XI. Über die gewaltigen, durch die Sturmfluten in unserm südlichen und östlichen Küstengebiete bewirkten geographischen Veränderungen

Ich wende mich nun zu dem letzten Teil meiner Abhandlung – zu den Veränderungen, welche die Sturmfluten an unsern Küsten hervorgerufen
haben. *)

Leider mangelt es mir zum Entwurf eines getreuen Bildes an sicheren Überlieferungen aus den älteren Zeiten. Die Mitteilungen aus dem ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung sind so dürftig und unbestimmt, dass wir über den Zustand unserer Küsten während dieses Zeitraums fast nur Hypothesen aufstellen können. Auch für die folgenden 500 Jahre bis zum XVI. Jahrhundert finden wir nur wenige sichere Angaben, welche zu einer Vergleichung mit dem späteren Zustande unserer Küsten dienen könnten. Die meisten Veränderungen lassen sich darum nur für die letzten 375 Jahre verfolgen und auch hier noch nicht immer sicher, wenigstens in dem ersten Teil dieses Zeitraums. Man muss auch hierbei niemals vergessen, dass die meisten Menschen zur Übertreibung von Naturkatastrophen sehr geneigt sind.


Mehrere Schriftsteller, namentlich v. Hoff**), schließen aus verschiedenen Gründen, unter andern aus der Konfiguration der betreffenden Ufer, dass die Nordsee in ihrem südlichen Teil ursprünglich ein geschlossener Busen und die Straße von Calais einst festes Land gewesen sei. Wann das großartige Ereignis des Durchbruchs des Canals – falls es überhaupt Statt gefunden hat – eingetreten ist, darüber sind keinerlei Anhaltspunkte vorhanden (alte Sagen ausgenommen); es ist jedenfalls in vorhistorischen Zeiten erfolgt, da bereits Pytheas, welcher 334 v. Chr. die Nordsee bereiste, England als Insel erwähnt. Wenn der Durchbruch wirklich durch das Meer veranlasst ist, so kann er nur durch mächtige, von SW.-Orkanen erregte Sturmfluten erfolgt sein.*)

Welche großartige Veränderungen im Laufe der Zeiten unsere südliche und östliche Küste durch das Meer erfahren hat, davon geben den deutlichsten Beweis die breiten Strecken fruchtbaren Marschlandes, welche sich von Belgien bis Jütland überall längs der Küste hinziehen. Diesen fruchtbaren Boden, welcher zu den ergiebigsten der ganzen Welt gehört, verdanken wir fast ausschließlich dem Meere, vor allem den Sturmfluten. Es ist auf Seite 21 angegeben, wie weit sich die Wirkung hoher Wellen in die Tiefe erstreckt; sie wühlen den Boden auf*), führen eine Menge Schlamm (Schlick) mit sich, welchen sie, das Land überströmend und allmählich stillstehend, zum Teil ablagern. Der Abfluss des Wassers erfolgt stets viel langsamer, bei manchen Sturmfluten erst mehrere Tage nachher, die schwache Rückströmung ist nicht im Stande, alle Schlammteile wieder mit sich fortzuführen. Dies geschieht vor unsern Augen noch täglich, die Verschlickung der meisten Nordseehäfen ist eine Folge davon.

Nur einen ganz geringen Anteil können dagegen die Flüsse an der Bildung unserer Marschen haben. Das Flusswasser enthält nämlich mach angestellten Untersuchungen viel weniger feste Bestandteile, höchstens 1, 1/29 ja oft nur 1/150 %, dagegen das Seewasser z. B. bei Norderney 3 ¼ %. Das Wasser des Meeres ist daher viel reicher an Schwemmstoffen; dazu kommt noch, dass es ganz andere enorme Wassermassen zur Zeit der Sturmfluten von 8 Fuß Höhe und 30 Meilen Länge gegen unsere südliche Küste treibt, welchen gegenüber das durch die Flussmündungen sich ergießende Wasser fast verschwindet. Nach Arends' Schätzungen kann das Flusswasser kaum 1/132, des gesamten Marschlandes erzeugt haben. Wie sehr aber die Sturmfluten zu der Bildung desselben beigetragen haben, geht daraus hervor, dass nach Messungen über den Gehalt des Meerwassers vor der Elbe dieses bei heftigen NW.-Stürmen 5–6mal soviel Schlammteile mit sich führt, als bei schwachen oder östlichen Winden.

