Fremdvölker in der Ukraine.

Über die Fremdvölker, die in der ukrainischen Grundmasse zerstreut wohnen, finden wir in der amtlichen Statistik genaue Angaben, denen wir folgendes entnehmen:

Am zahlreichsten sind die Russen. Sie bilden in Wolhynien 3 Prozent,*) Podolien 3 Prozent, Kijew 6 Prozent, Chersson 21 Prozent, Tschernigow 8 Prozent, Poltawa 1 Prozent, Charkow 25 Prozent, Jekaterinoslaw 17 Prozent, Taurien 28 Prozent, Kuban 44 Prozent. Sie wohnen hauptsächlich in größeren Städten, als Militärs, Beamte, Kaufleute, Handwerker, auf dem Lande als Großgrundbesitzer und deren Angestellte, als Geistliche und (in besonderen Dörfern) als Bauernansiedler. Sie bilden die hauptsächliche, wenn auch schwache Stütze des russischen Regimes in der Ukraine.


*) Über Wolhynien siehe am Schluss dieses Abschnittes nähere Angaben.

Dann kommen der Zahl nach die Juden: in Wolhynien 13 Prozent, Podolien 9 Prozent, Kijew 12 Prozent, Chersson 12 Prozent, Tschernigow 5 Prozent, Poltawa 4 Prozent, Charkow 1 Prozent, Jekaterinoslaw 5 Prozent, Taurien 5 Prozent. Ihre Beschäftigung und Stellung ist dieselbe wie in den vorbesprochenen Gebieten. Bemerkenswert ist, dass die Juden in der Ukraine trotz aller Verfolgungen (mit Ausnahme der jüdischen Fortschrittler und Revolutionäre) ausgesprochen russische Patrioten sind.

Viel kleiner ist die Anzahl der Polen (Wolhynien 6 Prozent, Podolien und Kijew je 2 Prozent, Chersson, Jekaterinoslaw, Taurien je 1 Prozent). Sie bilden einen ansehnlichen Prozentsatz unter den Großgrundbesitzern sowie deren Angestellten in der rechtsseitigen Ukraine und einen Teil der Stadtbevölkerung daselbst (auch Beamte, Militärs usw.).

Deutsche sind in der Ukraine hauptsächlich als Kolonisten, besonders in der südlichen Ukraine, ansässig. In Wolhynien bilden sie 6 Prozent, in Chersson und Taurien je 5 Prozent, in Jekaterinoslaw 4 Prozent, im Kubangebiet 1 Prozent der Bevölkerung. Außerdem leben sie zerstreut in den Städten der Ukraine als Beamte, Militärs, Ärzte, Ingenieure, Geschäftsleute usw.

Außerdem gibt es im Gouvernement Chersson 5 Prozent Rumänen und 1 Prozent Bulgaren, in Jekaterinoslaw 2 Prozent Griechen, 1 Prozent Tataren, in Taurien 13 Prozent Krimtataren, 3 Prozent Bulgaren, 1 Prozent Armenier. Aber alle diese Fremdvölker, die besonders im Süden angesiedelt sind, ändern nichts an der Sache. Das Gebiet der Ukraine ist ukrainisch und muss als solches angesehen werden. Die amtliche russische Statistik weist in dem im Voraufgehenden umgrenzten Gebiete der Ukraine über 71 Prozent ukrainische Bevölkerung auf.

Scheidet man die Grenzgebiete, welche bei dieser Berechnung miteinbezogen sind, aus, so steigert sich der Prozentsatz der Ukrainer auf 80. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die amtliche russische Statistik besonders den Ukrainern gegenüber sehr parteiisch erscheint, indem alle Ukrainer, die halbwegs der russischen Sprache mächtig waren, als »Russen« registriert wurden.

Wenn aus dem Angeführten hervorgeht, sagt Rudnyckyj, dass die ukrainische Nation ein sehr wichtiges Element in Osteuropa ist, so ist das ukrainische Territorium noch viel wichtiger. Die Ukraine ist zweifellos das bei weitem wertvollste Gebiet des russischen Reiches in Europa.

Was zunächst die Volksdichte anbetrifft, reihen die ukrainischen Gouvernements gleich nach den polnischen. Kijew und Podolien haben eine Volksdichte von 89 pro km2, Poltawa 72, Charkow 60, Tschernigow 57, Wolhynien 54, Chersson 49, Jekaterinoslaw 48. Selbst die südöstlichen Grenzgebiete (Taurien 31, Kuban 28) haben eine größere Volksdichte als Russlands Mittel (25 pro km2). Nahezu der vierte Teil des ungeheuren Menschenreservoirs von Russland befindet sich auf dem ukrainischen Territorium (40 Millionen). Und doch bildet die Ukraine trotz ihrer Großräumigkeit nur den neunundzwanzigsten Teil des russischen Riesenreiches.

