Die ideellen Vorbedingungen eines ukrainischen Staates.

Es erübrigt sich noch über das nationale Bewusstsein der Ukrainer und den Einfluss der orthodoxen Kirche auf dasselbe einige Worte zu sagen, da auch in der Richtung gegen die Reife der Ukrainer zur Selbständigkeit — wiederum hauptsächlich polnischerseits!. — „Bedenken“ erhoben werden.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die orthodoxe Kirche in der Ukraine zu einem Russifizierungsmittel herabgesunken ist, obwohl es — wie gesagt — viele Ukrainer zwischen der orthodoxen Priesterschaft gibt Höhere Kirchenposten in der Ukraine werden dagegen ausschließlich von den Russen bekleidet, weshalb zwischen der Dorfgeistlichkeit und der höheren Priesterschaft ein starker Gegensatz vorhanden ist — umso mehr, als bei den Ukrainern die Tradition einer selbständigen ukrainischen Nationalkirche, die im 18. Jahrhundert gewaltsam aufgehoben und der russischen „Heiligen Synode“ unterstellt wurde, bis jetzt lebendig, ist. Im Allgemeinen hat die ukrainische Orthodoxie auch noch bisher in ihrem Innern einen ganz anderen Charakter behalten als die groß-russische. Die beiden zu vermengen, so wie es manche Schriftsteller tun, das heißt, gar nichts von der Sache zu verstehen oder absichtlich die Sache vernebeln. Es ist eine Tatsache, dass ein starkes Bestreben zu einer von der russischen „Heiligen Synode“ unabhängigen Nationalkirche (so wie dieselbe bis in das 18. Jahrhundert bestand, oder wie sie im Bulgarien oder Rumänien besteht!) bei den Ukrainern sehr stark ist, von Russland aber noch ärger als die ukrainische Sprache oder Presse verfolgt wird. So z. B. wurde der podolische Bischof Parfenius strafweise nur dafür versetzt, dass er den Dorfpfarrern ukrainische Predigten zu halten befahl, die ukrainische Übersetzung der Bibel redigierte und im orthodoxen Priester-Seminar in Kamenetz Podolskyj ukrainische Literaturgeschichte und Landesgeschichte vortragen ließ. Ukrainische Priester, die ukrainisch zu predigen oder ukrainische Bücher oder Zeitungen zwischen den Bauern zu verbreiten wagen, werden in der Regel nach Sibirien versetzt. Ebenso wurden ukrainische Mönche von Athos, die hier mit den russischen Vorgesetzten in einen Konflikt auf der Grundlage des kirchlichen Separatismus geraten sind, über ganz Russland zerstreut.


Ein ukrainischer Staat aber lässt auch eine selbständige ukrainische Nationalkirche voraussetzen, was eine Rückkehr zum geschichtlichen status-quo bedeuten und die ukrainische nationale Kirche vom jeglichen Einflüsse der russischen befreien wird. Es ist ja eine Tatsache, dass die ukrainische nationale Orthodoxie in den 13.—17. Jahrhundert unter den starken und immer wachsenden Einflüssen der lateinisch-westlichen Kultur war. Die ukrainischen Kirchenschulen im 16 — 17. Jahrhundert waren ja lateinisch, ebenso die ukrainische Mohylaner-Akademie zu Kijew; die ukrainischen Steinkirchen dieser Zeit sind in der romanischen Renaissance in dem Barockstil gebaut (die Kirchen der Hl. Paraskewa, Woloska-Kirche und St.-Georg-Kathedrale in Lemberg; die Pfarrkirche und der sog: Fürst-Ostrozski-Glockenturm in Tarnopol; die Lawra-Petscherska-Kirchen und -Glockentürme, wie auch St.-Andreas-Kirche, St.-Sophie-Glockenturm usw. in Kijew: die sog. Maseppa-Kirchen in vielen Städten des Tschernyhower- und Poltawer Gouvernements u. a.). Ebenso wird die hergestellte ukrainische Nationalkirche nicht nach Osten, sondern nach Westen gravitieren. Dazu gibt es unter den Ukrainern auch ein paar Hunderttausend römischer Katholiken im Podolien, Wolhynien und im Kijewer Gouvernement, die von den Polen ganz fälschlich und tendenziös als „Polen“ gerechnet werden, wie auch einige Millionen von Baptisten („Stundeten“), die der russischen Orthodoxie höchst feindlich sind. Im Cholmer-Lande gibt es auch viele geheime Anhänger der sog. „Union“ mit Rom. d.i. eben solche griechisch- Katholiken, wie die galizischen Ukrainer es sind.

