Eine selbständige Ukraine und Russland in der Zukunft.

Von manchem Gegner der ukrainischen Sache, hauptsächlich wieder aus dem polnischen Lager, wird der deutschen Öffentlichkeit eingeflüstert, dass ein selbständiger ukrainischer Staat einen Anschluss eher nach Russland, als nach Mitteleuropa, suchen wird. Diese merkwürdige und für einen Ukrainer in ihrer Logik durchaus unverständliche Behauptung wird damit motiviert, dass die Ukrainer als „orthodoxe Slawen“ den Russen „näher stehen“ und dass die Ukraine wirtschaftlich Russland bedarf. Wir werden versuchen möglichst kurz diese Fragen zu belichten.

Die Ukrainer sind großenteils orthodox, wie es sich aber mit ihrer Orthodoxie verhält, das wurde schon oben aufgeklärt. Bis in das 18. Jahrhundert gab es keine Kirchengemeinschaft zwischen der Ukraine und Moskowitien; die ukrainische Orthodoxie war kulturell und rituell so stark latinisiert, dass sie eigentlich eine Zwischenstufe zwischen der römischen und der griechischen Christenwelt darstellte. Trotz der formellen Orthodoxie ist die Ukraine kulturell und ethisch ein dem lateinischen Europa viel näheres Land, als dem östlichen, griechisch-orthodoxen. Kein einziges von den griechisch-orthodoxen Völkern Balkans oder Osteuropas hat so viele Anschlüsse an die westeuropäische Kultur gehabt, wie es bei den Ukrainern vom 13. — 18. Jahrhundert, also 500 Jahre hindurch, der Fall war. Dieser Unterschied und Antagonismus zwischen der ukrainischen und der russischen „Orthodoxie“ ist bis heute stark geblieben; nach der Herstellung einer autokephalen ukrainischen Nationalkirche wird er noch stärker werden, da die letztere ganz bestimmt die alten westeuropäischen Bahnen aufsuchen wird.


Die Mähre von dem „Slawentum“ ist schon ganz lächerlich. Es gibt ja kein slawisches Einheitlichkeitsgefühl und keine slawische Gemeinschaft. Was bei manchen Slawen darüber gesprochen wird, ist eine nationalsubjektive Faselei. Die Russen sind „slawophil“ in dem Sinne, dass sie das gesamte Slawentum zu ihren imperialistischen Zielen ausnützen, d. h. alle Slawen an ihren Staatswagen anspannen und russifizieren wollen. Manche West- und Südslawen sind wiederum in dem Sinne „slawophil“, dass sie in ihrer numerellen Schwäche die Hilfe Russlands gegen die Deutschen oder gegen die Magyaren erhoffen. Andere Slawen — wie Bulgaren und Ukrainer — die keine Reibungsflächen mit den Deutschen oder Ungaren haben, und die aber mit den Slawen (Polen, Russen und Serben) in ewiger Fehde leben, sind dagegen gar nicht „slawophil“ und wollen von keinem „Slawentum“ als einer politischen Gemeinschaft hören. Es gibt zwar also Slawen (d. i. slawisch sprechende Völker) so wie es Germanen und Romanen gibt, was aber alles nur philologisch-wissenschaftliche Klassifizierungsbegriffe sind, die mit den politischen Kategorien sich keineswegs decken. Die Politik wird nicht von der abstrakten Philologie, sondern von den Lebensinteressen einzelner territorialer Menschengruppen (Nationen oder Staaten) bedingt. Und deshalb werden die Ukrainer gewiss nie ihre politische Orientierung darnach richten, ob diese oder jene Nation eine dem Ukrainischen mehr oder weniger ähnliche Sprache spricht — umso mehr, da die Russen ihrer Rasse nach ja gar keine Slawen, sondern slawisierte Finnen sind. Die Ukrainer haben bis jetzt nie eine Rassen- oder Sprachzweigegemeinschaftspolitik, sondern nur eine Nationalpolitik betrieben. Dazu sind sie zu zahlreich, zu individualisiert, sie haben zu starke nationale geschichtliche Traditionen, sie haben, wie auch sie werden haben, viel zu viele Reibungsflächen mit den Polen und mit den Russen, um in einer slawischen Gemeinschaft aufgehen zu wollen. Das können die Ukrainer den zukunftsverzweifelten kleinen west- und südslawischen Völkern überlassen.

