Fortsetzung

Das Sozialistengesetz fiel. Ihm folgte Bismarck. Das war ein Triumph der deutschen Sozialdemokratie, der die Welt in Staunen versetzte.

Seitdem sind bereits 25 Jahre vergangen. Ein Vierteljahrhundert!


Seitdem ist die deutsche Sozialdemokratie gewaltig in die Breite gegangen. Sie hat aber die Klarheit und Entschiedenheit ihrer Taktik eingebüßt.

Das Sozialistengesetz gab der sozialdemokratischen Agitation ein klares und unmittelbares Ziel. Die Hauptsache war ja die soziale Revolution, aber zunächst und vor allem musste das Sozialistengesetz beseitigt werden. Das war einfach und einleuchtend. Als das Sozialistengesetz fiel, zeigte sich deshalb sofort eine empfindliche Lücke: was soll das unmittelbare Kampfes ziel sein? Denn dass man nicht sofort die große Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Gesellschaft, die soziale Revolution, in Szene setzen konnte, darüber war man sich klar. Es war offenbar notwendig, eine praktische Forderung in den Vordergrund zu rücken, die das Proletariat unmittelbar in seinem Klasseninteresse erfasste.

Ein großer Anlauf nach dieser Richtung war bereits unter dem Sozialistengesetz geschehen.

Das war die 1889 auf dem Internationalen Sozialistischen Kongress zu Paris aufgestellte Forderung des Achtstundentages. Die Forderung wurde aufgestellt, um die staatliche Sozialpolitik zu überbieten, um die Agitation auf ein unmittelbares proletarisches Ziel zu lenken und um das Proletariat im praktischen Kampf um sein Klasseninteresse international zu einigen. Vom gleichen Gesichtspunkte wurde als Ergänzung zu der Agitation um den Achtstundentag die Maifeier beschlossen.

Die Maifeier war keineswegs als die harmlose Friedensdemonstration gedacht, zu der sie sich später entwickelte. Es sollte die große Parade, die Mobilmachung des sozialrevolutionären Proletariats und dessen Einübung im internationalen revolutionären Handeln sein.

Die deutsche Sozialdemokratie wagte es aber nicht, aus der Sache Ernst zu machen. Sie wich langsam, aber konsequent auf der ganzen Linie zurück.

Es war leicht, gegen das Sozialistengesetz zu kämpfen. Denn erstens musste man. Das Gesetz war nun einmal da, die Regierung hatte es geschaffen, und es blieb nichts anderes übrig, als es zu bekämpfen. Zweitens genügte es, in der Defensive zu bleiben. Zeigte die Sozialdemokratie, dass sie dem Gesetz Widerstand leisten kann, dass ihre Entwicklung durch das Sozialistengesetz nicht aufgehalten werden kann, so war das Spiel gewonnen.

Jetzt aber galt es, von der Defensive in die Offensive über zugehen. Jetzt genügte es nicht, sich nicht bezwingen zu lassen, sondern man musste der Regierung und den Parteien seinen Willen aufzwingen. Ein großer Kampfesapparat musste entfaltet und ein Risiko übernommen werden. Aber gerade die Erfolge der Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz lehrten sie, das Risiko zu vermeiden.

Der Grundsatz wurde unter dem Sozialistengesetz aufgestellt: „sich nicht provozieren zu lassen!" Wir nehmen den Kampf an, wenn es uns passt. Das war ja auch ganz richtig. Aber allmählich hat sich darauf die Taktik entwickelt, jedem größeren Konflikt auszuweichen. Wer aber im Kampf konsequent einem ernsten Zusammenstoß ausweicht, kann nicht vorwärts kommen.

Die Defensive sowohl wie die Offensive haben ihre bestimmten Voraussetzungen. Man kann mit der einen allein ebensowenig ans Ziel kommen, wie mit der anderen.

Die Meinungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie waren geteilt.

Da gab es eine Anzahl Lärmmacher, die den Kampf um des Kampfes selbst willen wollten. Sie verlangten von der sozial demokratischen Fraktion eine schärfere Tonart im Parlament, sie wollten die Regierung und die bürgerlichen Parteien aufs äußerste provozieren, um einen offenen Konflikt herbeizuführen. Sie wollten dem Staat eine Schlacht liefern, ohne zuerst die Kräfte abzuschätzen und ohne ein unmittelbares Ziel des Kampfes anzugeben. Gewiss, es war „das Endziel" da. Das war aber gleichsam das große Ziel des Feldzuges; für die einzelne Schlacht muss man aber vor allem wissen, um was unmittelbar gekämpft wird, welche Positionen zu erobern sind. Das Ergebnis dieser Taktik wäre die Auslosung chaotischer Kampfe gewesen. Darauf wollte sich die deutsche Sozialdemokratie mit Recht nicht einlassen.

Leider wurde durch diese politischen Ungereimtheiten die Idee der proletarischen Offensive in Misskredit gebracht.

Auf der anderen Seite empfahl G. Vollmar im Gegenteil eine Milderung der Tonart. Er glaubte, dass wir Erfolge erzielen konnten, wenn wir uns der Regierung gegenüber versöhnlicher zeigen würden. Er wollte also, dass wir uns der Regierungspolitik anpassen, während es sich in Wirklichkeit darum handelte, die Regierung zu zwingen, sich den proletarischen Forderungen anzupassen. Die Regierung selbst dachte gar nicht daran, sich mit der Sozialdemokratie auszusöhnen, bereitete vielmehr ihre Umsturzvorlagen vor, und die Arbeitermassen, hochgetragen von dem Gefühl des über Bismarck errungenen Sieges, waren am aller wenigsten geneigt, mit der Regierung zu paktieren.

Maßgebend wurde die Taktik der Sammlung der Kräfte, um in geeigneten Augenblicken dem kapitalistischen Staat die Generalschlacht zu liefern. Darum vor allem Vermeidung jeder Kräfteverzettelung. Die gesamte Aufmerksamkeit muss auf den bevorstehenden großen Kampf gerichtet werden. Nur keine Seitensprünge, keine Nebenzwecke!

Kein moderner Feldzug lässt sich durch eine einzige Schlacht gewinnen. Dasselbe gilt auch in der Politik. Die Idee, die soziale Revolution unter der Hand so vorbereiten zu können, dass man dann mit einem einzigen großen Schlag das Ziel er reicht, war eine fürchtbare Illusion. Bevor das Proletariat zur politischen Herrschaft gelangt, muss es erst lernen, sich politisch geltend zu machen. Durch politische Kämpfe muss sein Wille gestärkt, durch politischen Erfolg muss sein Mut gesteigert werden. Gerade das Proletariat, die unterdrückte Klasse, muss erst lernen, Großes zu wagen. Die Charakteristik, die K. Marx dem Proletariat im Kommunistischen Manifest gab, als die Gesellschaftsklasse, die nichts zu verlieren hat und deshalb stets zur Revolution bereit ist, war irreführend und schuf großes Unheil. Mit dem Mut der Verzweiflung baut man keine neuen Welten auf. Das Proletariat, das Marx im Auge hatte, konnte die Masse abgeben für ein Häuflein Verschwörer, die an die Macht gelangen wollten, war aber nicht imstande, eine selbständige Staatspolitik zu treiben. Dazu waren politische Schulung, Ausbau der Organisationen, ein gewisses soziales und kulturelles Empor kommen notwendig, und es war notwendig, dass das Proletariat lerne, sich große politische Probleme zu stellen und sie durchzusetzen. Die verzweifelnde Masse ist pessimistisch, sie verwirft alles, weil sie nirgends eine Erlösung sieht, und gerade deshalb ist sie in ihren politischen Forderungen und Plänen äußerst zaghaft und schüchtern. Der Druck der Not setzt ihre Lebensansprüche und Hoffnungen herab. Das ist der Grund, weshalb sie leicht bereit ist, alles zum Teufel fahren zu lassen. Zum Kampf einer Klasse um die Macht gehört aber im Gegenteil Ausdauer und Siegeszuversicht. Das Proletariat musste lernen, sich nicht bloß als die Kraft fühlen, die imstande ist, den Staat zu überrennen, sondern als die Grundlage, auf der sich die gesamte Gesellschaftsordnung und mit ihr die Macht des Staates aufbaut. Dann erst konnte es lernen, zu fordern und zu erlangen.

