Deutsche Kolonien in der Ukraine.

Die Gründungsabschnitte der deutschen Kolonisierung in Russland fallen in die Jahre 1764 — 1770 und in den Zeitabschnitt 1804 — 1810. Der erstere setzte ein unter der russischen Kaiserin Katharina II., die bekanntlich eine deutsche Prinzessin war, und zwar veranlasst durch die Folgen des Siebenjährigen Krieges, durch welchen manch deutscher Gau verwüstet und verarmt war. Die zweite wurde von Kaiser Alexander I. ins Leben gerufen, verursacht durch die Nachwirkungen der französischen Revolution und der napoleonischen Kriege.

Der Umfang jener ersten Ansiedelungen ist schwer festzustellen. Man hat nur im allgemeinen davon gehört, dass vor anderthalb Jahrhunderten etwa achttausend deutsche, französische und schwedische Bauern sich in den Gouvernements Ssaratoff und Ssamara an den Ufern der Wolga sesshaft machten. Später zogen deutsche Handwerker und Bauern in die Gouvernements Bessarabien, Cherson und Taurien. Hier kamen die Deutschen zum ersten Male mit den Ukrainern in Fühlung. Nach Forschungen von C. C. Eiffe, der ein gründlicher Kenner der deutschen Kolonien Russlands aus
eigenem langjährigen Studiums in Russland ist, sind über 200.000 Deutsche nach den polnischen Aufständen 1862/64 nach Wolhynien gekommen. „Während dieser Aufstände“, sagt Eiffe, „waren die Deutschen sich und ihrer Geschichte treu geblieben und hatten sich trotz aller polnischen Versuchungen an jenen nicht beteiligt. Für diese Treue an Zar und Reich zogen sie sich den Hass der Polen in einem Maße zu, dass über 45.000 Evangelische abermals zum Wanderstabe griffen und vor allem nach Wolhynien zogen. Diese waren zwar den russischen Besitzern ausgedehnter Gutsländereien wie auch der Krone zur Urbarmachung der ungeheuren Urwaldflächen und Kultivierung sumpfigen Bodens sehr willkommen, aber man begegnete ihnen als Deutschen mit großem Misstrauen. Die Behörden behandelten sie, die doch in Polen als russische Untertanen geboren waren, als „ausländische Ansiedler“ und beschränkten sie in ihren Bürgerrechten.


Viele dieser schlichten Leute hatten sich seinerzeit auf mündliche Versprechungen hin angesiedelt. Andere wieder hatten das erst urbar zu machende unbebaute Land ohne Gebäude, ohne irgendein Inventarstück mit 48 jährigem Pachtkontrakt übernommen. Während dieses Zeitraumes durfte an den Pachtbedingungen nicht gerüttelt werden, wohl aber sollte der Kontrakt alle zwölf Jahre erneuert werden. Als sie das erstemal dieser Klausel nachkommen wollten, verweigerten die Besitzer eine schriftliche Kontrakterneuerung. Harmlos und vertrauensselig beruhigten sie sich bei dem Bescheid. Nach abermals zwölf Jahren wurde ihnen die Ungültigkeit ihres Kontraktes vom Besitzer klar gemacht, weil sie die Form der vorgeschriebenen Erneuerung nicht gewahrt hätten. Nun hatte man sie voll in der Gewalt, machte für sie ungünstig kurzfristige Kontrakte und steigerte die Pacht willkürlich. Mit der Thronbesteigung Alexanders III. setzte auch in Wolhynien unsägliche Drangsalierung zwecks Russifizierung ein. Die Pastoren waren von Spionen umgeben, die Dorfschule wurde russifiziert, die Übung der Muttersprache galt als Verbrechen.