Auch eine wirtschaftliche Gravitation der Ukraine nach Russland zurück ist unmöglich. Nicht die Ukraine bedarf wirtschaftlich Russlands, sondern umgekehrt Russland bedarf der Ukraine. Die Ukraine ist ja eines der reichsten und von der Natur am schönsten ausgestattetes Gebiet des Erdballs. Sie besitzt auf großen Gebieten einen wirklich ägyptischen Boden; sie besitzt die reichsten Kohlengruben der Welt und die reichsten Eisenerzgruben Europas; sie hat ein vortreffliches Klima, prächtige Weiden und großartige Wälder, ja sogar Urwälder, und besitzt im Überfluss Salz und Naphta; sie hat die besten Häfen Russlands und die nächsten Verbindungen mit Mitteleuropa. Wozu braucht dann die Ukraine Russlands Hilfe für ihr wirtschaftliches Gedeihen? Wird sie denn Russlands Getreideabsatzmärkte brauchen, wenn sie bessere in Mitteleuropa bekommt? Die Ukraine, als Produzentin der notwendigsten Rohprodukte wird ja diese nach Deutschland und Österreich exportieren, um von Mitteleuropa Industrieprodukte zu beziehen. Denn die schwächere russische Industrie kann doch der Ukraine die solide und entwickelte deutsche Industrie nicht ersetzen, wie auch die mitteleuropäischen Absatzplätze für ukrainische Rohprodukte jedenfalls vorteilhafter, als die bisherigen russischen, sein werden.

Die russische Eisenbahntarifspolitik der Ukraine gegenüber war danach gerichtet, um das großrussische Zentrum mit ukrainischen Rohprodukten möglichst billig zu versehen, um den ukrainischen Cerealien Export zu den Ostseehäfen, welche Russland für großrussische erachtete, zu richten, und um die Entwicklung der einheimischen ukrainischen Industrie wie auch den Aufschwung der ukrainischen Häfen hintanzuhalten. Darüber beklagten sich seit einigen Jahrzehnten sowohl die landwirtschaftlichen, wie auch die Handelspreise der Ukraine ohne Unterschied der Nationalität und der wirtschaftliche Antagonismus zwischen „Süden“ (der Ukraine) und „Norden“ (Moskowitien) kam sowohl in verschiedenen Publikationen wie auch auf den wirtschaftlichen „allgemeinrussischen“ Kongressen allerlei Wirtschaftskategorien in letzten Jahren öfters zum Vorschein. Auch die ukrainischen Autonomisten verschiedener Parteischattierungen stützten ihr autonomistisches Programm in letzten Zeiten auf die Grundlage dieser wirtschaftlichen Gegensätze zwischen der Ukraine und Moskowitien, indem sie in ihren Publikationen (von Persch, Staßjuk u. a.) mit dem statistischen Material an der Hand die wirtschaftliche Ausbeutung und Hintansetzung der Ukraine von Großrussland darstellten.

Es sind die Gedanken, dass der ukrainische Staat einen wirtschaftlichen Anschluss an Russland suchen könnte, grundlos. Dass sie aber entstehen konnten, ist nur ein Beweis mehr, wie weit die Unkenntnis Osteuropas in manchen Kreisen Mitteleuropas reicht. Nicht eine Annäherung, sondern eher das Gegenteil davon ist nach der Schaffung eines selbständigen Staates mit aller Bestimmtheit zu erwarten, denn durch die Ukraine vom europäischen Süden abgetrennt, wird das moskowitische Russland trachten, dem neuentstandenen Staate womöglich zu schaden, was den Hass der Ukrainer gegen die herrschsüchtigen und ukrainebedrohenden Moskowiter nur noch steigern wird.