Das Irrationelle der Taktik, die die gesamte Tätigkeit der Partei auf die einzige große Generalschlacht zuspitzte, wurde dadurch verdeckt, dass man sich diese Generalschlacht als nahe bevorstehend dachte. Man brauchte also sich nur noch kurze Zeit zu gedulden, dann musste die Lösung des Problems von selbst kommen.

Diese Taktik war stark in Verneinungen. Verstaatlichungen — nein, denn dadurch stärken wir die Macht des Staates, dem wir bald die große Generalschlacht liefern wollen. Gewerkschaften — zweifelhaft, denn es wird dadurch die Aufmerksamkeit des Proletariats von dem großen Kampfesziel abgelenkt, außerdem ist der Erfolg unsicher, und es lohnt sich auch nicht, dass wir uns damit abgeben, da wir bald durch die große Generalschlacht den Staat bezwingen, die kapitalistische Wirtschaft aus den Angeln heben und den gewerkschaftlichen Kampf überflüssig machen werden. Konsumvereine — Unsinn, dadurch werden bloß die Arbeiter genarrt, nicht um die Organisation der Konsumtion handelt es sich, sondern um die Besitzergreifung der Produktionsmittel, und das werden wir nächstens durch unsere große Generalschlacht erreichen. Der Kampf um den Achtstundentag und die Maifeier wurden zurückgesetzt, weil man befürchtete, dass wir, wenn wir uns in diesen Fragen zu stark engagieren, gezwungen werden könnten, die große Generalschlacht früher zu liefern, als wir es für zweckmäßig halten.

Inzwischen verging die Zeit, und je länger desto mehr schien sich die Generalschlacht von uns zu entfernen, statt näher zu rücken. Die Parteizustände, die sich daraus ergaben, sollen später geschildert werden. Jetzt wollen wir uns nur noch erst Rechenschaft geben darüber, wo das Wachstum der deutschen Sozialdemokratie während dieser Zeit herrührt.

Zuerst die Klassenstellung des Proletariats. Die deutsche Arbeiterklasse kehrt in die Reihen der bürgerlichen Parteien nie mehr zurück. Dagegen wird die Existenz der selbständigen Arbeiterpartei stets eine gewaltige Anziehungskraft ausüben auf die Arbeiter, die noch außerhalb ihr geblieben sind. Die deutsche Sozialdemokratie könnte nur durch Spaltungen geschwächt werden, von außen droht ihr keine Gefahr. Solange die Einheitlichkeit der Organisation aufrecht erhalten wird, wird die deutsche Sozialdemokratie trotz aller Kämpfe, aller taktischen Wandlungen ihre Organisationen fortgesetzt erweitern.

Außerdem sorgten die deutschen Regierungen reichlich dafür, dass der Sozialdemokratie der Stoff für die Agitation nicht ausgehe.

Die bürgerlichen Parteien beugten sich vor der Regierung und fürchteten die Sozialdemokratie. Sie zählten politisch fast gar nicht mit. Deutschland mit seiner Weltindustrie wurde agrarisch regiert. Den größten Widerstand dieser Politik leistete die Sozialdemokratie. Sie stand deshalb im Vordergrund der parlamentarischen Kämpfe, wodurch die Aufmerksamkeit der Volksmassen stets auf sie konzentriert wurde. Außerdem fand während dieser, Zeit das deutsche Proletariat einen Ausweg für seinen Klassenkampf in den Gewerkschaften. Hier wurde eine Riesenarbeit geleistet, die zahlreiche Kräfte in Anspruch nahm. Hier wurden auch proletarische Erfolge erzielt, die den Mut und die Zuversicht der Klasse steigern mussten. Und wiederum zeigte das deutsche Proletariat, dass es seine eigenen Wege geht. Es hat gewerkschaftliche Zentralisationen geschaffen, durch die das berühmte Muster der englischen Trade Unions weit überboten worden ist. Innerhalb zweier Jahrzehnte von bescheidenen Anfängen haben die deutschen Gewerkschaften die englischen an Mitgliederzahl und Einnahmen übertroffen. Und jetzt ist nicht mehr das englische, sondern das deutsche Organisationsmuster maßgebend — die Zentralverbände. Die englischen Arbeiter selbst geben sich alle Mühe, es den deutschen Gewerkschaften nachzumachen, denn so konsequent wie in Deutschland ist das Zentralisationsprinzip in den gewerkschaftlichen Organisationen nirgends durchgeführt.

