Nutzsinn und Sternenglaube
Wer schweizerisches Wesen verstehen will, muss und alle Vorgänge dauernd im Auge behalten, die aus dem Gegensatz der beiden Triebkräfte eines geschichtlichen Willens hervorgehen. Praktischer Verstand und ein Sternenglaube an höhere Gewalten gehen immer im Bunde oder klaffen als unversöhnter Gegensatz, der nicht selten alles in Gefahr bringt. Er tritt auf allen Gebieten des politischen Lebens und kulturellen Zustandes in die Erscheinung: im staatlichen Leben, in dem nahen Beieinander germanischen und romanischen Blutes, infolgedessen in der Gefühlswelt des Rassenstolzes und der Rassenscheu, schließlich reicht er mit seinen Wurzelfäden in den Boden der künstlerischen Kräfte und in die übersinnliche Welt der religiösen Vorstellungen. Es handelt sich bei diesem Gegensatz nicht bloß um die beiden Seelen, die in jeder Menschenbrust wohnen. Es ist der Gegensatz aller Wirkungen, die daraus entstehen, dass sich hart im engen Räume die Widersprüche der Natur und des Lebens stoßen und reiben. Aber er hat es nicht hindern können, dass schon lange ehe die Schweiz ihre heutigen Grenzen erreicht hatte, gemeinverträgliche Lebensmöglichkeiten geschaffen wurden, die trotz der Verschiedenheit der geistigen Anlagen und des Temperamentes, der Lebensgrundsätze und der Weltanschauung eine Wirklichkeit darstellen, die mehrere Jahrhunderte dauert. Die herrlichen Güter der Sprache sind dabei nicht zu kurz gekommen, und auch die Kunst hat darin ihre Lebensluft gefunden. Allen Gewalten zum Trotz, die die Lebensgemeinschaft im kleinsten Kreise und in dem großen Dasein der Völker zu Bruch und Kampf fuhren, besteht hier ein gedeihliches Fördern auf dem Grundsatze der Gegenseitigkeit. Auch an dem empfindlichen Barometer der Kunst gemessen, ist die Lebensluft eine gesunde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die alte Schweiz