XII. Über die Mittel, welche man zur Abwehr gegen die Angriffe der See angewandt hat. Allmähliche Entwicklung des Deichbaues. Wichtigkeit der Inseln für die Erhaltung der Küste

Es sei mir zum Schluss noch gestattet, in kurzen Zügen die Mittel zu erwähnen, welche man seit den ältesten Zeiten zum Schutz gegen die Angriffe der See, vor allem gegen die Sturmfluten angewandt hat.

Zunächst suchten die Strandbewohner gegen den Andrang der Wogen Zuflucht auf Anhöhen, in Ostfriesland und Holland Warfen (Warpen) oder Terpen, im Weser- und Elbegebiet Wurthen genannt. – Von solchen Anhöhen berichtet uns schon Plinius, welcher von der Existenz der Küstenbewohner ein höchst klägliches Bild entwirft. Ich lasse hier die berühmte, oft zitierte Stelle im 1. Capitel des XVI. Buches seiner Historia naturalis folgen:
„Dort (d. h. im Norden, bei den Chauken), sagt er, steigt und fällt der Ozean zweimal binnen Tag und Nacht, ein weites, unermessliches Gebiet überströmend, sodass man bei diesem sich beständig wiederholenden Kampf der Natur in Zweifel kommen kann, ob das Gebiet ein Teil des Landes, oder des Meeres sei.


Hier hat das armselige Geschlecht hohe Hügel in Besitz genommen, oder Anhöhen mit seinen eigenen Händen aufgeworfen, um die höchsten Fluten abzuhalten. Indem sie auf denselben ihre Hütten errichtet haben, sind sie zur Zeit, wenn die Flut Alles um sie herum mit Wasser bedeckt, den Schiffenden ähnlich; zur Zeit der Ebbe dagegen gleichen sie Schiffbrüchigen und machen Jagd auf die Fische, welche mit dem zurückweichenden Wasser an ihren Hütten vorbeiziehen.“

Diese höchst interessante, wenn auch in einzelnen Teilen vielleicht etwas übertriebene Schilderung gibt uns gewissermaßen ein Urbild von dem ältesten Zustande unseres Küstengebietes. Sie wird teilweise durch die Gegenwart bestätigt.

Ähnliche Zustände, wie die von Plinius geschilderten, finden wir nämlich noch heutzutage auf einigen wenigen, weder durch ihre natürliche Lage, noch durch künstliche Deiche gegen die See geschützten Inseln. Auf Marken, Urk, Schokland, sowie auf den Halligen an der schleswigschen Küste hat noch jetzt jede Familie eine Warf inne. Auf dem höchsten Punkt derselben steht ihre Wohnung, diese ist selbst für die schwereren Winterfluten unerreichbar, wenn man etwa solche verheerenden, wie die von den Jahren 1717, 1825 ausnimmt. Jahrhunderte lang wohnen sie bereits dort, ruhig und zufrieden. Sie sind freilich beständigen Angriffen von Seiten der See ausgesetzt, welche ihnen gar oft empfindlichen Schaden an Hab und Gut, Leib und Leben bereitet, ja die kleinsten derselben, die Halligen, allmählich vollständig zu verschlingen droht.

Solche Anhöhen, wie die erwähnten, findet man nicht bloß auf den Inseln, sondern auch auf dem festen Lande überall längs unserer südlichen und östlichen Küste. Sie bilden kleine, sich etwa 6–10 Fuß über das umgebende Land erhebende Hügel. Die meisten derselben, ohne allen Zweifel die ausgedehnteren, verdanken der Natur allein d. h. dem Wasser und den Stürmen ihre Entstehung; nur sehr wenige sind von Menschenhand künstlich aufgeworfen oder bedeutend erhöht worden.

Auf ihnen bauten die Strandbewohner vor der Bedeichung des Landes Hütten für die Lebenden und Begräbnisplätze für die Toten. Bei einer Wanderung im Küstengebiet wird es jedem auffallen, dass alle alten Kirchhöfe auf solchen Warfen und zwar auf den höchsten Punkten derselben angelegt sind.

Die kleineren Warfen wurden meist nur von einem einzigen Haushalt in Besitz genommen, auf den größeren wohnten mehrere zusammen. Die meisten ausgedehnteren Gehöfte und Dörfer längs der Seeküste, ja sogar ganze Städte, z. B. Emden, Dokkum, Glückstadt, Tönningen u. a., liegen ganz oder wenigstens mit ihren ältesten Teilen auf natürlichen Terpen. Einzelne derselben bleiben selbst bei den höchsten Fluten in ihren Spitzen wasserfrei, so ein kleiner Teil von Emden,*) Tönningen und Büttel.

