Die deutsche Sozialdemokratie.

Aus: Die Glocke I. Jahrgang (August 1915—März 1916)
Autor: Redaktion: Parvus, Erscheinungsjahr: 1916

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sozialdemokratie, Arbeiterklasse, Proletariat, Proletarier, Staat, Politik. Volksschule, Volksbildung, Partei, Klassenkampf, Kapital, Entwicklung, Kultur, Arbeiterbewegung,
Die Hochburg des Sozialismus.

Die deutsche Sozialdemokratie galt vor dem Krieg, während mindestens eines Menschenalters, als die Hochburg des Sozialismus; seitdem die sozial-demokratische Fraktion die Kriegskredite bewilligte, ist sie in den Augen der ausländischen Sozialisten bedeutungslos. Früher waren die Organisationen, die Presse, die wissenschaftliche Literatur der deutschen Sozialdemokratie der Stolz der Internationale — jetzt denkt man nicht mehr daran. Früher bewunderte man die Zielbewusstheit, mit der das deutsche Proletariat seinen Klassenwillen zum Ausdruck brachte — jetzt erklärt Emile Vandervelde, er wisse nicht, ob das deutsche Volk bereits reif sei für die Republik.*) Man wirft die deutsche Sozialdemokratie mit den bürgerlichen Parteien zusammen, setzt über das Ganze das Junkertum, über das Junkertum den Kaiser, und das Schlagwort ist fertig! Schlimmer als ein Schlagwort — ein Fetisch! Der Kaiser erscheint in der Vorstellung dieser Leute, als die Verkörperung des bösen Prinzips — der Satan, der Antichrist. So wird von ihnen der Krieg aus allen seinen Zusammenhängen gerissen und auf eine persönliche Spitze gestellt; die Pyramide wird umgekehrt, aber selbstverständlich nur in der Einbildung! Sie vergessen das bisschen Geschichtsphilosophie, das mancher unter ihnen übrigens erst nach und nach von der deutschen, Sozialdemokratie gelernt hat, und begeben sich auf den Standpunkt des Hundes, der den Stock beißt, mit dem er geschlagen wird.

Die deutsche Sozialdemokratie ist eine geschichtliche Bewegung und kann nur als solche begriffen werden.

*) In „L’Humanité“ vom 22. Juni 1915 sagt E. Vandervelde in seiner Antwort an Scheidemann: „Je ne suis même pas sûr, ne vous en deplaise, que l'Allemagne, votre Allemagne soit mûre pour la Republique". Es wäre nach dieser Stilprobe nicht uninteressant zu erfahren, wie jetzt E. Vandervelde darüber denkt, ob Russland für die Republik reif sei.
      Im September 1914 richtete E. Vandervelde an die russischen Sozialisten einen Brief, in dem er sie dringend darauf verwies, dass „die demokratisch regierten Staaten“ der militärischen Hilfe Russlands bedürfen. Diese Mahnung konnte unter den gegebenen Verhältnissen nur dann einen Sinn haben, die russischen Revolutionäre zu veranlassen, während des Krieges ihren Kampf gegen den Zarismus aufzugeben. Schon vor dem Krieg hatte die zarische Regierung E. Vandervelde eine Begünstigung erwiesen, die einzig dasteht in der politischen Geschichte Russlands: er, der Ausländer und sozialistische Führer, durfte in Petersburg Besprechungen mit den russischen sozialdemokratischen Parteivertretungen abhalten, um die Einigung der Partei herbeizuführen. Man hat offenbar schon in den russischen Regierungskreisen nicht mit dem Sozialisten und dem Revolutionär Vandervelde, sondern mit dem zukünftigen Minister gerechnet, und man glaubte schon damals, Belgien als Bundesgenossen behandeln zu müssen. Übrigens auch ein Beitrag zu der Neutralität Belgiens.


Die Bewilligung der Kriegskredite war berechtigt. Aber selbst wenn sie es nicht gewesen wäre, so wäre es doch ebenso närrisch, zu glauben, durch dieses oder jenes parlamentarische Votum lasse sich die geschichtliche Rolle der deutschen Sozialdemokratie aus der Welt schaffen, wie etwa, dass durch den Eintritt von Guesde und Vaillant ins Ministerium in Frankreich eine sozialistische Ära angebrochen sei.

Die deutsche Sozialdemokratie war und bleibt die Hochburg des Sozialismus. Fällt diese Hochburg, so fällt mit ihr der Sozialismus überhaupt. Darüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben.

Man kann verschiedener Meinung sein in der Frage, was das deutsche Proletariat durch die in seinen Organisationen, seiner politischen Schulung angesammelte Energie in der nächsten Zeit erreichen wird. Darüber kann aber kein Zweifel bestehen: wenn es die deutsche Sozialdemokratie nicht schafft, so schaffen es die anderen erst recht nicht.

Sollte es wahr sein, dass die deutsche Sozialdemokratie nahe daran sei, ihre Grundsätze aufzugeben, so werden auch die Sozialisten der anderen Länder sie nicht lange behalten können. Tatsächlich dient jetzt schon der vermeintliche Prinzipienverstoß der deutschen Sozialdemokratie den Sozialisten anderer Länder als Deckmantel für ihre eigene Prinzipienlosigkeit. Sie schreien desto lauter über den Nationalismus der deutschen Sozialdemokratie, je mehr sie selbst in den ärgsten Chauvinismus und Opportunismus verfallen.

Der ganze neue Aufschwung der sozialistischen Bewegung, den Europa seit den achtziger Jahren erlebte, samt der Internationale, hängt aufs innigste mit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zusammen, die ihrerseits unzertrennlich ist von der Geschichte des Deutschen Reiches und des Deutschen Volkes.

Werfen wir einen kurzen Rückblick darauf, wie sich die Dinge entwickelten.

Bebel, August (1840-1913) deutscher sozialistischer Politiker, einer der bedeutendsten Begründer der Sozialdemokratie

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Zetkin, Clara (1857-1933) deutsche Frauenrechtlerin und Politikerin

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Liebknecht, Wilhelm (1826-1900) Lehrer, Publizist, Redakteur, Politiker, einer der Gründerväter der SPD

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Kaiser Wilhelm II.

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