Die großen politischen Aufgaben des Krieges im Osten und die ukrainische Frage

Autor: Dr. Longin Cehelskyj (1875-1950), Reichsratsabgeordneter, Rechtsanwalt, Journalist, Verleger, Erscheinungsjahr: 1915

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ukraine, Russland, Befreiung, Erlösungspropaganda, Erlösermission, Schwarzes Meer, Kuban, Don, Tschernigow, Kiew, Charkow, Poltawa, Podolien, Kaukasus, Balkanvölker,
„Dieser ungeheure Weltkrieg, der die Fugen der Welt klaffend macht, wird alte vergangene Zustände nicht zurückführen. Ein Neues muss entstehen. Wenn Europa je zur Ruhe kommen soll, kann es nur durch eine unantastbare und starke Stellung Deutschlands geschehen. Deutschland muss sich seine Stellung so ausbauen, so festigen und stärken, dass die anderen Mächte niemals wieder an eine Einkreisungspolitik denken. Zu unsrem und zum Schutz und Heile aller Völker müssen wir die Befreiung der Weltmeere erringen. Wir wollen sein und bleiben ein Hort des Friedens und der Freiheit der großen und der kleineren Nationen. Ich beziehe das keineswegs bloß auf die Völker germanischer Rasse. Wir halten den Kampf durch, bis die Bahn frei wird für ein neues, von französischen Ränken und moskowitischer Eroberungssucht sowie englischer Vormundschaft befreites Europa.“

(Aus der Reichstagsrede des Reichskanzlers Dr. von Bethmann-Hollweg vom 19. August 1915.)

********************************************
Einleitung.

Die auf der Ostfront errungenen Triumphe der deutschen Waffen haben eine Situation geschaffen, in der sich weite Ausblicke auf die nähere und die entlegenere Zukunft eröffnen. Es scheint der Moment herangerückt, in dem wichtige entscheidende Beschlüsse fallen müssen. Das entnimmt man auch der großen Rede des deutschen Reichskanzlers im Reichstage vom 16. August d. J. Große Ziele des tobenden Weltkrieges sind an unser Bewusstsein näher herangerückt, tauchen aus dem Gewimmel der Weltereignisse in immer mehr konkreten Umrissen heraus und bahnen sich den Weg zum klar bewussten Willen der großen deutschen Nation. „Ein Neues muss entstehen“ — sagte der Reichskanzler in seiner Rede bei dem Beifall des gesamten Reichstages. Und dies Neue liegt seinen Worten nach in einer so gestärkten Stellung Deutschlands, dass eine Einkreisungspolitik nicht mehr denkbar wäre, dass die Weltmeere befreit werden, dass durch Deutschlands Stärke der Weltfrieden gesichert werde, dass die Nationen ihre Freiheit bekommen und das Europa von der moskowitischen Eroberungssucht und französisch-englischen Gelüsten befreit werde.

Die deutsche Nation hat sich dem klaren Bewusstsein dieser großen weltgeschichtlichen Ziele dicht heran genähert, wie zugleich der Überzeugung, dass diese Ziele den Feinden Deutschlands aufzuzwingen sind. Seit dem Fall Warschaus, Iwangorods, Nowo-Georgiewsks, Kownos und Brest-Litowsks ist der große Krieg aus einem Verteidigungskriege zu einem Schaffenskriege geworden. Und die weltgeschichtliche Rolle des Schaffenden ist der deutschen Nation zugefallen. Die Welt soll so aussehen, wie es die deutsche Nation gewillt sein wird. Die großen Siege im Osten haben den Deutschen den Schlüssel zur Entwicklung weiterer Kriegsereignisse, zu der Gestaltung Europas und der Welt nach dem Kriege in die Hände gelegt. Deshalb sind die nächsten Entschlüsse von weltgeschichtlicher Tragweite.

Die Rede des Reichskanzlers hat die Endziele des Krieges als eine politische These formuliert. Es handelt sich jetzt um das Konkretisieren, um die reelle Ausführung dieser Thesen, um deren Inkraftsetzung durch politische Tatsachen, durch das reelle politische Schaffen, was wiederum von den militärischen Tatsachen und kriegerischen Schaffen vorbedingt wird. Die bewunderungswürdige deutsche Armee hat Polen und Litauen hinter dem Rücken und befindet sich schon auf den weißruthenischen und ukrainischen Gebieten Russlands. Mit dem Momente, als die ethnographische Grenze zwischen den Polen und Ukrainern an der Wiepr- und Narewlinie passiert wurde, schob sich auch die ukrainische Frage, als ein Bestandteil der großen Kriegsziele, näher heran und begann aktuell zu sein. Die Entscheidung, welche in Kürze fallen muss, wird auch über die Zukunft der Ukraine entscheiden. Aus verschiedenen Erscheinungen aber lässt sich schließen, dass sowohl die breite deutsche Öffentlichkeit, wie auch die maßgebenden deutschen Kreise nicht vollständig mit der ukrainischen Frage vertraut sind, infolgedessen auch dieselben kein besonderes, jedenfalls kein zwingendes Interesse für sie zu haben scheinen.

Die nordwestlichen Gebiete Russlands mit Petersburg als Ziel scheinen die allgemeine Einbildungskraft viel mehr zu beschäftigen, obwohl es von Riga nach Petersburg ebenso weit wie von Berestj-Lytowskyj nach Kijew ist, obwohl Petersburg eigentlich eine auf nichtrussischem Boden gelegene Grenzstadt ist, welche für das nationale Leben und die staatliche Macht Russlands eigentlich keine ausschlaggebende Bedeutung hat, und welche von dem eigentlichen Zentrum Russlands, Moskau, durch schwer zugängliche, arme, raue, unermessliche Gebiete Nordrusslands getrennt ist. Die Ukraine dagegen mit ihren viel kleineren Dimensionen, ihrer Nähe zu den Verbindungslinien Galiziens und Polens, ihrem viel milderen und trockeneren Klima, wie auch ihrer viel dichteren Bevölkerung und ihrem Nahrungsmittelreichtum, scheint diese allgemeine Einbildungskraft viel weniger zu interessieren, obwohl es von Lemberg oder Berestj-Lytowskyj nach Kijew nicht weiter als von Lemberg nach Breslau oder von Berlin nach Krakau ist. In der Presse wird wiederholt die Frage der Ostseeprovinzen Russlands erörtert, wobei man öfters zu übersehen scheint, dass es in denselben drei mit einem sehr starken Nationalgefühl ausgestattete Völker — Litauen, Letten und Esten — gibt, die mit den russischen Polen insgesamt bisher eine stark russenfreundliche Orientierung an den Tag gelegt haben und die vom Standpunkte deutscher Staatsinteressen ein höchst zentrifugales Element darstellen. Man verliert aber gewissermaßen die Tatsache aus den Augen, dass es im Südwesten Russlands ein nationales Element gibt, dessen geographische Lage und dessen nationalpolitisches Verhältnis zu den Russen — wie auch zu den Polen — es unbedingt zu einem natürlichen Bundesgenossen Deutschlands machen müssen. Dass die Deutschen ein reges Interesse für die baltischen Provinzen haben, ist leicht zu verstehen. Es ist ja ein altes deutsches Expansionsgebiet, welches nach der Schlacht bei Grünwald-Tannenberg und noch mehr nach der Annektierung dieser Provinzen durch Russland für das Deutschtum verloren zu sein schien. Wenn man aber das rege Interesse für die Letten beobachtet, bekommt man den Eindruck, dass daran einen beträchtlichen Anteil geschichtlich-politische Romantik hat, während die reellen großen und modernen Interessen Deutschlands ganz anderswo — im Südosten — in der Richtung nach Bagdad und gegen den Indischen Ozean hin — sich befinden. Und in der letztgenannten Richtung liegt ja auch die Ukraine, das ukrainische Gestade des Schwarzen Meeres und die an diesem Gestade gelegenen Häfen der russischen Kriegsmarine, die, obwohl nicht groß, dennoch zur Bedrohung der Meeresengen und Anatoliens hinreicht. Angesichts dieser großen Frage, der Frage der Sicherstellung einer konstanten Verbindung zwischen Berlin und Bagdad, scheint uns die Frage der Ostseeprovinzen viel mehr eine Lokal- und eine Sentimentsfrage zu sein; es dünkt uns, dass eben diese große Frage von weltgeschichtlicher Tragweite und mit der Formulierung der Kriegsziele, wie sie der Reichskanzler in seiner Rede vom 16. August d. J. festgestellt hat, identisch ist; wir sind der Meinung, dass sie ein reelles Rückgrat dieser Formulierung bildet, indem die Sicherstellung der Verbindung zwischen Berlin und dem Indischen Ozean das „Neue“ ist, worin die Ausschließung einer Einkreisung Deutschlands, die Freiheit der Weltmeere, die Bürgschaft des Weltfriedens, die Befreiung Europas von der moskowitischen Eroberungssucht und englischen Vormundschaft und die führende Rolle eines erstarkten Deutschlands inbegriffen sind.

Von diesem Ausgangspunkt eben erachten wir die Lösung der ukrainischen Frage durch die Bildung eines an die Zentralmächte Europas gestützten ukrainischen Staates im Südwesten des jetzigen Russlands als den integrierendsten Teil der großen Frage der zukünftigen Ordnung der Verhältnisse im Osten. Nur von der selbständigen Ukraine kann der Weg von Berlin nach Bagdad und nur von der Ukraine können die Meeresengen — der schwächste Punkt dieses Weges — vor Russlands Eroberungs- und Revanchegelüsten geschützt werden. Nur die Bildung einer selbständigen Ukraine wird die Balkanvölker von der russischen Vormundschaft befreien und dem Panslavismus der Polen, Tschechen, Serben usw. den Hals brechen, da derselbe nur durch die Nähe des „großen russischen Onkels“ und durch die Hoffnung auf seine Intervention genährt wird. Der selbständige ukrainische Staat zwischen Deutschland und Österreich im Nordwesten und dem Schwarzen Meere im Südosten wird ein Schutzwall Mitteleuropas, des Balkans und Konstantinopels gegen den russischen Imperialismus, ein nach Osten vorgeschobenes Bollwerk Mitteleuropas bilden. Dass dies eben mit den großen Zielen der deutschen Nation sich deckt, dies zu erörtern, ist die Aufgabe diese Publikation.

Kiew 001 Sophienkathedrale , Kuppeln

Kiew 001 Sophienkathedrale , Kuppeln

Kiew 002 Sophienkathedrale, Ansicht vom Glockenturm nach S-O.

Kiew 002 Sophienkathedrale, Ansicht vom Glockenturm nach S-O.

Kiew 003 Sophienkathedrale , Nördliche Seite

Kiew 003 Sophienkathedrale , Nördliche Seite

Ukraine, Titel, Die großen politischen Aufgaben des Krieges im Osten und die ukrainische Frage 1915

Ukraine, Titel, Die großen politischen Aufgaben des Krieges im Osten und die ukrainische Frage 1915

Ukraine, Tabelle, Produktion

Ukraine, Tabelle, Produktion

Ukraine, Karte, Das von Polen angestrebte Polenreich

Ukraine, Karte, Das von Polen angestrebte Polenreich

Ukraine, Karte, Der ukrainische Staat bis Dnipr-Donetz

Ukraine, Karte, Der ukrainische Staat bis Dnipr-Donetz

Ukraine, Karte, Die Nationen des östlichen Kriegsschauplatzes

Ukraine, Karte, Die Nationen des östlichen Kriegsschauplatzes