*) Zur Orientierung für die in diesem Abschnitt enthaltenen geographischen Angaben ist die Karte I beigegeben. In derselben sind nur die hier in Betracht gezogenen Namen von Flüssen, Städten etc. verzeichnet. Zugleich gibt diese Karte eine Ansicht des südlichen und östlichen Überschwemmungsgebietes der Februarflut des Jahres 1825.

**) Die folgende Darstellung dieser Veränderungen stützt sich hauptsächlich auf Arends' Phys. Geschichte der Nordseeküste – 2 Bde. Emden 1833, – sowie auf das in der folg. Anm. citirte Werk.

*) von Hoff, natürl. Veränderungen der Erdoberfl. Gotha, 1824.

*) Ich halte es indessen für viel wahrscheinlicher, dass der Durchbruch des Kanals durch vulkanische Kräfte bewirkt worden ist.

*) Beweis dafür ist auch der bei Sturmfluten so häufig ausgeworfene Bernstein.


Hierdurch ist es erklärlich, wie das Meer im Stande war, oft in verhältnismäßig kurzer Zeit breite Striche an der Küste anzusetzen. In dem es an einer Stelle ganze Strecken festen Landes nach und nach verschlang, sie der Tiefe zu führte, oder Sandbänke und Watts daraus bildete, breitete es an andern Stellen gewaltige Massen erdiger Stoffe über lange Küstenstriche aus, – es entstanden neue Heller und Polder. Fast alle Punkte unserer Küste haben in dieser Weise periodisch bald Land verloren, bald darauf gewonnen. Durchschnittlich ist der Verlust aber grösser, als der Gewinn. Ein Beweis, dass meine schon oben ausgesprochene Ansicht richtig ist, dass vieles von dem Meere seinen Tiefen zugeführt wird, um vielleicht nie wieder zurückgegeben zu werden. Das gesamte Marschland längs der Küste von Belgien, Holland, Deutschland, Jütland hat nach Arends *) eine Größe von 424 Quadrat-Meilen. Nach einer von ihm aufgestellten, natürlich nur mutmaßlichen Übersicht*) des Verlustes und Gewinnes, welchen diese Küste seit dem XIII. Jahrhundert erlitten, verteilt sich dieser wie folgt:

Landverlust

Aus dieser Zusammenstellung geht hervor, wie von 1200–1500 der Verlust überwog, in dieser Zeit entstanden die Einbrüche am Biesbosch, Dollart, an der Jahde und am Nordstrand.

In dem folgenden Zeitraum von 1500 bis jetzt überwiegt dagegen der Zuwachs. Außer am Dollart, an der Jahde und am Nordstrand kennt man in dieser Periode fast nur Landverluste auf den Inseln und in Seeland. Bei diesen sind die durch die Fortrückung der Dünen von Seeland bis zum Helder entstandenen nicht mitgerechnet. Indem Arends die hierdurch bewirkte Landverminderung, sowie den Landanwachs, der noch unbedeicht ist, mit berücksichtigt, berechnet er bis 1830 die Totalabnahme unseres südlichen und östlichen Küstengebiets in den letzten 600 Jahren auf 60 Quadrat-Meilen. *) Leider fallen die meisten der größeren Landverluste in die Periode von 1200–1500, für welche, wie schon erwähnt, die Angaben unsicherer sind. Die bei den Verlusten am härtesten mitgenommenen Distrikte haben später auch wieder den größten Zuwachs erhalten.

Es liegt nicht in meiner Absicht, eine ins einzelne gehende Zusammenstellung der Veränderungen in den einzelnen Teilen des Küstengebiets vorzuführen*), doch will ich die hauptsächlichsten und wichtigsten kurz erwähnen.

Holländisch Flandern hat im Ganzen vielleicht 2 Quadrat-Meilen eingebüßt; die Küste von Westflandern erstreckte sich früher viel weiter ins Meer. Durch die Sturmflut vom 16. November 1377 entstand an der Schelde der „Dullert“ oder Brakmann, zwischen Terneuse und Sas van Gent. Dieser vergrößerte sich durch eine neue Flut vom 20. Februar 1440; 7 Kirchspiele, 16 Dörfer sollen durch beide Katastrophen verschlungen sein. Erst spät verlor sich dieser Busen. Biervliet war noch Ende des XVII. Jahrhunderts eine Insel.