Da wir eben die Frage eines eventuellen wirtschaftlichen Anschlusses der Ukraine erörtern, so wird es am Platze sein auf ein wichtiges Verbindungsmittel zwischen Deutschland und der Ukraine — nämlich auf die Wasserstraße von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere — hinzuweisen. Das Flusssystem des Dniepr kommt mit dem Ostsee-Flusssystem in eine sehr nahe und für den Bau der Wasserstraßen sehr günstige Berührung auf dem Sumpfgebiete Weißrutheniens und des Polisje, nämlich durch die Wasserläufe der Düna, des oberen Dniepr und der Beresyna, respektive des Njemens oder der Weichsel, des Narew, Bugs und Prypetjs. Es kann da sehr leicht eine Wasserverbindung für größere Kanalschiffe zwischen Danzig oder Berlin und Kijew, Cherson, Nikolajew und Odessa hergerichtet werden, von der Verbindung Riga-Dünaburg-Kijew-Cherson nicht zu erwähnen. Auch mit dem Dniestrlaufe und dem Ssan-Weichsellaufe kann eine gute Wasserstraße, als kurze und direkte Verbindung Danzigs und Berlins mit Odessa, gebaut werden. Was für eine Bedeutung die angedeuteten Wasserstraßen für die Verbindung Berlin-Bagdad haben können, braucht nicht näher erörtert zu werden. Sie würden auch die Ukraine an die deutschen Märkte und Fabrikzentren fest anknüpfen.

Schließlich wird der politische Antagonismus Russlands gegen einen ukrainischen Staat eine Annäherung beider auf eine unabsehbare Zeit ausschließen; Russland wird immer bestrebt sein, den Zutritt zum Schwarzen Meere zurückzugewinnen, was eine Quelle eines steten und todfeindlichen Antagonismus zwischen Russland und der Ukraine zur Folge haben wird. Von Russland immer bedroht, wird die Ukraine auch immer der Hilfe der Zentralmächte bedürfen, sie muss sich also infolge ihrer geographischen Lage an dieselben anlehnen. Dazu kommt noch, dass der ukrainische Expansionsdrang aus natürlichen Gründen nach Osten gerichtet sein muss. Seit der Dämmerung der Geschichte geht die ukrainische Kolonisation und politische Expansion nur gegen Südosten, respektive — nach der Erlangung des Schwarzen Meeres als einer natürlichen Grenze — nur gegen Osten. Im Westen haben die Ukrainer nicht nur keine Erwerbungen gemacht, sondern im Laufe von tausend Jahren haben sie das Territorium zwischen Weichsel und Wepr (Lubliner Gebiet), das Gelände am unteren Bug (bei Siedlce und das Territorium zwischen Ssan-Wislok und Wisloka (mit den Städten Dukla, Rzeszow, Lezajsk, Lanzut) an die Polen, das Territorium Ungarn-Theiß-Hust an die Magyaren und das Territorium der Moldau (Flussbecken von Pruth und Sereth) wie auch den größeren Teil Bessarabiens an die Rumänen eingebüßt. In demselben Zeitraum aber kolonisierten sie zweimal vor der Mongoleninvasion und dann im 17. bis 20. Jahrhundert die Steppe der Gouvernements Südost-Podolien, Süd-Kijew, Poltawa, Katerinoslaw, Cherson, Taurien, Charkiw, Kubanj-Gebiet, wie auch noch beträchtliche Teile der Gouvernements Woronesch, Kursk, Saratow, Staropol, Don-Gebiet u. a. — das heißt: vergrößerten ihr Territorium in östlicher Richtung fast um das Dreifache. Da der Lauf der ukrainischen Kolonisation aus natürlichen und Populations-Rücksichten auch auf eine unabsehbare Zukunft nach Osten — in das Don-Gebiet, Stawropoler Gouvernement, Kaspisches Gebiet, Astrachan-Gouvernement, wie auch nach Südwest-Sibirien und Turkestan gerichtet sein muss, wird auch der politische Expansionsdrang der Ukraine nur in der östlichen Richtung sich vollziehen, was zur Quelle eines geschichtlichen Konflikts zwischen Russland und Ukraine führen muss.