Die sozialdemokratische Agitation unter dem Sozialistengesetz.

Die wirtschaftliche Stagnation, die, wie schon erwähnt, die deutsche Bourgeoisie erst recht zaghaft und furchtsam in ihrem Verhalten der Regierung gegenüber gemacht hatte, hat dagegen die sozialdemokratische Opposition gesteigert.

In der Politik — Nationalliberalismus, Sozialistengesetz, verunglückter Bismarckscher Kulturkampf, in der Industrie Geschäftsstockung, in der Landwirtschaft schleichende Krisis; neue Militärvorlagen, neue Steuern, steigende Brotzölle; dabei Arbeitslosigkeit und knappe Löhne.


Der große Arbeitertribun, August Bebel, brachte die Stimmungen der deutschen Arbeiterklasse um jene Zeit in glühenden Worten zum Ausdruck. Er blieb in dieser Stimmung auch später, sein Leben lang, und nahm sie mit ins Grab. Für Bebel existierte die bürgerliche Gesellschaft überhaupt nicht mehr. Sie hat sich selbst zugrunde gerichtet. Was zum Vorschein kam, waren nur noch Zersetzungsprodukte. Er legte Sammelmappen an für die Symptome dieser Zersetzung, des Fäulnisprozesses auf allen Gebieten des sozialen Lebens und der Politik, und brachte sie in seinen Etatsreden vor, die er zu einem dusteren Bild gestaltete, das von dem glühenden Zorn der proletarischen Kämpfer wie von einem unterirdischen Feuer durchleuchtet wurde; diese finstere Schilderung bildet dann den Hintergrund zu einer Apotheose des Sozialismus, die in den blassblauen Farben des christlichen Himmels gehalten wurde.*) Er geißelte die Bourgeoisie und die Regierung, so dass sie, die die Macht hatten, als klein und nichts würdig erschienen, zeigte den Massen ihr Elend und verhieß ihnen eine Zukunft, die ihrer Sehnsucht entsprach, und er stand stets als ein aufrechter, aufrichtiger Mann da, der selbst mit seiner ganzen Seele die Entrüstung, den Kummer und die Hoffnungen der Massen teilte — darum riss er sie mit sich hin. Dabei war er ein genauer Kenner der Entwicklung der bürgerlichen Parteien und ihrer agierenden Personen und verstand es wie keiner, ihre Unzulänglichkeit und ihre Unentschlossenheit aufzudecken.

*) K. Kautsky dichtete um diese Zeit seine Theorie der „chronischen Überproduktion“ und legte damit den Beweis ab, dass ihm zum Verständnis der Entwicklung der Industrie und des kapitalistischen Weltmarktes die primitivsten Voraussetzungen fehlten.

In der auswärtigen Politik war sein Hass gegen den russischen Zarismus nur noch von jenem Wilhelm Liebknechts überboten, der es nie müde war, auf die Befreiung Polens, d. h. die Zertrümmerung des Zarenreiches hinzuweisen.

August Bebel und Wilhelm Liebknecht haben sich gewiss nicht träumen lassen, dass der Umstand, dass sie nach einem siegreichen Krieg der Annexion einer französischen Provinz nicht haben zustimmen wollen, den französischen Sozialisten als Rechtfertigung dienen konnte in ihrem Vorhaben, die zarischen Heere bis nach Berlin zu bringen. Wollten sie keine Annexion von Elsaß-Lothringen, so hieß das nicht, dass sie bereit waren, Ostpreußen und Galizien widerstandslos an Russland auszuliefern. Und sie waren auch keine sentimentalen Toren, sie wussten, dass man die zarischen Armeen nicht mit Redensarten von der Heiligkeit der Internationale, sondern nur mit den Waffen des deutschen Generalstabs besiegen kann.

Der Kampf gegen den Zarismus war eines der beliebtesten Agitationsmittel der deutschen Sozialdemokratie. Das war zu gleich ein Angriff auf die preußische Regierung. Dieser wurde vorgeworfen, dass sie aus Gründen der inneren Politik ihre Russenfreundschaft aufrecht erhalte und fordere, denn sie bereite sich vor, im Falle einer deutschen Revolution sich auf die russischen Armeen zu stützen. Oft genug wurde die Liebedienerei vor Russland, die Kriecherei vor dem Zarenthrone mit den schärfsten Worten getadelt und darauf verwiesen, dass man dadurch, dass man die Geschäfte des Zarentums besorge, die schlimmste Gefahr für Deutschland selbst heraufbeschwöre.

Es ist bekannt, dass Karl Marx schon 1871 den Anschluss Frankreichs an Russland voraussagte. Das bedeutet aber selbst verständlich nicht, dass er diesen Anschluss billigen würde. Im Gegenteil, er befürchtete ihn, sah darin eine Gefahr für Europa und Deutschland. Zweifellos waren auch für die Stellungnahme Bebels und Liebknechts in der Frage der Annexion von Elsaß-Lothringen nicht nur allgemeine Gerechtigkeitsgründe maßgebend, sondern eben die Rücksichtnahme auf diese politischen Folgen der Annexion. Man wollte Frankreich schonen, um es nicht in die Arme des zarischen Russlands zu werfen. Also immer und immer wieder die russische Gefahr! Und da glauben politische Hohlköpfe einen Gegensatz konstruieren zu können zwischen der gegenwärtigen Haltung der deutschen Sozialdemokratie und der damaligen Stellungnahme von Bebel und Liebknecht! Was ihnen als politische Konsequenz erscheint, wäre in Wirklichkeit ein automatisches Nachplappern eines und desselben Wortes, wie es bei Gehirnparalyse vorkommt. Sie gleichen dem Narren aus dem Märchen, den man einen Glückwunsch gelehrt hat, und der ihn hersagt, als er einem Leichenzug begegnet. So hat die deutsche Sozialdemokratie die bürgerliche Gesellschaft, die Parteien, die innere und äußere Politik der Regierung kritisiert; das Ganze war aber durch den Kampf gegen das Sozialistengesetz zusammengefasst und auf ein nahes, klares Ziel gerichtet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die deutsche Sozialdemokratie.