Ein Blick auf die Karte zeigt uns Seeland und einen Teil von Südholland durch zahlreiche breite Flussmündungen zerrissen; hier sowie an der Schelde hatte das Meer weithin Zutritt ins Land, und hat daher vielfache Veränderungen hervorgerufen. Durch die Flut vom 18./19. November 1421 entstand an der Maas unterhalb Dordrecht der große Busen Biesbosch (72 Kirchdörfer gingen ganz oder teilweise unter), die höheren Teile des überströmten Landes bildeten zahlreiche Inseln. Ursprünglich umfasste der Busen vielleicht 8 Quadrat-Meilen, jetzt misst er höchstens noch 3 Quadrat-Meilen, in demselben ist namentlich seit dem vorigen Jahrhundert vieles Land wieder angewachsen, die Sandbänke und Inseln vergrößern sich stetig.

Durch den Durchbruch des Biesbosch wurde ein großer Teil des Wassers der Maas abgezogen und dem Haringvliet und der Krammer zugeführt. In Folge dessen verschlammte der alte Maasarm, nur noch kleinere Schiffe können dort jetzt einlaufen, größere fahren durch das Haringvliet auf großem Umwege über Dordrecht durch die „neue Fahrt“ nach Rotterdam.

*) Der Wert des wiedergewonnenen äußerst fruchtbaren Landes ist indessen trotzdem grösser, als der des geringeren untergegangenen Bodens.
*) Eine bis in's Einzelne gehende Darstellung ist von Arends mit außerordentlichem Fleiß ausgeführt in seiner „Nordseeküste“, auf welche wir wiederum für das Folgende verweisen.


Die Küsten der seeländischen und südholländischen Inseln haben an der dem Meere zugekehrten Seite sehr gelitten, sie werden jetzt vor weiteren Zerstörungen durch Deiche geschützt, welche zu den schwersten und kostbarsten Wasserbauten der Welt gehören.

Der Rhein selbst hat bedeutende Veränderungen erlitten. Außer seiner Mündung bei Katwyk in Südholland soll er Sagen und Vermutungen nach noch andere nördlicher gerichtete Arme gehabt haben, welche sich durch die jetzige Zuidersee in das Meer ergossen. Auch der gegenwärtige bei Katwyk mündende Ausfluss ist winzig, die Hauptmasse des früher auf deutschem Gebiete so stolzen Stroms hat sich schon bei Pannerden in die Waal gezogen, bei Wyk te Burstede findet wiederum eine Teilung Statt, die größte Masse des Wassers fließt dort als Leck weiter, während der Rhein als kleiner Arm bei Katwyk mündet. Auch zu der Versandung des alten Hauptarms sollen Sturmfluten und ungünstige Bedeichungen bei Wyk beigetragen haben. Für die Schiffahrt hat man den „Vaertsche Rhein“ von Vianen nach Utrecht gegraben. Von Utrecht aus wurde der Rhein durch Vertiefung im XVI. Jahrhundert schiffbar gemacht, sowie ein Kanal bei Katwyk angelegt. Allein beide versandeten; erst 1806 hat man durch sehr kostspielige Kanalbauten die Entwässerung der Rheingegenden herbeigeführt.

Die fast gradlinige, süd- und nordholländische Küste von der Maasmündung bis zum Helder hat seit historischen Zeiten beständig Land verloren. Die Dünen längs dieses Küstenstrichs sind bedeutend geringer geworden, und immer mehr landeinwärts gerückt. So sollen nach den Angaben des Ingenieurs Bolstra die Dünen allein von 1603–1730 250 Ruthen in der Breite verloren haben, an einzelnen Stellen sind sie jetzt ganz verschwunden. Scheveningens älteste Kirche lag ursprünglich 2000 Schritt östlich vom Strand landeinwärts, 1470 musste sie auf die Ostseite des neuen Dorfes, 1570 wiederum weiter landeinwärts versetzt werden. Ähnlich sind Katwyk und verschiedene Dörfer in Folge der Einbrüche der See immer weiter östlich gerückt. Auch der Helder erstreckte sich früher viel weiter westlich in die See hinein, jetzt ist diese vielbedrohte nördlichste Ecke von Holland durch kolossale Deichbauten geschützt.

Die Zuider-See ist nach alten Chroniken nicht immer ein offener Meeresbusen, sondern einst ein Landsee gewesen. *) Zwischen Enkhuisen und Stavoren, wo noch jetzt der Busen sich auffällig verengt, war – diesen Überlieferungen zu Folge – früher festes Land, dort lag der oft erwähnte „Kreiler Busch“; noch zu Anfang des XIII. Jahrhunderts will man zu Fuß von dem einen Ufer nach dem andern haben gehen können. Falls diese alten Sagen wirklichen Werth haben, hat der Untergang des fraglichen Landstrichs allmählich durch wiederholte Sturmfluten Statt gefunden, vielleicht eingeleitet durch die Allerheiligenflut des Jahres 1170. Die Haupterweiterungen des Busens wären dann etwa durch die Fluten von 1219, 1230, 1237 und 1287 erfolgt. Merkwürdig ist, dass die in ihrer jetzigen Gestalt wahrscheinlich mindestens ein halbes Jahrtausend alte Zuider-See – im Gegensatz zum Dollart und anderen Meerbusen – seit historischen Zeiten keinen irgend erheblichen Landanwachs erfahren hat. Ja einzelne Küsten und Inseln haben nachweislich durch spätere Sturmfluten eingebüßt, z. B. Marken und Urk 1632. Nur vor dem Y bildet sich eine immer größere Sandbank (Pampus). Diese und die schlechte nördliche Einfahrt ist Veranlassung zu dem großartigen nordholländischen Kanal gewesen, durch welchen die größten Seeschiffe direkt vom Helder nach Amsterdam fahren können. Während die an die Zuider-See stoßende südliche und westliche Küste von Friesland in früheren Zeiten durch Sturmfluten bedeutend gelitten hat und jetzt nur durch starke Deiche vor weiteren Abbrüchen geschützt werden kann, hat dagegen der nordwestliche und nördliche Teil dieser Küste in den letzten 3 Jahrhunderten sehr erheblich an Land gewonnen (der große Polder het Bilt umfasst allein fast ¾ Quadrat-Meilen). Der Busen Lauwersee ist jedenfalls früher viel grösser gewesen, er ist nach und nach verschlammt, und in den letzten beiden Jahrhunderten viel Land an demselben eingedeicht worden. Auch an der Küste von Groningen ist um diese Zeit viel Polderland von ¾ Quadrat-Meile Breite gewonnen. Schwerlich würde in den sehr verschlammten Hafen von Delfzyhl jetzt, wie zu de Ruyter’s Zeiten (1665), eine große Flotte mit vielen Prisen einlaufen können.

Dahingegen – und das ist bemerkenswert – haben die vor dem Festlande als Schutzmauer liegenden 6 holländischen Inseln, Texel, Vlieland, Ter Schelling, Ameland, Schiermonnikoog und Rottum, alle seit historischen Zeiten durch das Meer gelitten. Sie haben vielleicht ein Drittel ihrer Grösse in den letzten 200 Jahren eingebüsst. Ihre Dünen rücken immer mehr landeinwärts, an einzelnen Stellen sind sie schon ganz verschwunden.

Die Grenze zwischen Holland und Ostfriesland bildet der Dollart. Dieser Busen, welcher zur Zeit seiner größten Ausdehnung, im XV. oder zu Anfang des XVI. Jahrhunderts 7 Quadrat-Meilen umfasste, ist fast unzweifelhaft durch Sturmfluten entstanden. Vor der Bildung des Busens hatte die Ems in der Nähe von Emden einen ganz anderen Lauf. Während sie jetzt von Borssum oder Pogum geradeaus westlich nach Larrelt zufließt, – wandte sie sich früher von Pogum in einem Bogen nördlich, floss hart an den Mauern von Emden vorbei und von da südlich etwa bei dem Logumer Vorwerk in ihr jetziges Bett. Dieser Emsbogen bildete das noch lange erhaltene alte Emdener Fahrwasser.

