„Das deutsche Muster“

Im Jahre 1889 tritt in Paris der Internationale Sozialistische Kongress zusammen. Die deutsche Sozialdemokratie wird als die Vorkämpferin des Weltproletariats gefeiert. Sie zeigt sich von vornherein als das stärkste Bollwerk der Internationale und bleibt bis zum Kriegsausbruch die führende sozialistische Partei.

Die sozialistischen Parteien der anderen Länder suchen mit vollem Bewusstsein „das deutsche Muster“ nachzuahmen.


Woher kam das internationale Ansehen der deutschen Sozialdemokratie?

Zunächst daher, dass der Sozialismus in anderen Ländern nach dem Sturz der Pariser Kommune keine hervorragenden Erfolge aufzuweisen hatte. Es war die Tat, die imponierte. Die Erfolge der deutschen Sozialdemokratie haben den Sozialisten anderer Länder neue Zuversicht und Hoffnungen eingeflößt und sie zu einem energischen Auftreten aufgemuntert.

Über die Zweckmäßigkeit des internationalen Zusammenschlusses des Proletariats brauchte die deutsche Sozialdemokratie die Sozialisten der anderen Länder nicht zu belehren. Die Geschichte der ersten Internationale spielte sich ja vorzüglich in jenen Ländern ab. Aber damit dieses kühne Unternehmen aufs neue gewagt und in die Praxis umgesetzt werde, mussten die sozialistischen Arbeiter in den führenden Ländern erst wieder Vertrauen fassen zu der Kraft der Bewegung, und das geschah nach den Erfolgen der deutschen Sozialdemokratie.

Es ist eine gangbare Vorstellung, dass der Marxismus die deutsche Sozialdemokratie stark gemacht und ihren Einfluss ins Ausland bedingt habe. Der Marxismus hat nun allerdings mit einer Menge falscher geschichtlicher und wirtschaftlicher Vorstellungen aufgeräumt, mit denen die sozialistische Agitation vermengt war, und dem Klassenkampf des Proletariats eine breite wissenschaftliche Grundlage gegeben; dennoch waren es nicht die Marxschen Ideen, die die deutsche Sozialdemokratie populär machten, sondern es war vielmehr die deutsche Sozialdemokratie, die diese Ideen zur internationalen Geltung brachte. Die Achtung vor der konzentrierten Macht, die die deutsche Sozialdemokratie entwickelte, hob auch das Interesse für Karl Marx, von dessen Ideen diese Bewegung getragen wurde.*)