Die Zentralverbande sind eine unerlässliche Bedingung für eine groß angelegte international Organisation der Gewerkschaften. Indem die deutschen Arbeiter gezeigt haben, dass dieses Organisationsprinzip sich zielbewusst und konsequent in einem ganzen Lande durchführen lässt, haben sie die Richtung angegeben für die anderen Länder und so die Grundlagen geschaffen für die internationalen Verbände. Wieder ein Beispiel dafür, dass das Beste zur internationalen Einigung des Proletariats nicht in dem Austausch von Höflichkeit besteht, sondern in der Durchführung starker Organisationen, in der Wahrnehmung des proletarischen Klasseninteresses im eigenen Lande.

Die Erfolge der deutschen Gewerkschaften bei der Regelung der Arbeiterlöhne wie der Arbeitszeit haben den Mut und das Selbstvertrauen der deutschen Arbeiterklasse gehoben.

Sehr stark und mit großem Erfolge betätigte sich während dieser Zeit die Initiative der deutschen Arbeiter auch auf dem Gebiete der Konsumvereine. Schließlich ist noch der Ausbau der sozialdemokratischen Presse zu erwähnen, der während dieser Zeit stattgefunden hat. Auch in dieser Beziehung steht die deutsche Sozialdemokratie unerreicht da in der Geschichte der sozialistischen Bewegung. Die großen sozialdemokratischen Tageszeitungen mit eigenen, aufs beste eingerichteten Druckereien bilden gegenwärtig geradezu den Rückhalt der Partei.*)

So hat denn das deutsche Proletariat in der Zeit seit dem Fall des Sozialistengesetzes auf außerparlamentarischen Gebieten eine große Arbeit der Organisation, der Kräftesammlung, der Aufklärung geleistet, und diese Arbeit trug nicht wenig zum Wachstum der Sozialdemokratie bei, obwohl die politische Taktik der Partei nicht geeignet war, die Begeisterung der Massen dauernd wachzuhalten.

*) Wie sehr der reine Revolutionismus, der alles auf die nahe bevorstehende Generalschlacht zuspitzte, die sozialdemokratische Parteileitung konservativ und unschlüssig machte in allen Fragen, die über die Parteitraditionen hinausgingen, sah man vielleicht am besten in ihrem Verhältnis zur Entwicklung der Tagespresse. Erstens wollte sie die Entwicklung der Provinzpresse einschränken, um eine straffere Zentralisation durchzuführen. Zweitens sah sie eine Gefahr darin, dass die Arbeiterpresse den Typus der modernen Tageszeitungen zu erreichen suchte, statt ihren Charakter des reinen Agitationsblättchens zu bewahren. Drittens betrachtete sie die Anschaffung eigener Druckereien, wodurch erst die Grundlage zu einem richtigen Zeitungsbetrieb gegeben wurde, als riskantes Abenteuer. Den Bann hat Dr. Bruno Schönlank gebrochen, der das Leipziger sozialdemokratische Parteiblatt auf eine moderne Basis stellte. Den Leipzigern folgten die Dresdener auf meine Initiative. Als ich im Auftrage der Dresdener Parteiorganisationen den Parteiverband in Berlin um Unterstützung unseres Unternehmens anging, wurde uns nicht ein Pfennig bewilligt. Ich brachte aus Berlin nur das Versprechen meines Freundes Dr. B. mit, für 5.000 Mark Anteilscheine zu übernehmen und ein Versprechen des Dr. Z. für 1.000 Mark. Das letztere wurde einen Tag später zurückgezogen, nachdem in der von mir redigierten Zeitung ein scharfer Artikel gegen E. Bernstein erschienen war. Das für die Organisation des Zeitungsbetriebes nötige Geld haben die Gewerkschaften im Überfluss bei gebracht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.