An der inneren westlichen Seite dieses Bogens bei dem untergegangenen Dorfe Jansum (gegenüber Logumer Vorwerk) fand den alten Überlieferungen zu Folge der erste Durchbruch der Deiche Statt, die geographische Lage macht dies wahrscheinlich. Nach Emmius ist dieser Durchbruch durch die schwere Weihnachtsflut des Jahres 1277 geschehen. Ob durch diese Flut, sowie durch die folgende nicht viel weniger hohe von 1287, bereits der Anfang zu dem Dollart gebildet ist, lässt sich nicht sicher feststellen. Jedenfalls ist der Umfang des damaligen Überschwemmungsgebietes noch kein großer gewesen, der Busen erst nach und nach entstanden. Es wäre dies auch von vornherein unwahrscheinlich; denn wenn auch durch eine hohe Sturmflut weite Strecken Landes überflutet, selbst große Kolke gebildet werden können, – ein Meerbusen von der Größe des Dollarts kann nur entstehen durch wiederholte lang anhaltende Angriffe der See, wodurch große Landmassen allmählich verschlungen und so das tiefere Bett des Busens gebildet wird. Mir kommt daher die von Bartels“) aufgestellte und durch viele Gründe unterstützte Ansicht nicht unwahrscheinlich vor, dass der Haupteinbruch erst 1377 oder noch später eingetreten ist, jedenfalls war die Ausdehnung des Busens gegen 1400 schwerlich größer, als sie auf der von ihm gezeichneten Karte angegeben wird.“) Von 1377–1400 werden 17 mehr oder weniger schwere Sturmfluten erwähnt, welche unser K?stengebiet heimgesucht haben. Von diesen haben ohne Zweifel mehrere an der Vergrößerung des Dollart Teil genommen. Die größte Ausdehnung erreichte der Busen um die Mitte oder gegen das Ende des XV. Jahrhunderts.

*) Von dem General-Superintendenten Bartels in Aurich sind zwei sehr schätzenswerte Beiträge zur Entstehungs-Geschichte des Dollart geliefert, abgedruckt in den Jahrbüchern der Gesellschaft für bildende Kunst und Altertümer zu Emden, Jahrg. 1872 und 1875.
**) Vielleicht hätte man damals (d. h. zu Ende des XIV. Jahrhunderts) durch Wiederherstellen alter oder Legen neuer Deiche, etwa durch einen Deich von Pogum nach Loge, dem weiteren Vordringen des Wassers Einhalt tun können. Ob vielleicht die durch Sturmfluten meerbusenartig erweiterte Ee, oder ein später in dem Dollart aufgegangener Emsarm ein solches Unternehmen haben unausführbar erscheinen lassen – oder ob die langen und heftigen Fehden der Vetkoper und Schieringer die Anwohner des bedrohten Gebiets verhindert haben, rechtzeitig mit vereinten Kräften dem drohenden Verderben Einhalt zu tun, sind für mich offene Fragen. Soviel steht aber für mich fest, dass der Einbruch ein allmählicher gewesen ist, wie er dies auch aus physikalischen Gründen gewesen sein muss.


Allmählich sollen in ihm 52 große und kleine Orte, darunter eine Stadt (Torum) untergegangen sein. Von vielen sah man noch lange die Überreste zur Zeit der Ebbe, auch erhielten sich einzelne höhere Teile noch längere Zeit als Blinken, eine von diesen soll noch 1587 bewohnt gewesen sein. Drei Inseln, Ulsda, Münniksveen und Nesse, blieben beständig. Die beiden ersten lagen in der südwestlichen Bucht des Dollart und sind schon früh wieder eingedeicht; letztere, seit 1850 mit dem Festland wieder vereinigt, bildet die Halbinsel Nesserland vor Emden. Nachdem der Busen seine größte Ausdehnung von etwa 7 Quadrat-Meilen erreicht hatte –, und man sich durch großartige Deichbauten auf der ostfriesischen Seite etwa 1494, auf holländischer etwas später, vor weiteren Zerstörungen gesichert hatte, – erfolgte seit der Mitte des XVI. Jahrhunderts (an einzelnen Stellen noch früher) rasch bedeutender Landanwachs. *) Für das zu Grunde gegangene, höchstwahrscheinlich moorige oder wenig fruchtbare Land setzte das Meer immer größere Strecken fruchtbaren Marschlandes an, in stetiger Reihenfolge fanden Einpolderungen Statt, man gewann so etwa 4 Quadrat-Meilen des besten Landes, sodass der jetzige Dollart kaum 3 Quadrat-Meilen umfasst. **) An seinen Ufern wird noch fortwährend Polderland eingedeicht.

*) Auf der Groninger Seite wurde 1454 ein größerer Deich von Reide bis zu den Sandhöhen bei Finserwolde gelegt, ihm folgte 1494 auf der ostfriesischen Seite ein Deich von Pogum bis zu dem Bunder Sandrücken und von da bis zur Grenze bei Boen. Ob und wo diese beiden Deiche sich aneinander schlossen, finde ich nirgends verzeichnet. Der holländische Deich war schlecht gebaut und schlecht unterhalten, er durchbrach 40 Jahre später, noch schlimmere Katastrophen erfolgten 1507 und 1509, wo bei Palmar resp. am Dallinghörn ein Einbruch erfolgte. Hierdurch entstand der südwestlichste Teil des Dollart. Von 1519–1539 wurden auf holländischer Seite neue Deiche gebaut. Damals hatte der Dollart seine größte Ausdehnung von 7 Q.-Meilen.
*) Die Einpolderungen am Dollart betrugen nach Arends' Schätzungen:
im XVI. Jahrhundert etwa 1,15 Q.-Meilen,
im XVII. Jahrhundert etwa 1,19 Q.-Meilen,
im XVIII. Jahrhundert etwa 1,48 Q.-Meilen,
im XIX. bis 1830 etwa 0,20 Q.-Meilen.


Von dem zu Grunde gegangenen Lande findet man eine Karte bei Emmius, Outhoff, Coldewey, eine der besten ist die einer auf dem Rathause zu Emden befindlichen Handschrift, dem sog. trifolium aureum beigegebene. Auch Perizonius hat seiner Geschichte, sowie Bartels seinen beiden Abhandlungen eine Karte beigegeben. Für Emden hatte der Durchbruch des Dollart noch die weitere verhängnisvolle Folge, dass die Ems ihr altes Bett verließ und sich ein neues von Pogum auf Reide wühlte. Auch dies ist allmählich geschehen. Erst spät erkannte man diese drohende Gefahr in Emden. Von 1583 an hat die Stadt fast 30 Jahre lang sich bemüht, durch großartige Wasserbauten die Ems in ihr altes Bett zurückzudrängen; allein es war zu spät, der nördliche Bogen verschlammte und verschlickte immer mehr. Schon 1768 musste man einen Kanal zum Fahrwasser legen. Durch den Bau der Nesserlander Schleuse und die damit verbundenen Deichanlagen ist der alte Emsarm vollständig verschwunden. Nesserland, bis dahin eine Insel, hängt jetzt wieder, wie vor dem Einbruch des Dollarts, mit dem Festlande zusammen.

*) Vgl. die bereits zitierte Abhandlung von Bartels im Jahrbuch für 1875 der Emder Gesellschaft für Kunst und Altertümer. – Die alten Römer erwähnen eine große Insel Fabaria oder Burchana vor den Mündungen der Ems.

Buise, noch 1657 als Insel zwischen Juist und Norderney erwähnt, bildet jetzt eine Sandplate. Die in alten Chroniken vielfach angeführte Insel Band hat sich wahrscheinlich von dem jetzigen Borkum nach dem Festlande zu in der Richtung auf Norden erstreckt.

Norderney hat in den letzten beiden Jahrhunderten verhältnismäßig weniger gelitten, Baltrum dagegen bedeutend verloren, Langeoog besonders durch die Sturmflut von 1717, ebenso Spiekeroog und Wangeroog. Letztere, früher eine viel besuchte Badeinsel, ist namentlich durch die Neujahrsflut 1855 schwer geschädigt worden. Jenseits Wangeroog lag östlich noch eine Insel Mineroldeoog, ihre Stelle wird durch eine hohe Sandbank bezeichnet.

Während die ostfriesischen Inseln sämtlich in geschichtlicher Zeit bedeutend an Größe abgenommen haben, ist durch sie ebenso wie durch die holländische Inselreihe das hinter ihnen liegende Festland vor den Angriffen der See geschützt worden. Ja, fast in demselben Grade, wie die Küste von Friesland und Groningen, hat die ganze Nordseite von Ostfriesland und dem sich daran schließenden Jeverland, seit der Mitte des XVI. Jahrhunderts an dem in dieser Periode allgemeinen Landgewinn Teil genommen.