Auch den Bauern, deren eigener Besitz nicht angetastet werden konnte, drängte sich die Notwendigkeit abermaligen Abwanderns auf. Sie hatten zu wenig Land und keine gesetzliche Möglichkeit mehr, neues für ihre zahlreichen Söhne zu erwerben. Außerdem wurde ihnen der Kredit entzogen, den die Agrarbanken anderen russischen Untertanen, wie z. B. den neu eingewanderten Tschechen, sobald diese Glieder der orthodoxen Staatskirche geworden waren, anstandslos gewährten. Den Pächtern wiederum wurden von den Gutsbesitzern „koroborierte Kontrakte“ vorenthalten, d. h. solche, die ins Grundbuch eingetragen waren. Beim nicht-korroborierten Pachtkontrakt löste also ein Wechsel des Gutsbesitzers den Pachtvertrag.

Endlich war auch an manchen Orten, aber durchaus nicht überall*), schlechte Behandlung von selten der umliegenden Bevölkerung Grund zum Verlassen der Heimstätte. Neuerdings ging die Regierung unbarmherzig vor. Bisher gab es neben Bauern auf eigenem Land (11 Prozent), neben Pächtern von Krons- und von anderem Gutsland siebzehn Bauernkolonien auf den im persönlichen Besitz des Zaren befindlichen sogenannten Apanagegütern. Als nun die Regierung die Kolonisten von Haus und Hof zu vertreiben begann, hielt man die auf den Apanagegütern Ansässigen für völlig gesichert gegen diese den anderen drohende Gefahr der Verdrängung. Ja, die selbständigen Bauern glaubten sich weniger sicher. Die kaiserlichen Kolonisten sagten: „Uns betreffen jene Maßregeln, nicht, wir sitzen auf des Kaisers Gut, wir haben unsren Kontrakt auf des Kaisers Wort. Dies ist ihm gehöriges Land.“ Und die so sprachen und dachten, lehnten eine Übersiedelung nach Kurland ab.**) Zwei Jahre später erschien u. a. einer von diesen Pächtern des Zaren in Kurland und sagte zu einem Kolonisator: „Erinnert sich der Herr noch, er war bei uns in unsrer Kolonie auf des Kaisers Gut. Er hat recht gehabt, als er uns sagte: „In Russland findet der deutsche Bauer auch auf des Kaisers Gütern kein Recht.“ Nun ist ein Beamter aus Petersburg gekommen (aus dem Ministerium des kaiserlichen Hauses. D. Verf.) und hat gesagt: „Säen dürft ihr noch, aber ernten nicht mehr, und zum 1. Januar müssten wir fort und unsere Häuser und unsre Obstgärten und alles behielte der Kaiser für die russischen Bauern.“

*) Die Leute von Kiew z. B. sagten Eiffe, sie wären mit der Behandlung seitens der nichtdeutschen Bevölkerung, namentlich seitens der russischen Polizei, die die Deutschen, weil sie so ordentliche und zuverlässige Elemente wären, geradezu bevorzuge, sehr zufrieden gewesen.

**) Deutsche Grundbesitzer haben damals ihre Landsleute nach Kurland hinüber zu ziehen versucht.

— Auf allem wolhynischen Land hatten die Kolonisten die Wälder mit unsäglicher Mühe gerodet, den Boden kulturfähig gemacht,*) alle Gebäude, alles Inventar, den ganzen Viehbestand allmählich aus eigenen Mitteln beschafft. Für all dies zahlten ihnen weder die Gutsbesitzer noch die Krone eine Kopeke Vergütung und Ersatz. Das Vieh mussten sie zu Schleuderpreisen dem Juden überlassen, der ihnen höhnend sagte, wenn er es ihnen nicht abnähme, würden sie ja überhaupt keinen Käufer beim Fortzug finden. — "

Wie sehr sich die hier geschilderten Zustände durch den Verlauf des jetzigen Krieges für die deutschen Kolonisten in Russland verschlimmert haben, werden wir in einem besonderen Abschnitte behandeln.

Eigenartig ist aber die leicht zu ziehende Parallele in der Behandlung der deutschen Kolonisten und des ukrainischen Volkes. Von den Russen wird dieser Krieg als die gegebene Gelegenheit betrachtet, das ukrainische Volk zu moskowitisieren, die Deutschen aber sollen ausgerottet werden. Beides wird Russland nie gelingen. —
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine