sitten nach eine besondere Kaste bildend, können die Juden nicht ein organischer Teil der christlichen Gesellschaft werden, die Reformierten unter ihnen sind aber noch gefährlicher als die Orthodoxen; 5. Die Emanzipation der Juden widerspricht dem Wesen des christlichen Staates und ist ein verhängnisvoller Fehler; 6. Die Juden sind gleichzeitig Schrittmacher des Kapitalismus und des revolutionären Sozialismus und führen in beiden Beziehungen den Staat zum Untergang; 7. Gegen das Wachstum des jüdischen Handels müssen gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen werden, um den Handel in den Händen von Christen zu konzentrieren; 8. Der volle Sieg über das Judentum aber wird erst durch die Verwirklichung des christlichen und nationalstaatlichen Geistes auf allen Lebensgebieten erreicht werden.

Dieses Programm Stöckers fand der radikale Antisemit Henrici noch zu gemäßigt. Er erklärte, die Judenfrage könne nur durch die Vertreibung der Juden aus dem Lande auf Grund eines gesetzgeberischen Sonderaktes gelöst werden. „Mögen sie von uns weggehen, wohin — geht uns nichts an.“ In der von ihm beantragten Resolution hatte Henrici die Kühnheit, einen solchen unmenschlichen Akt „auf Grund des Staatsrechtes“ zu verlangen. Der Missionar Dele-Roi schlug vor, die Juden nach Ägypten zu leiten, das damals unter das englische Protektorat kam. Stöcker entgegnete auf diese extreme Lösungen, man müsse die Judenfrage in christlicher Weise, nach und nach lösen, ohne das endgültige Resultat, d. h. das Verschwinden der Juden mit einem Schlag erreichen zu wollen. „Wir dürfen“ — sagte er — „auch nicht vergessen, dass die antisemitische Partei zurzeit noch schwach ist, und würde man die Frage zur Abstimmung stellen, wer ausgewiesen werden soll: die Semiten oder die Antisemiten, so würde das Ergebnis kaum zugunsten der Antisemiten ausfallen.“ Nach der Debatte wurden Stöckers Thesen mit einigen Verbesserungen angenommen.


Ein anderer Held des Kongresses war der Leader der ungarischen Antisemiten, der Abgeordnete Istoczy. Er verlas den Entwurf eines Manifestes „an die Regierungen und die Völker der christlichen Staaten, die von der Gefahr des Judentums bedroht sind“. In jedem Lande müsse diese Gefahr bekämpft werden, im Parlament, in den Stadtmagistraten, in der Presse und in Versammlungen, vor allem aber durch die Organisation antijüdischer Abwehrverbände. Auf internationalem Gebiete täte es vor allem Not, die geheime Tätigkeit der jüdischen Internationale in Paris, genannt „Alliance Israélite Universelle“, lahmzulegen und ihr einen christlichen Weltbund — eine Alliance Chrétienne Universelle entgegenzustellen. Es wurde beschlossen, das vom Kongress einstimmig angenommene Manifest als Inserat im „Weltblatt des Judentums“, den „Times“, zu veröffentlichen, die damals die Pogrompolitik Russlands entlarvte und den Antisemiten verhasst war.

Als politische Partei organisiert, kümmerten sich die Antisemiten vor allem um die Verstärkung ihrer Vertretung in den gesetzgebenden Institutionen. Anfänglich hatten sie einen ungleichen Erfolg bei den Reichstags- und den preußischen Landtagswahlen, die auf zwei verschiedenen Systemen: dem allgemeinen Wahlrecht und dem Klassenzensus beruhten. Die Wahlen von 1884 verschafften den Liberalen und den Demokraten, unter denen fünf Juden waren, einen Erfolg; die Antisemiten hatten nur zwei Abgeordnete erhalten, von denen der eine natürlich Stöcker war. Die Landtags wählen im darauffolgenden Jahre aber brachten den Konservativen-Antisemiten und den ihnen nahestehenden Nationalliberalen, die sich von der fortschrittlichen Partei längst abgezweigt hatten, großen Erfolg; in den Landtag kam nur ein einziger Jude, ein Kandidat der Fortschrittlichen. Diese hatten oft nicht den Mut, jüdische Kandidaten aufzustellen, aus Angst vor deren Durchfall und dem Verlust des Parteimandats. Lediglich die Sozialdemokraten stellten mit größerer Zuversicht jüdische Kandidaten auf, die auf den Listen der Arbeiterpartei durchkamen (Singer u. a.). Die jüdischen Abgeordneten traten übrigens weder im Reichstag noch im Landtag für ihre Stammesgenossen ein und hielten sich hinter dem Rücken der christlichen Beschützer verborgen: sie hielten an der früheren Taktik von Lasker fest, der sich weigerte, ein „Anwalt in eigener Sache“ zu sein (§ 87). Diesem sonderbaren Gebot folgte nach Laskers Tode (1884) sein Freund Bamberger, ein einflussreicher Vertreter des linken Flügels der liberalen Partei, der sich der damals entstandenen „freisinnigen“ Partei anschloss. —

Der grübelnde deutsche Gedanke, der stets bestrebt ist, alles zu einem System zu erheben, versuchte auch dem Mode-Idol des Antisemitismus ein theoretisches Fundament zu unterschieben. Der Verfasser der „Philosophie des Unbewussten“, Eduard V. Hartmann, veröffentlichte 1885 einen Traktat ,,Das Judentum in Gegenwart und Zukunft“, der zwar seinem wissenschaftlichen Tone nach sich hoch über das leidenschaftliche Pamphlet des Maniaken Dühring, aber nicht über das Niveau der sozialen Verirrungen jener Zeit erhebt. Der zur Erkenntnis der geistigen Krankheit des Jahrhunderts berufene Philosoph wird von ihr bis zu einem gewissen Grade selber beherrscht. Hartmann hält die nationale Solidarität der Judenheit der ganzen Welt für eine natürliche Erscheinung, aber für eine Gefahr für die Völker, innerhalb deren die Juden leben; deshalb geniert er sich nicht, den Juden den Vorschlag zu machen, sich von ihrer „nationalen Beschränkung“ loszusagen, ebenso wie sie sich von veralteten Sitten lossagten. Um dieses grausame Ansinnen der Unterdrückung des natürlichen Gefühls einer Volksindividualität zu rechtfertigen, weist Hartmann darauf hin, dass der Judaismus seinen Anhängern die Weltherrschaft verheiße, was sie für andere Völker unbequem macht. Er unterscheidet weiterhin zwischen „Nationalgefühl“ und „Stammesgefühl“ und verlangt, die Juden sollten ihr Stammesgefühl als Opfer auf dem Altar des deutschen nationalstaatlichen Gefühls darbringen. „Ein Nationalstaat,“ sagt er, „welcher ethnologisch und religiös fremdartigen Bestandteilen die volle Gleichberechtigung verleiht, kann dies nur unter der Voraussetzung tun, dass diese Bestandteile ihm zum Dank ein volles und ganzes Herz darbringen.“ Dazu aber reiche weder das „Heimatgefühl“', das den Menschen an Boden und Landschaft bindet, noch ein abstrakter Patriotismus, der seinem Vaterland ein größeres Gedeihen als andern Ländern wünscht und im Kriegsfalle bereit ist, für seine Verteidigung Gut und Blut zu opfern; nein, unbedingt erforderlich sei das ,,Nationalgefühl“ (für den Nationalstaat), das mit Liebe und Begeisterung die Kulturideale seiner Nation als die größten Geistesgüter hegt. Das Judentum habe indessen den umgebenden Völkern sein ganzes Herz noch nicht entgegengebracht, denn das in ihm erhalten gebliebene Gefühl der Stammessolidarität wetteifere mit dem nationalstaatlichen Gefühl. Das Judentum sei ein internationales Freimaurertum (folgt die übliche Berufung auf die Alliance Israélite). Wollen die Verteidiger des Judentums ihren Stammesgenossen nützen, so müssten sie eine völlige Auflösung unter den Völkern und die Ersetzung des Stämmesgefühls durch das Nationalgefühl predigen. — So klingt also auch in Hartmanns Schlussfolgerungen derselbe brutale Ausruf des antiken Barbaren: Vae victis! an. Der nationale Egoismus des herrschenden Volkes sei berechtigt, von der Minorität die Unterdrückung ihres Stammesgefühls, d. h. ihrer Volksindividualität zu fordern. Auch der Philosoph konnte sich nicht enthalten, die Juden daran zu erinnern, dass die bürgerliche Gleichberechtigung ihnen nur unter der Voraussetzung des Verzichts auf ihre eigene Nationalität gewährt worden war, und der Vertrag folglich wegen Verletzung der Bedingung für ungültig erklärt werden könnte.

In welchem Maße Hartmanns Anschauungen von anderen deutschen Denkern jener Epoche geteilt wurden, ersieht man aus einer damals veranstalteten literarischen Umfrage. Der jüdische Publizist I. Singer aus Österreich veröffentlichte 1883 eine Schrift „Sollen die Juden Christen werden?“ und versandte sie an hervorragende Männer verschiedener Länder mit der Bitte, sich über den Antisemitismus auszusprechen. Die Mehrzahl der Antworten, die in einer neuen Schrift publiziert wurden *), verurteilten den Antisemitismus. Die Naturforscher Moleschott, Büchner, Karl Vogt und Dubois-Reymond erblicken in der antisemitischen Bewegung das Resultat des verschärften Existenzkampfes, der wirtschaftlichen Konkurrenz und des brutalen Egoismus. Vogt wiederholt einen von ihm bereits früher ausgesprochenen Gedanken: „Der Schwerpunkt der Judenfrage liegt nicht auf religiösem Gebiete, sondern in dem instinktiven Hasse der Unbefähigten gegen die Befähigten sowie in einem künstlich angefachten nationalen Antagonismus.“ Viele, selbst dem Judentum günstige Antworten enthalten aber Vorbehalte, die sie den Anschauungen Hartmanns annähern. Dafür ist besonders die Antwort des volkstümlichen Historikers Johannes Scherr charakteristisch. Als Freidenker die christliche Auffassung der Judenfrage verwerfend, sagt Scherr indessen: „Wenn die Juden eine eigene Nation sein und bleiben wollen, so ist das ihr Recht. Aber nicht minder ist es das Recht der andern, den Juden zu sagen: Jüdische Nation, schaff dir auch einen eigenen Nationalstaat, sei es in Palästina oder wo immer. Ein Nationaljude und ein Nationaldeutscher zugleich zu sein, das ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Das Gleiche behaupteten G. von Amyntor und andere: „Solange der Jude eine Nation innerhalb einer andern Nation bilden will, wird der Antisemitismus nicht entwaffnet werden.“ Alle diese Männer schienen nicht zu bemerken, dass die Mehrzahl der deutschen Juden schon längst die Verpflichtung erfüllte, die sie bei der Emanzipation eingegangen war, und sich eifrig assimilierte — und nichtsdestoweniger gerade mitten während dieser Verdeutschung brutal zurückgewiesen wurde. Die Naturforscher zeigten größere Einsicht als die Soziologen: der Antisemitismus war ihnen mehr ein Produkt niedriger Instinkte als sublimer Emotionen und Ideen. Es war ein Feldzug des nationalen Egoismus der Starken gegen den Nationalindividualismus der Schwachen, ein Feldzug der Gewalt gegen das Recht.

*) Briefe berühmter christlicher Zeitgenossen über die Judenfrage. Wien 1885.

Es gab einen Augenblick, da es schien, dass der Antisemitismus jener geheimen Unterstützung von oben, die er einige Jahre hindurch genossen hatte, verlustig gehen sollte. Kaiser Wilhelms I. Tod machte den Thron der Hohenzollern für den einzigen freisinnigen Vertreter dieser Dynastie, Friedrich III. frei. Allein die Regierungszeit dieses schwerkranken Mannes währte nur drei Monate (März — Juni 1888). Friedrich hatte schon begonnen, das preußische Ministerium von reaktionären Elementen zu säubern, und hatte auch beabsichtigt. Stöcker vom Hofe zu entfernen. Die Juden hatten also Grund zur Hoffnung, dass der Kronprinz, der den Antisemitismus „die Schmach des Jahrhunderts“ genannt hatte, ihm auf dem Throne entgegenwirken würde. Deutschlands Geschichte würde vielleicht ein anderes Aussehen erhalten haben, wäre dieser konstitutionelle Monarch länger am Leben geblieben. Aber dem Schicksal gefiel es, ihn durch den jungen Wilhelm II., eine Personifikation aller Laster des neuen Deutschland, zu ersetzen. Ein Anbeter der Staatsidee und des Militarismus, echt deutscher Monarch im preußisch-junkerlichen Sinne, erweckte der junge Kaiser in den Herzen der Antisemiten wieder freudige Hoffnungen. In der ersten Zeit blieben diese Hoffnungen zwar unerfüllt: bei der Beantwortung der Glückwünsche anlässlich der Thronbesteigung erklärte der neue Monarch, nach überlieferter Etikette, für ihn seien alle Religionsbekenntnisse gleich usw. Solche Erklärungen konnten vorderhand die Befürchtung einer gesetzgeberischen Abschaffung der bürgerlichen Gleichberechtigung beheben; aber auch Wilhelm II. tat nichts, um die Verwaltungswillkür, die die Gleichberechtigung der Juden de facto beschnitt, zu beseitigen. Alle reaktionären Elemente in der Regierung behielten ihre Posten oder wurden durch ihresgleichen ersetzt, und die Propaganda des extremen Antisemitismus stieß auf keine polizeilichen und Zensurhindernisse, die sonst jedes freie Wort von links unterbanden.

1889 fand eine Tagung der Antisemiten in Bochum statt, an der die radikaleren Parteielemente, denen Stöckers gemäßigte Taktik nicht mehr genügte, teilnahmen. Hier gaben Vertreter des „reinen Antisemitismus“ den Ton an: Liebermann von Sonnenberg und der neue Götze der „Partei, Otto Böckel, ein Reichstagsabgeordneter, der in Hessen eine antisemitische Volkspartei gegründet hatte. In seinen Reden und Broschüren *) verurteilte Böckel die rechtsstehenden Antisemiten, die sich auf Agrarier und Junker stützten, und verlangte, die Antisemiten sollten als selbständige Partei, die die Interessen der Bauern und des Kleinbürgertums vertritt, auftreten (Böckel wurde deshalb scherzhaft Bauernkönig genannt). Der Bochumer Kongress faste denn auch den Beschluss, dass der Antisemitismus gleichzeitig die Erstarkung des Deutschtums und soziale Reformen erstreben sollte, und gab deshalb der Partei eine neue Bezeichnung als „Deutsch-Soziale Partei“. Durch die Änderung des Parteinamens erhielt aber das Parteiprogramm nur noch einen radikaleren Charakter: der Kongress beschloss, dafür einzutreten, dass den Juden das Wahlrecht für das Parlament und sogar für die Stadtvertretungen genommen werde und sie weder zum Staatsdienst noch zum Kommunaldienst zugelassen werden sollten. Richter, Anwälte, Ärzte und Techniker sollten die Juden nur für ihre Stammesgenossen sein dürfen. Jüdische Kaufleute dürften nicht Mitglieder von Handelskammer sein; die Juden müssten als Ausländer vom Militärdienst befreit werden und statt dessen eine Kopfsteuer bezahlen. Ferner wurde verlangt, dass die Regierung den Talmud einer wissenschaftlichen Prüfung durch Sachverständige unterwerfen solle, um die „staatsgefährlichen“ Lehren dieses Buches aufzudecken. Es wurde für notwendig befunden, alle noch nicht naturalisierten fremden Juden aus Deutschland unverzüglich auszuweisen und die Grenzen für die Einwanderung zu sperren. Dieses Verlangen wurde gestellt, nachdem durch eine grausame Verfügung der preußischen Regierung aus Preußen bereits Hunderte jüdischer Familien, die sich dort schon lange angesiedelt hatten, vertrieben worden waren, neue Emigranten aber von den Grenzgendarmen erbarmungslos nach Russland zurückgetrieben wurden. — Diese Forderungen der radikalen Antisemiten gefielen den interessierten Klassen der Land- und Stadtbevölkerung, die die jüdische Konkurrenz loswerden wollten, sehr gut. Die Radikalen eroberten sich alle Sympathien, die Stöckerianer aber traten in den Hintergrund. Stöcker selbst hatte zu dieser Zeit keinen Einfluss, mehr am Hofe, da er infolge verschiedener Intrigen vom Hofpredigeramt abgesetzt worden war. 1890 trugen bei den Reichstagswahlen die extremen Antisemiten den Sieg davon; fünf antisemitische Deputierte kamen in den Reichstag, darunter Liebermann und Böckel.

*) „Die europäische Judengefahr“, 1887; „Die Quintessenz der Judenfrage“, „Juden, die Könige unserer Zeit“, 1892.

Die deutsche Judenheit aber kämpfte gegen die bösen Geister des Antisemitismus nur mit hohen und heiligen Beteuerungen. 1884 veröffentlichte der Berliner Rabbinerkongress eine Erklärung, dass die von den Antisemiten verlästerte sittliche Lehre des Judentums sich durch ideale Reinheit auszeichne. „Im Namen des Einzigen Gottes“ erklärten hundertzwanzig Rabbiner feierlich, dass der Judaismus auf den Geboten der Liebe zum Nächsten, sogar zum Fremden und Andersgläubigen, sowie auf vollständiger religiöser Duldsamkeit beruhe, wie aus jüdischen Texten hervorginge, die auch den Antisemiten wohlbekannt wären; begegneten aber in dem späteren religiösen Schrifttum Aussprüche, die diesen Geboten widersprechen, so seien sie nur Ansichten Einzelner, die einer verpflichtenden Kraft entbehren. Zu demselben Zweck veröffentlichte der jüdische Gemeindebund 1885 „Grundsätze der jüdischen Sittenlehre“, die, nach den Worten eines naiven jüdischen Historikers, „überall guten Eindruck machten“, wahrscheinlich — auf die Juden selbst, die sich in den Gedanken einlullten, mit Weihrauch den Teufel ausräuchern zu können.

Bei vollständiger, Resignation auf nationalpolitischem Gebiete zeigten die jüdischen Gemeinden indessen große Empfindlichkeit dort, wo das religiöse Leben berührt wurde. 1886 erfanden die Antisemiten ein neues Mittel, den Juden einen bösen Streich zu spielen: von verschiedenen Tierschutzvereinen wurde dem Reichstag eine Petition eingereicht, in der das Verbot der jüdischen „Schechita“ verlangt wurde, nach der das Tier ohne vorherige Betäubung geschlachtet wird, wodurch seine Leiden angeblich gesteigert werden. Angesichts der religiösen Bedeutung der Schechita, die sich auf alte anatomische Erwägungen gründet und keine Abweichung zulässt, wäre das Stattgeben der Petition dem Verbot des Fleischessens für orthodoxe Juden gleichkommen. Die jüdischen Gemeinden begannen dem Reichstag zahlreiche Gegenpetitionen einzureichen. Hundertfünfzig Gutachten christlicher Anatomen und Tierärzte wurden eingeholt, die bezeugten, dass die Schechita bei richtiger Ausführung für das Tier nicht schmerzlicher wäre als andere Schlachtmethoden und dass das Fleisch sich dabei noch besser konserviere. 1887 wurde die Frage im Reichstag erörtert, im Zusammenhang mit dem Entwurf einer Änderung des Strafgesetzes über Verletzungen der allgemeinen Schlachtregeln. Für die Juden trat der bekannte Führer des katholischen Zentrums Windthorst ein, der erklärte: „Um eines angeblichen Tierschutzes willen darf das religiöse Gewissen von Menschen nicht vergewaltigt werden.“ Die Frage wurde zugunsten des Menschenschutzes gelöst. In das Gesetz wurde eine Klausel eingefügt, dass es „unter der Bedingung der möglichsten Beobachtung der religiösen Gebräuche“ zu gelten habe. Diese Lösung war indessen nicht für alle Bundesstaaten verpflichtend. In Sachsen ruhten die Antisemiten nicht, bis sie bei ihrer Regierung das Verbot der Schechita durchsetzten (1892), wodurch die orthodoxen Juden Sachsens zu unfreiwilligen Vegetariern hätten werden müssen; sie umgingen aber das Gesetz, indem sie koscheres Fleisch aus jenseits der sächsischen Grenze liegenden Nachbarorten einführten.

Es ging auch nicht ohne den Versuch ab, die alte, in Deutschland längst vergessene Legende vom Ritualmord wiederzuerwecken. In demselben Pommern, in dem zu Beginn der achtziger Jahre Pogrome stattgefunden hatten, wurde 1884 im Dorfe Skurz im Fluss unter der Brücke die Leiche eines vierzehnjährigen Knaben, des Sohnes des Schneiders Cybula, gefunden, von der in regelmäßiger Weise die Glieder abgeschnitten waren und die blutlos war. Die Antisemiten des Ortes mit dem katholischen Fleischer Behrent an der Spitze warfen den Juden gleich einen Ritualmord vor, indem sie sich auf die Zergliederung und Entblutung der Leiche beriefen. Ein Falschzeuge, ein Tagelöhner, wurde gedungen, der aussagte, am Tage des Verschwindens des Knaben an der Brücke den Juden Josefsohn, einen Pferdehändler, gesehen zu haben. Josefsohn wurde verhaftet und mit ihm noch zwei Juden: der dreiundsiebzigjährige Kaufmann Voß mit seinem Sohn, in deren Hauskeller ein Topf mit Blut gefunden worden war. Nach einer in Berlin vorgenommenen chemischen Untersuchung stellte es sich jedoch heraus, dass es Ochsenblut war. Es war also klar, dass eine verbrecherische Machination der Ankläger im Spiele war. Nach einer Verfügung des Innenministers und des Justizministers wurde nach Skurz ein Kriminalkommissar zwecks Untersuchung der Angelegenheit entsandt. Bald gelang es ihm, das Lügennetz, in das Unschuldige eingefangen worden waren, zu entwirren. Es stellte sich heraus, dass Behrent verschiedenen Personen Geld angeboten hatte, damit sie gegen die Juden aussagen sollten; der Tagelöhner, der gegen Josefsohn ausgesagt hatte, gestand beim zweiten Verhör, nicht ihn, sondern Behrent am Unglückstage an der Brücke gesehen zu haben. Behrent wurde nach diesen offenbaren Indizien dem Gericht übergeben. Der Prozess kam vor ein Schwurgericht in Danzig, das aus sechs Katholiken und sechs Protestanten bestand. Vor dem Gericht stellte sich heraus, dass Behrent ein wütender Antisemit war, der sich alle Mühe gab, die Juden aus dem Dorfe zu verdrängen. Seine Teilnahme am Mord war offensichtlich, aber im letzten Moment änderte der Tagelöhner seine Aussage wieder, indem er erklärte, sich nicht erinnern zu können, ob er Behrent an der Brücke gesehen hatte. Die Stimmen der Geschworenen teilten sich: sechs Protestanten sprachen Behrent schuldig, sechs Katholiken unschuldig. Das war begreiflich: der Angeklagte war selber Katholik, die Katholiken glauben aber an die mittelalterliche Legende überhaupt mehr als die Protestanten. Auf diese Weise wurde Behrent — nach der Regel von der Stimmengleichheit im Schwurgericht — vom Gericht freigesprochen (1885). Sobald dieser notorische Verbrecher auf freien Fuß gesetzt war, beeilte er sich, nach Amerika abzureisen.