Die einzige Ausnahme davon bildet die nordwestliche Seite der ostfriesischen Küste von Emden bis zur Spitze der Leybucht. Diese wird von der See noch beständig hart bedrängt. Nachdem dort 1373 der Leybusen eingebrochen, ist später nur wenig Land angesetzt, fast nur im Ley vor Norden. Aus dem vorigen ist dies leicht erklärlich. Nach dem Durchbruch der großen Insel hatte das Meer freien Zutritt zu der nordwestlichen Küste, die Osterems konnte sich hier ein neues weites Bett wühlen.

Auch an der Bildung des Jahdebusens haben Sturmfluten einen wesentlichen Anteil genommen, auch er hat durch die See periodisch bald Erweiterungen, bald Verschlammungen erfahren. Noch zu Anfang des XVI. Jahrhunderts war er viel kleiner, als jetzt, im X. Jahrhundert war das ganze Becken vielleicht eine moorig-sumpfige Gegend [palus Eddenriad*)] von dem Jahdefluss durchströmt. Der erste Einbruch erfolgte durch die Sturmflut des Jahres 1218, von da an sich beständig erweiternd, erfuhr der Busen die letzte bedeutendste Vergrößerung durch die Flut des Jahres 1511. Nach dem ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts erfolgte dagegen umgekehrt eine Verschlammung seiner Ufer. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung vielleicht 6 Quadrat-Meilen umfassend, hat er sich seitdem stetig durch Landanwachs namentlich im Süden und Osten verengert, und misst höchstens noch 3 ½ Quadrat-Meilen.

Wenn wir bedenken, dass, wie wir historisch nachgewiesen und theoretisch begründet haben, die bei weitem größte Zahl der Sturmfluten durch NW.-Orkane hervorgerufen wird, so wird es uns sofort erklärlich sein, dass gerade die südöstliche Küste der Nordsee am allerschwersten von diesen Katastrophen heimgesucht ist. Der über eine weite Fläche wehende NW.-Sturm treibt die von ihm erregten mächtigen Wellen immer höher und höher in die sich verengen de südöstliche Bucht vor den Mündungen der Weser und Elbe bis nach Jütland hinauf. Hierzu kommt noch eins. Die lange Inselreihe, welche vom Helder bis zur Jade sich erstreckt und die Küste gegen den ersten heftigsten Andrang der See schützt, endigt plötzlich bei Wangerooge. Das Land um die südöstliche Bucht der Nordsee gestattet dem Meere freien Zutritt, wir werden es daher natürlich finden, dass gerade dort ein Haupttummelplatz der Sturmfluten gewesen ist.

Aus allen diesen Gründen darf man – glaube ich – die oft aufgestellte Hypothese nicht ganz von der Hand weisen, dass sich die holländisch-ostfriesische Inselreihe ursprünglich weiter hinauf bis nach Schleswig, etwa in der Richtung Wangerooge-Sylt, fortgesetzt habe, dass aber diese Inseln den beständig sich wiederholenden Angriffen der See erlegen sind. Wenn wir alten Sagen und Überlieferungen glauben dürfen, sind hier vielleicht in vorhistorischer Zeit 100 Quadrat-Meilen Landes verloren gegangen. Die längs der Küste sich weithin in die See erstreckenden Watten, Schlammund Sandbänke sind die Überreste des alten zerstörten Landes. Helgoland hat vielleicht einst mit dem Festlande zusammengehangen, auf der andern Seite mit den schleswigschen Inseln verbunden, bildete es die Grenze des alten Nordfriesland. Die Elbe- und Wesermündungen erstreckten sich viel weiter in die See hinein, die Flüsse selbst hatten einen ganz andern Lauf vor ihrem Eintritt ins Meer. Vom physikalischen, wie vom historischen Standpunkte spricht vieles für diese Hypothese; – die sich seit Jahrhunderten ununterbrochen vollziehende Abnahme des festen Landes, sowie der schleswigschen Inseln machen sie sogar wahrscheinlich.

Das zwischen der Jahde und der Wesermündung liegende Budjadingerland hat nachweislich im XVI. und XVII. Jahrhundert bedeutend verloren. Die große Sandbank, welche, sich an die NW.-Küste anlehnend, weit in die See vorspringt, war früher festes Land, an der Nordspitze stand die im XI. Jahrhundert untergegangene Stadt Mellum *), ihre Stelle wurde noch im vorigen Jahrhundert durch eine bei Ebbe trockenlaufende Sandplate bezeichnet. Dieser Küstenstrich ist namentlich durch die Sturmfluten von 1613 und 1825 schwer geschädigt worden.