*) Das von K. Marx aufgestellte Schema der kapitalistischen Entwicklung erwies sich als vorzüglicher Wegweiser für Länder, in denen die kapitalistische Industrie erst ihren Einzug hielt. Darum wurde der Marxismus zur Vorschule der bürgerlichen Staatsmänner erst in Rumänien, Bulgarien und Serbien, dann in Russland. Die Franzosen und Engländer fanden bei Marx nur neue Formeln für bereits bekannte Tatsachen. Ihr Interesse war also ein geringeres.
Dazu kommt, dass das Marxsche Hauptwerk in einer Weise abgefasst ist, die es den Massen unzugänglich macht.
K. Kautsky glaubte in seinem Werk „Karl Marxs Ökonomische Lehren“, Marx dadurch zu verbessern, dass er ihn umschrieb. Von Marx die Gedanken, von Kautsky der Stil, und das Ganze auf einen Umfang reduziert, wie er dem Volksaufklärungsbedarf des Verlegers J. H. W. Dietz am besten passte. Dabei gingen Saft und Kraft verloren. Aus dem Marxschen Sauerteig machte er Mazza.
Die Schwierigkeiten des Marxschen Hauptwerkes liegen nicht darin, dass Marx, kein klares Deutsch zu schreiben verstand. Er gehörte zu den besten deutschen Stilisten. Die Schwierigkeiten liegen erstens in der gewaltigen Kondensation der Gedanken, zweitens in dem Aufbau des Werkes.
Marx begann, bekanntlich, mit seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“. Das war eine Kritik der Theorien, der Ansichten, aus der sich eine Kritik der kapitalistischen Zustände ergab. Im Laufe der Arbeit wird für Marx das letztere der Hauptzweck. Er beschließt nun, eine Darstellung der kapitalistischen Zustände zu geben, von der aus er die Theorien der politischen Ökonomie zurück und zurechtweist. Das Verfahren wird also umgekehrt; zugleich begibt sich Marx auf ein neues Forschungsgebiet: die Tatsachen der industriellen Entwicklung und der Kapitalbildung, die Technik, die Zustände in den Fabriken; neben politisch-ökonomischen Systematisationen, benutzt er jetzt Geschichtswerke über den Handel und die englischen Blaubücher. Das ist „Das Kapital“, Band I. Da er aber noch immer die Kritik der politischen Ökonomie im Auge behält, macht er zum Ausgangspunkt seiner Darstellung, wie die klassische politische Ökonomie, den Austauschprozess. Er gibt eine Analyse der Ware, von der aus er über das Wertgesetz zur Produktion und den hinter ihr steckenden gesellschaftlichen Verhältnissen gelangt. Das Wertgesetz selbst bleibt dabei unbewiesen. Denn dieses entspringt nicht dem Tausch, sondern der Produktion, es ist ein gesellschaftliches Verhältnis und muss sich im Warenverkehr erst durch Millionen Störungen Bahn brechen, wobei das Gesetz selbst als Störung erscheint. Es kommt desto schärfer zur Geltung, je mehr die Produktion kapitalistisch durchgebildet ist und der Ausgleich der Produktion-. Verkehrs und Kreditbedingungen, die Normierung der Preise und der Löhne das Willkürliche in dem Austauschprozess einschränken (Friedrich Engels glaubte, umgekehrt, die reinste Wirkung des Wertgesetzes zur Zeit des Handwerks wahrgenommen zu haben. Das war eine Verkennung des Wesens selbst des Wertgesetzes, wie es Marx auffasst. Ich deckte diesen Irrtum 1896 in der „Neuen Zeit“ auf. Auf den gesellschaftlichen Charakter des Problems wies ich schon 1892 hin, also mehrere Jahre vor der Veröffentlichung des dritten Bandes des „Kapital“, in meinen Artikeln gegen Böhm—Bawerk, ebenfalls in der „Neuen Zeit“. Karl Marx leitet das Wertgesetz begrifflich ab; diese Ableitung ist spekulativ und willkürlich. Wir wissen wohl, dass die Produktion auf gesellschaftlicher Arbeit beruht, wir können es aber den Waren nicht ansehen, dass in ihrem Austausch das Verhältnis der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit sich geltend macht. Statt nun vor allem die gesellschaftlichen Verhältnisse der Produktion klarzulegen, aus denen sich die Bedingungen des Warenverkehrs ergeben, übernimmt es Marx, den Knäuel zu entwirren, zu dem sich die gesellschaftlichen Beziehungen in der Ware verflochten haben, wo bereits alle Ecken und Enden geborgen sind und die Erinnerung selbst an den gesellschaftlichen Ursprung ausgelöscht ist. Die Darstellung ist deshalb abstrakt und kompliziert und vermag beim Laien das befreiende Gefühl einer klaren Erkenntnis nicht auszulosen.
So abstrakt und spekulativ die Marxsche Erörterung des Wertgesetzes, so lebensfrisch und sogar dramatisch, trotz dem spröden Stoß, ist seine weitere Darstellung. Der Arbeiter und der Fabrikherr erscheinen als agierende Personen, um die gegenseitige Stellung der Lohnarbeiter und der Kapitalistenklasse innerhalb der gesellschaftlichen Produktion klarzulegen. Von da an aber spaltet sich die Untersuchung. Der eine Weg verfolgt. die Schicksale der Arbeiterklasse, der andere die Bewegung und die Transformationen des Kapitals. Mit diesem begibt sich Marx auf ein drittes Forschungsgebiet; er erörterte früher die Beziehungen zwischen dem Lohnarbeiter und dem Kapitalisten innerhalb der einzelnen Unternehmungen, jetzt behandelt er (Band II und III des „Kapital“) die Beziehungen zwischen den Kapitalisten. Seine literarischen Quellen sind nunmehr Börsen und Handelsberichte, Bankausweise u. a. m. Die politische Ökonomie hört fast vollständig auf. Das Persönliche der Darstellung verliert sich. In den Vordergrund treten die großen kapitalistischen Zusammenhänge, die sich dem Willen des einzelnen unterwerfen und ihn lenken. Es ist nicht mehr ein Drama, sondern eine Tragödie, von einem unbarmherzigen Fatum beherrscht. Jetzt erst kommt es voll zum Durchbruch, dass der Kapitalismus nicht eine böswillige Erfindung, ein groß angelegter Betrug ist, sondern ein Produktions- und Verkehrssystem nebst entsprechender Eigentumsordnung, das sich aus der gesamten geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft ergibt und von ihr überwunden werden muss. Die agierenden Personen erscheinen nunmehr wieder, aber ihre Zahl hat sich vermehrt und sie haben zum Teil ihre Gestalt geändert. Erst wurde einfach der Lohnarbeiter dem Kapitalisten entgegengestellt, jetzt sind es der Lohnarbeiter, der Unternehmer, der Finanzmann, der Kaufmann, der Grundbesitzer. An diesem Punkt bricht das Werk ab, da Marxs Lebensfaden abgeschnitten wurde. Es fehlt die von Marx in Aussicht genommene Lehre von der Konkurrenz, d. i. die Darstellung, wie die Klassen, Gruppen und Personen innerhalb der vom Kapitalismus gegebenen sozialen Zusammenhänge untereinander um den Erwerb und die wirtschaftliche Machtstellung ringen. Weil dieser Abschluss fehlt, geht ein fatalistischer Zug durch das Werk, der viel Unheil in den Köpfen anrichtete.
Es ist so, als wenn man, statt durch die offene Tür in das Haus einzutreten, von Marx über das Dach durch den Kamin geführt werde. Hat man die enge und dunkle Passage der Marxschen Darstellung des Wertgesetzes überwunden, so gelangt man in lichte, breite Raume. Man hat aber, da man über den Kamin gestiegen ist, einen falschen Gesichtspunkt mitgebracht und das Haus erscheint verkehrt.
Hätte Marx die Produktion mit ihren gesellschaftlichen Verhältnissen zur Grundlage genommen, so wurde sich das System leicht und frei aufbauen lassen und Einseitigkeiten wären vermieden worden, die jetzt seine wissenschaftliche Untersuchung trüben. So wird von ihm die kapitalistische Entwicklung viel zu sehr auf den Industrialismus zugespitzt, dieser auf den Maschinismus, der wieder sehr einseitig bloß als arbeitssparende Methode aufgefasst wird. Die Einführung neuer Produktionsverfahren und neuer Industrien, die Differenzierung und Bereicherung des Verbrauchs und mit ihm des Marktes, überhaupt die Rückwirkung des Verbrauchs auf die Produktion, die mannigfaltigen Wirkungen des Welthandels, die Erweiterung des Warenkonsumentenkreises durch das wirtschaftliche Emporkommen größerer sozialer Schichten, die Erweiterung der Produktion durch Entwicklung der Kultur, die Rolle des Staates, der Kommunen in der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion und in der Mechanik des kapitalistischen Anhäufungs- und Verteilungsprozesses, das alles wird in dem Marxschen Hauptwerke wenig oder fast gar nicht berücksichtigt. „Das Kapital“ steht in dieser Beziehung bedeutend hinter dem „Kommunistischen Manifest“ zurück.