Trotz allen ungünstigen Umständen ist aber das Nationalbewusstsein bei den ukrainischen Volksmassen in der Regel sehr stark und zwar umso stärker, je mehr nach Osten und Südosten, schwächer dagegen nach Nordwesten, wo der ukrainische Bauer unter dem kombinierten Drucke polnischer Großgrundbesitzer, jüdischer Wucherer und russischer Tschinowniks zu sehr niedergeschlagen und verarmt ist und wo die höheren ukrainischen Stände nur viel schwächer vertreten sind. Je näher aber dem Dniepr, desto nationalbewusster wird der Bauer, so, dass er dem polnischen Bauer in der Hinsicht nicht nur gleichsteht, sondern in den Gouvernements Poltawa, Tschernyhiw, Katerynoslaw, südlicher Teil von Kijew, östlichen Teil von Podolien usw. den polnischen Bauern aus Russisch-Polen weit übertrifft. Der ukrainische Bauer weiß, dass er kein Russe ist und hasst den Russen (den „Moskalj“ oder „Kazap“) vom ganzen Herzen; er schließt mit den Russen nie eine Mischehe; er siedelt sich nie neben den Russen an. Ebenso aber — wenn nicht noch mehr, hasst er den Polen. Selbstverständlich darf man von einem ukrainischen Bauer kein so kristallisiertes Nationalbewusstsein fordern, wie es z. B. bei dem deutschen Intellektuellen oder polnischen Adeligen der Fall ist. Jedenfalls aber besitzt dieser Bauer ein entwickeltes Bewusstsein seiner nationalen Besonderheit und erachtet sich für ein besonderes individualisiertes Volk, indem er sich nie mit einem Russen oder Polen identifizieren lässt, dieselben für fremde Eindringlinge erachtet und sich mit einem besonderen Namen (Ukrainec, Maloros oder Chachol) nennt.

Überdies besitzt der ukrainische Bauer seine eigene geschichtliche Tradition, was bei dem polnischen, russischen oder anderen Bauern nicht der Fall ist! Das ukrainische Volk hat bis heute zahlreiche geschichtliche Lieder und Rapsodien („Duma“) behalten und ist — selbstverständlich in großen Zügen — seiner Vergangenheit bewusst. Es wird bis heute über Tartarennot gesungen und erzählt; in der ganzen Ukraine werden bis heute die Kriegslieder aus den ukrainischen Aufständen gegen Polen gesungen, die Geschichte dieser Kämpfe erzählt; bis heute noch singen die Volkssänger die Rapsodien („Duma“) über den Hetman Chmelnyzkyj und eine der populärsten Lieder vom Ssan im Westen, bis Kubanj im Osten ist das Heldenlied über die Hetmanen Ssahajdatschnyj und Doroschenko; es lebt auch in den zahlreichen Volksliedern eine Tradition der Saporoger-Ssitsch und ihrer Vernichtung durch die Russen, wobei die Zarin Katharina II. für diese Vernichtung mit besonderem Hasse als „Hundestochter“ an den Pranger gestellt wird. Diese lebendige Volkstradition, der sich eine gleichentwickelte in Europa kaum auffinden lassen wird, kommt davon, dass die ukrainische Geschichte seit dem 14. Jahrhundert eine Geschichte der Nationalkämpfe um die Nationalexistenz ist, an welchen das gesamte Volk regsten Anteil genommen hat. Deshalb empfindet der ukrainische Bauer bis heute sehr lebhaft seine Vergangenheit und wenn er seine ukrainische Geschichtserzählung in die Hand bekommt, dann liest er dieselbe fieberhaft und wird sofort zu einem bewussten ukrainischen Patrioten. Es wird gar nicht übertrieben sein, wenn wir sagen, dass so bewusste Nationalpatrioten, wie es zwischen den ukrainischen Bauern gibt, bei den Bauern keines einzigen Volkes von ganz Europa sind. Deshalb eben verbreitet sich die ukrainische Nationalbewegung, wenn sie nur einmal Wurzel gefasst hat, so rasch in den ukrainischen Volksmassen, was auch Miljukoff in der russischen Duma zugestehen musste.