Helgoland erscheint auf alten Karten viel grösser, jetzt erhebt es sich nur noch als ein schwer zerstörbarer Felsen hoch aus dem Meere. Die Insel Nordstrand ist durch zahlreiche Sturmfluten, in der letzten Periode namentlich durch die Fluten von 1612, 1613, 1634, 1717, 1825, stetig kleiner geworden, ebenso sämtliche übrigen schleswigschen Inseln. Sylt zeigt schon in seiner Gestalt das Bild der Zerstörung, die Halligen sind kümmerliche Überreste einer oder mehrerer durch die Sturmfluten zerstörten größeren Inseln. Alle haben sich Traditionen nach einst weit westlich in die See erstreckt, manche noch in nicht allzu fern hinter uns liegender Zeit mit dem Festlande zusammengehangen.

Vom Kanal bis Wangeroog längs der ganzen Küste und auf den Inseln findet man fast überall Dünen, hier hören sie plötzlich auf, um in Jütland wieder zum Vorschein zu kommen. Im Gebiete der Mündungen der Weser und der Elbe findet man wider Erwarten das wenigste Marschland. Vielleicht erstreckte sich in ferner, vorhistorischer Zeit eine Insel- und Dünenreihe von Wangeroog weiter bis nach Hornsriff, vielleicht noch früher ist von der Ostspitze Jevers bis nach Sylt hinüber alles Festland gewesen. Durch Sturmfluten sind erst die Inseln zertrümmert, darauf ist das ungeschützte dahinter liegende Festland zerstört worden.*)

Über die an der ganzen westlichen, sowie an dem noch übrigen Teil der östlichen Nordseeküste vorgefallenen Veränderungen gehe ich kurz hinweg. Die Westküste von Jütland wird von den Sturmfluten weniger schwer getroffen. Durch hohes, sandiges Ufer und Dünen geschützt, hat sie in den letzten Jahrhunderten verhältnismäßig wenig Land eingebüßt, nur in den Fjords haben Uferabbrüche Statt gefunden. Bemerkenswert in dieser Beziehung ist der durch die Sturmflut von 1825 bewirkte Durchbruch des Limfjord, wodurch eine neue Verbindung der Nord- und Ostsee geschaffen wurde.

Auch die Küsten von England und Schottland haben weniger, als unsere südliche und südöstliche Küste, heftige Angriffe des Meeres erfahren, sie sind ebenfalls, wie ich zu Anfang der Abhandlung erwähnt, durch höheres und festeres Ufer geschützt, – und werden von den NW.-Orkanen nicht getroffen. Nur die südliche und südwestliche Küste Englands hat durch schwere SW.-Stürme vielfache Schädigungen erlitten. Diese beiden Küstengebiete sind in den Schriften, welche ich bei meiner Ausarbeitung benutzt habe, wenig oder gar nicht berücksichtigt worden; unter den in den Tabellen I, II, III. (S. 39 und 40) erwähnten 323 Fluten befinden sich nur 3 an der englischen Küste vorgekommene, bei ein paar andern wird nur nebenbei erwähnt, dass sie an der Südküste von England ebenfalls Überschwemmungen hervorgerufen haben.

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, welche gewaltigen Veränderungen durch die Sturmfluten in der Nordsee, namentlich an der holländisch-deutschen Küste bewirkt worden sind. Wenn wir einerseits fast ausschließlich dem Meere die weiten, fruchtbaren Marschstrecken verdanken, so sind ihm andererseits ganze Länderstriche, zahlreiche Dörfer und Städte, Tausende von Menschenleben zum Opfer gefallen.

*) Vgl. Arends, Nordseeküste I., 363.
*) Durch die Sturmflut von 1066. Dort stand das Castell Alt-Mellum. Vgl. Arends I., 377.

*) Wer sich mit den schweren Verwüstungen, welche die See an diesem südöstlichen Teil unserer Nordseeküste angerichtet hat, näher bekannt machen will, den verweise ich außer auf das öfter erwähnte Werk von Arends auf eine interessante Schrift: A. Graf Baudissin, Blicke in die Zukunft der nordfriesischen Inseln. 2. Ausg. Schleswig, 1876.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sturmfluten in der Nordsee *)