Die konzentrierte Macht — das war es, was imponierte. An kühnen Gedanken hat es den Sozialisten außerhalb Deutschlands nie gefehlt. Aber dies war immer eine große Disproportion zwischen den politischen Plänen und der politischen Macht der Sozialisten. Darum erschienen sie als Phantasten. Diesmal aber sah man in Deutschland eine wohlorganisierte Macht des sozialistischen Proletariats heranwachsen, die nach allen Richtungen hin achtungserweckend war.
Das musste taktische Veränderungen zur Folge haben. Früher spielte in der Taktik der Sozialisten eine große Rolle das Überrumpelungsmoment. Da die sozialistischen Organisationen schwach waren, so hat man sich zur Aufgabe gestellt, durch eine Verschwörung die Massen zu lenken, wenn sie infolge großer politischer Konflikte in Bewegung geraten, d. h. zur Zeit der Revolution. Die Taktik stammt direkt aus dem Lande der Revolutionen, Frankreich. Jedesmal, wenn die französische Bourgeoisie in einen revolutionären Zusammenstoß mit der Regierung geriet, versuchten die Sozialisten, sich an die Spitze der Arbeitermassen zu setzen, um die Staatsgewalt an sich zu reiften. Das wurde dann zur leitenden Regel der sozialistischen Taktik. Die Revolution war also die eigentliche Voraussetzung der sozialistischen Tätigkeit. Der Sozialismus trat als spezifische Revolutionspartei auf, die nur leben und atmen kann in der Revolution. Revolution ist aber nicht immer. Was soll man tun in den großen Zwischenräumen, wo es keine revolutionären Zusammenstöße gibt? Darauf gab es keine Antwort. Alle Hoffnungen wurden auf die Revolution gesetzt — außerhalb der Revolution gab es nur Trostlosigkeit. Man fürchtete sogar, dass, wenn lange Zeit ohne Revolution vergeht, der revolutionäre Geist des Proletariats nachlassen würde. Man fürchtete eine Ablenkung des Proletariats von seinen großen sozialrevolutionären Aufgaben durch den Parlamentarismus. Man fürchtete sogar die Gewerkschaften, weil sie angeblich die Klassenenergie des Proletariats im Kampfe um kleine Aufgaben verzetteln. Überall sah man Gefahren für den Revolutionismus des Proletariats, von dem einzig und allein der Erfolg des revolutionären Streiches abhing, der dem Sozialismus die Ergreifung der politischen Macht sichern sollte, und sah keinen anderen Ausweg, als die schleunigste Herbeiführung der Revolution — eine Taktik, die den geschichtlichen Charakter der Revolutionen vollkommen verkannte. Da kam die deutsche Sozialdemokratie und zeigte, dass man aus dem Proletariat auch außerhalb der Revolution unter Ausnützung dessen parlamentarischen Rechte eine starke, organisierte, disziplinierte, politische Partei mit sozialrevolutionärem Kampfesziel bilden kann. Jetzt wusste man, was man zu tun hatte, bevor die Revolution eintrat, und man suchte allerorten das deutsche Muster nachzuahmen.
Die Aufgabe war eigentlich die, aus dem Proletariat als Klasse eine Macht zu bilden, die stets und überall, im parlamentarischen Getriebe, in der Revolution, im Krieg, sich selbst treu bleibt, also vor allem das Klasseninteresse des Proletariats wahrnimmt. Man war sich aber dessen selbst in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie nicht klar bewusst, noch weniger im Auslande. Man spitzte vielmehr das Problem so zu: unter Ausnützung der parlamentarischen Mittel aus dem Proletariat eine Macht zu bilden, die stark genug wäre, die Revolution herbei zuführen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.