Schließlich muss hervorgehoben werden, dass die ukrainische Kultur gar nicht so schwach ist, wie man es infolge der Tatsache, dass sie in Europa fast unbekannt ist, vermuten könnte. Die ukrainische Literatur, welche nach der russischen und polnischen den dritten Platz zwischen den gesamten slawischen Literaturen behauptet und welche vieles hervorgebracht hat, was auch einer größeren westeuropäischen Literatur zur Ehre gereichen könnte, hat eine tausendjährige Vergangenheit hinter sich und ist jetzt im Stadium einer regen Wiedergeburt. Überdies zeichnet sich die moderne ukrainische Literatur durch einen wahrhaft volkstümlichen Zug aus, der der ukrainischen Literatur dank ihrer Originalität einen besonderen Platz unter den Literaturen anderer Kulturvölker einräumt. Die junge ukrainische Wissenschaft hat auch manches bemerkenswerte geleistet und solche Namen auf dem Gebiet der Historiographie, Philologie, Ethnologie, Literaturgeschichts-Forschung, Anthropologie, Rechtsgeschichte, Rechtswissenschaft, Elektrotechnik, Chemie, Medizin u. a. wie Puluj, Horbatschewskyj, Borysikewytsch, Wowk, Antonowytsch, Kostomariw, Hruschewskyj, Franko u. a. sind auch in den Kreisen der diesbezüglichen Fachmänner Westeuropas gut bekannt. Das ukrainische Theater ist sehr hoch entwickelt, die ukrainische Opernmusik steht der russischen oder der polnischen gar nicht nach und das ukrainische Drama überragt absolut alle anderen slawischen, das polnische und russische nicht ausgenommen. Die ukrainischen Theater, deren es ein paar Dutzende gibt, beeinflussen sehr stark die Städte. Die ukrainische Volksmusik ist die entwickelteste in ganz Europa; die Volksornamentik und Keramik ist sehr reich und fein. Die Ukrainen besitzen auch einen eigentümlichen Baustil, in welchem tausende von alten Kirchen gebaut sind und die jetzt eine moderne Renaissance erlebt; er wird bei Schul-(National-)Häusern, Semstwopalais u. a. Bauten z. B. Semstwopalais in Poltawa) mit besonderem Erfolg angewendet. Die junge ukrainische Malkunst weißt sehr schöne auf Privatkosten gesammelte Museen in Lemberg, Kijew, Tschernyhiw, Poltawa, Katerinoslaw u. a. auf; wissenschaftliche Vereine befinden sich in Lemberg und Kijew. Dass die ukrainische Presse in Russland relativ schwach ist, ist einerseits die Folge der besonderen Drangsalierungen derselben durch die russische Zensur, andererseits des hohen Analphabetismus der ukrainischen, sonst sehr intelligenten Volksmasse, was wiederum die Folge der russischen Schule ist.

Im Allgemeinen besitzen also die Ukrainer eine stark ausgeprägte nationale Physiognomie, die — neben den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten, die Osteuropa seit der sog. russischen Revolution bietet und immer mehr bieten wird — volle Bürgschaft für ein nahes und rasches Emporblühen der ukrainischen Nation leistet. Die junge, emporstrebende, reichbegabte, gesunde und zahlreiche ukrainische Nation wird sich trotz aller Hemmnisse in der kurzen Zeit von paar Dezennien durchsetzen, wenn auch im Osteuropa keine Grenzverschiebung auf den ukrainischen Ländern stattfinden sollte. Wenn man meint, dass ohne auswärtige Hilfe die Ukrainer untergehen oder weiter ein nur karges Leben fristen müssten, dann irrt man gründlich. Schon jetzt sind es unter den Russen ernste Kreise, die die ukrainische Frage anders, als bisher, behandelt zu sehen wünschen. Der bekannte Theoretiker des russischen Liberalismus Struve musste nur wegen seiner intransingenten Stellung gegen das Ukrainertum aus der Leitung der Kadettenpartei austreten und die Oktobristen haben sich auch schon paarmal gegen die bisherige russische Politik in der ukrainischen Frage ausgesprochen — von der Sozialisten und Arbeits-Partei (trudowiki) nicht zu erwähnen! Es kann in kurzer Zeit dazu kommen, dass die Russen — um nur ihre Machtstellung in Europa, den Einfluss auf das Slawentum und den Zutritt zum Schwarzen Meere zu behalten — sich mit dem Ukrainertum zu versöhnen und auszugleichen genötigt sehen werden. Der Entwicklungsprozess in Russland führt unumwunden zu einer solchen Lösung, so dass die Ukrainer höchstens in einigen Dezennien eine Autonomie sicher bekommen, eventuell kann sogar das Verhältnis der Realunion aus dem Perejaslawer Traktate (1654) wiederhergestellt werden. Wenn die Ukrainer jetzt trotzdem gegen Russland sind, so ist das nicht anderes, als Suchen eines kulturellen und wirtschaftlichen Anschlusses an das Europa, wohin die Ukrainer ihrer Lage, Rasse, Geschichte und Kultur nach gehören.