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Von besonderem Interesse dürften heute die Bevölkerungsverhältnisse in dem zum Kriegsschauplatz gehörenden Wolhynien sein, über welches Gouvernement wir in dem Abschnitt „Deutsche Kolonien in der Ukraine“ noch besonders eingehen werden. Wolhynien ist zunächst dicht bevölkert, auf den Quadratkilometer 57,4 bei einer Gesamteinwohnerzahl von 3.702.000. Rudnyckyj verdanken wir folgende gesammelten Angaben:

Den autochthonen Grundstock der Bevölkerung Wolhyniens bilden die Ukrainer (2.095 .000, d. h. 70,1 Prozent), Wolhynien liegt vollständig innerhalb der Grenzen des ukrainischen Nationalterritoriums. In den meisten Kreisen Wolhyniens übersteigt der Prozentsatz der Ukrainer 80 Prozent. Es ist mithin ohne weiteres ersichtlich, dass Wolhynien ein ukrainisches Land ist, in welchem die fremden Elemente nur kleine Sprachinseln bilden oder zerstreut wohnen. Der gesamte Bauernstand ist ukrainisch mit wenigen Ausnahmen, ebenso der meist ackerbauende Kleinbürgerstand der Städtchen und der Vorstädte größerer Ortschaften. Außerdem ist die niedere Geistlichkeit und die Unterschicht des Beamtenstandes ukrainisch durch Herkunft, teilweise auch durch Nationalbewusstsein.

Unter den anderen Nationen nehmen die Juden (394.000 = 13,2 Prozent) die erste Stelle ein. An Stelle des unter polnischer Herrschaft verdrängten ukrainischen Bürgertums in die Städte Wolhyniens eingedrungen, bilden die Juden die absolute oder relative Mehrheit der Bevölkerung in allen Städten Wolhyniens, mit Ausnahme von Kremjanezj, wo die Ukrainer am zahlreichsten sind. In Zytomir bilden die Juden 42 Prozent der Bevölkerung, in Riwne 56 Prozent, in kleinen Städten noch mehr.

Die Polen Wolhyniens (184.000 = 6,2 Prozent) sind nur zum kleinsten Teile echte Polen oder Nachkommen solcher, die aus Polen in Wolhynien eingewandert sind. Die überwiegende Mehrzahl der Polen Wolhyniens sind polonisierte Ukrainer, Litauer, Deutsche usw., welche zur Zeit der polnischen Herrschaft über Wolhynien (16. bis 18. Jahrhundert) ihre Nationalität verlassen haben, um zur Staatsnation überzutreten. Die gesamte polnische Aristokratie Wolhyniens ist ukrainischen oder litauischen Ursprungs, ebenso der Hochadel. Der bäuerliche Kleinadel (szlachta zasciankowa), welcher einen bedeutenden Teil der Polen Wolhyniens ausmacht, ist ukrainischen Ursprungs, gebraucht auch heute zum großen Teile das Ukrainische als Umgangssprache, und nennt sich Polen nur deswegen, um nicht mit den ukrainischen Bauern verwechselt zu werden, wogegen sich das adelige Bewusstsein heftig sträubt. Aus diesem Bauernadel und den wenigen Kleinbürgern polnischer Nationalität rekrutiert sich die zahlreiche Klasse der Angestellten, der Großgrundbesitzer.

Die Deutschen (171.000 = 5,7 Prozent) sind erst seit Ende des 18. Jahrhunderts ins Land gekommen, aber ihre Einwanderung im größeren Ausmaß erfolgte erst nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und nach dem polnischen Aufstande 1863, als die große Krise für den Großgrundbesitz eingetreten ist. Ihre Anzahl ist besonders in den Kreisen Zytomir (47.000), Nowhorod wolynsjkyj (38.000), Luzjk (30.000), Riwne (24.000), Wolodymyr wolynsjkyj (15.000), Dubno (6.000) beträchtlich. Es sind zu vier Fünfteln ackerbauende Kolonisten, nur 20 Prozent betätigt sich in Industrie und Handel. Bereits im Jahre 1885 waren 400.000 Deßjatin in deutschen Händen. Es sind viele deutsche Sprachinseln entstanden, die viel bedeutender als die polnischen sind.

Die Russen (109.000 = 3,7 Prozent) sind auch nur zum geringen Teil echte eingewanderte Russen, sonst nur russifizierte Ukrainer, Polen, Deutsche usw. Diesen „Russen" gehört annähernd die Hälfte des Großgrundbesitzes an, außerdem sind die meisten höheren Beamten, Geistlichen, Militärs, viele Kaufleute und Gewerbetreibende russischer Nationalität. Dieses kleine Häuflein verleiht mit Hilfe der russischen Sprache, welche in Amt, Schule, Kirche alleinige Geltung hat, dem Lande die äußerlich russische Tünche. Sie ist jedoch sehr dünn aufgetragen und lückenhaft.

Die Tschechen (27.000 = 0,9 Prozent) sind nach 1861 eingewandert und haben Ackerbaukolonien in den Kreisen Dubno (10.000), Riwne (4.000), Luzjk (4.000), Ostroh (2.000) gegründet. Die Tschechen sind zu drei Vierteln ackerbauende Kolonisten, die bis 1885 bereits 40.000 Deßjatin Boden besaßen. 25 Prozent beschäftigen sich mit Industrie und Handel.

Die russische Herrschaft hat für Wolhynien keine Vorteile gebracht. Der Bauer blieb zunächst leibeigen und der Willkür der Gutsherren, nach der Emanzipation der Willkür der Beamten und der fortschreitenden Verarmung ausgeliefert.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine