Die Kirche.

Die Ukrainer sind seit 988 griechisch-orthodox, aber ihre Kirche war autokephal, gewissermaßen eine Nationalkirche, und stand nur in loser Abhängigkeit vom Konstantinopeler Patriarchen. Seit der Union von Brest im Jahre 1596 war ein großer Teil der Westukrainer griechisch-uniert. Die russische Regierung hob die Autonomie der ukrainischen orthodoxen Kirche auf und russifizierte sie vollkommen. Das griechisch-unierte Glaubensbekenntnis wurde von Russland mit unerhörten Gewaltmaßregeln vollständig ausgerottet und hat sich nur bei den galizischen Ukrainern erhalten.

Wir brauchen nicht zu weit ins Altertum zu greifen, um die Bestrebungen zu erkennen, denen die griechischen Staaten, später Rom, Byzanz und die mittelalterlichen Republiken Italiens folgten, um um jeden Preis in den Besitz des Landes zu kommen; die Naturschätze des Landes, seine Handelswege und Kulturverbindungen, die bis nach dem Kaukasus, Mesopotamien, Mittelasien, Persien, Indien und China reichten, ebneten den Weg des Christentums und der römischen bzw. byzantinischen Kirche. Das Christentum verbreitete sich zuerst in den wichtigsten Städtezentren, die die Länder der Ukraine von der Kubanjmündung bis zum San im Westen, und im Norden bis zu den großen Seen und Ausflüssen der Wolga beherrschten. Dies waren die ukrainischen Städte im Stromgebiet des Dnjepr: Kijew, Tschernigow, Perejaslawe. Hier hatte das politische und kulturelle Leben Osteuropas jener Zeit seinen Mittelpunkt.


Wolodymyr der Große schaffte für das Christentum um das Jahr 990 feste Grundlagen, und zwar in byzantinischer Form. Arg bedrängt wurde das Christentum von jeher durch den Andrang tatarischer Horden, die im 11. und 12. Jahrhundert andauerten. Die Pläne des Fürsten Danyio, einen Bund zum Kampfe gegen die Tataren mit den östlichen ukrainischen Ländern und den ukrainischen Stadtgemeinden im 13. Jahrhundert zustande zu bringen, scheiterten an der Gleichgültigkeit der westlichen Nachbarn. Aber sie haben dem Fürsten die Königskrone aus den Händen des Papstes im Jahre 1252 eingebracht.

In der Zeit, als die Ukraine zum Großfürstentum Litauen gehörte, wurden ausschließlich die litauisch-katholischen Elemente begünstigt, die sich auf die Solidarität des katholischen Glaubens stützten, und suchte derzeit die ukrainische Aristokratie Hilfe bei den Glaubensgenossen in Moskowitien (1481). Die Moskowiter benutzten diese Gelegenheit, um von den Grenzlanden der Ukraine Besitz zu ergreifen; es handelte sich um das Gebiet von Tschernygow und die Stadt Smolensk und um die Besetzung von Kijew.

Historisch betrachtet, ist also die Ukraine nicht ein uraltes orthodoxes Land, wie in unserer Vorstellung Moskau ist, sondern ein altkatholisches, schon im 15. Jahrhundert und dann wieder im 19. Jahrhundert durch systematische Verfolgungen zur Orthodoxie gezwungenes Gebiet, in dem die Traditionen seiner — griechisch-unierten — Kirche keineswegs erloschen sind. Dies ist in Europa so verkannt, schreibt „Die Post“, dass manchen die Tatsache seltsam anmuten muss, dass z. B. viele von den jetzt verbündeten Truppen besetzte Städte Wolhyniens und des Cholmlandes einst, und zwar vor kurzer Zeit noch, eine große Rolle in der Geschichte des Katholizismus spielten! Manche haben auch die Tatsache vergessen, dass 1594 auf der ruthenischen Provinzialsynode zu Brest die Union der ruthenischen Kirche mit Rom beschlossen wurde; dass am 23. Dezember 1595 zwei Abgesandte der ruthenischen Geistlichkeit — der Bischof von Ostrog und Luck, K. Terlecky, und der Bischof von Wladimir und Brest, J. Potij — beim Papste erschienen, um im vatikanischen Palast, in der großen Halle Constantins, wo der Papst die höchsten Fürsten zu empfangen pflegte, in Anwesenheit aller Kardinäle das katholische Glaubensbekenntnis abzulegen; dass die Union so große Fortschritte in der Ukraine machte, dass neun bereits Ende des 18. Jahrhunderts ruthenische Diözesen Polens sich zur Union bekehrten (während nur eine einzige Diözese in Mohyliv orthodox blieb), und dass der ruthenisch-unierte Basilianerorden damals 250 Klöster in seinem Besitz hatte. Dieser Zustand dauerte bis zur Teilung Polens, nach welcher die berühmte „Bekehrung“ der unierten Ukrainer zur Orthodoxie begann, die wir in kleinerem Maßstabe in Galizien vor kurzem beobachten konnten. Zuerst wurden alle ukrainisch-katholischen Bistümer mit einem Ukas der Zarin aus der Welt geschafft, dann begann man die unierten Pfarrer zu verschicken und an deren Stelle orthodoxe Popen einzusetzen. Auf diese Weise haben die Ruthenen 1772—1796 allein acht Millionen Gläubige in 9.316 Pfarreien und 145 Klöstern zugunsten des Orthodoxismus verloren. 1820 erschien der Ukas Nikolaus I., der den Buchhändlern den Verkauf der ruthenisch-katholischen Gebetbücher verbot; 1832 wurde der Basilianerorden aufgelöst und seine Güter eingezogen; 1833 den russischen Gouverneuren das Recht eingeräumt, die Pfarreien zu besetzen. Die Bevölkerung leistete Widerstand. In ganz Wolhynien, Podolien und Cholmland — bis in die Zeit Alexanders II. — spielten sich schreckliche Szenen ab zwischen den sog. „hartnäckigen“ ruthenischen Bauern einerseits, die der Wegnahme ihrer Kirche und der gewaltsamen Einführung der Orthodoxie sich widersetzten, und den russischen Behörden und Kosaken andererseits. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser Widerstand gebrochen und die Ukraine zu einem „uralten orthodoxen“ Lande gestempelt! Die russische Gewaltpolitik und die russische Wissenschaft feierten wieder ihre Triumphe, und wieder wurde dieser Gewaltakt der russischen Politik, die eine ganz neue Lage in der Ukraine geschaffen hat, zu einer uralten Tatsache in den Augen der zivilisierten Welt. Ein uraltes ruthenisch-katholisches, erst vor hundert Jahren zum ersten Male ganz unter die russische Herrschaft gekommenes Land wurde in ein altrussisch-orthodoxes umgewandelt! Mit einer unbegreiflichen Gewandtheit haben die Russen ein fremdes Territorium auf ihrer Karte mit derselben Farbe wie das eigentliche Russland bemalt, und das überraschte Europa hat geglaubt, dass dies ebenso echt russisch wie Rjäsan oder Tambow sei! Eine Mystifikation, wie sie großartiger die Geschichte kaum kennt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Ukraine