Wann man es zuerst unternommen hat, sich durch Aufwerfen von langen Dämmen oder Deichen gegen das Meer sicherer zu schützen, lässt sich wohl schwerlich jemals historisch feststellen. Der Deichbau hat sich ohne Zweifel ganz allmählich aus geringen Anfängen zu seiner jetzigen Ausbildung entwickelt. Sobald die Bewohner der Küstendistrikte nicht mehr bloß kümmerlich vom Fischfang lebten, sondern zugleich als Hirten und Ackerbauer sich zu ernähren suchten, – mussten sie ganz von selbst dazu kommen, ihr Vieh, ihre Saaten, ihre Wohnungen, überhaupt ihr Eigentum durch aufgeworfene Dämme, sowohl gegen die gewöhnlichen Angriffe der See, als auch vor allem gegen die Verwüstungen durch die Sturmfluten möglichst sicher zu stellen.

*) Die Deich- und Burgstraße in Emden.

Es wird uns daher nicht Wunder nehmen, dass, ebenso wie über den Ursprung so vieler dem Menschen durch die Not aufgezwungenen, sich von selbst ergebenden Einrichtungen und Entdeckungen, – so auch über die Zeit der ersten Bedeichung unserer Nordseemarschen die Ansichten der Schriftsteller sehr von einander abweichen. Manche lassen die ersten Deiche verhältnismäßig erst spät entstehen. So soll nach Kuss *) die Marsch in SchleswigHolstein im zehnten Jahrhundert durch Friesen bedeicht worden sein. De Luc setzt die Zeit der ersten Bedeichung noch bedeutend später. Nach seiner Ansicht sind die Marschen der Provinzen Groningen und Friesland erst 1570 auf Veranstaltung des spanischen Statthalters Casper Robles eingedeicht worden.

Harkenroht **) dagegen und viele andere schreiben die erste Eindeichung des gesamten Friesenlandes schon dem König Adgil zu, welcher um die Mitte des siebenten Jahrhunderts gelebt haben soll. vom Wicht glaubt, dass bereits die Normänner den Deichbau eingeführt haben. Ohne Zweifel ist der Deichbau, wenigstens in seinen ersten Anfängen, sehr alt. Das Wort Dike (Deik gesprochen) kommt schon in der angelsächsischen Sprache vor. War aber der Name, wie Arends ***) richtig meint, schon mindestens im fünften Jahrhundert nach Christus bekannt, so muss der Gegenstand selbst es doch auch gewesen sein.

Nach Tacitus Berichten †) führte Drusus im Jahre 9 vor Christus am Rhein Dämme auf. Die Römischen Schriftsteller, namentlich Plinius, erwähnen zwar die Deiche nicht ausdrücklich, indessen gedenken sie ebenso wenig der Dünen, die doch ohne Zweifel so alt sind, als die Nordseeküste selbst.

Es ist daher nicht unmöglich, dass man schon in dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, durch die zivilisierteren Römer veranlasst, mit dem Aufwerfen von Dämmen oder Deichen begonnen hat, vielleicht zuerst in den Niederlanden. Allmählich folgte man in anderen Gegenden diesem Beispiel. Auf solche Weise entwickelte sich der Deichbau allmählich aus kleinen Anfängen.

Die ersten Deiche werden selbstverständlich nur klein und schwach gewesen sein, wohl nicht grösser, als die allbekannten, sogenannten Sommer deiche, mit denen man zuweilen noch jetzt offenen Seeanwachs umgibt, um während des Sommers die dann weniger hohen Fluten von der Ernte abzuhalten, nur wenige Fuß hoch und von entsprechender geringer Breite. Mit den ersten Deichen wird man, wie noch jetzt, so auch in früheren Zeiten, nur diesen Zweck verfolgt haben. Bei den schwereren Fluten des Winters zog man sich mit Hab und Gut auf die Warfen zurück, indem man das sie umgebende Land der See preisgab.

Nach ziemlich zuverlässigen Angaben sollen noch im dreizehnten Jahrhundert zur Zeit des ersten Einbruchs des Dollart an der Ems die Deiche so niedrig gewesen sein, dass man darüber hinwegsehen konnte; sie können demnach nicht viel über 5 Fuß hoch gewesen sein. An der Zuidersee waren sie noch niedriger; dort gab es damals nur die vorhin erwähntem Sommerdeiche.

Erst später kam man nach und nach mit der zunehmenden Entwicklung des bürgerlichen und staatlichen Lebens dazu, die Deiche mit vereinten Kräften soweit zu erhöhen, dass sie auch gegen die verheerenden Winterfluten das teure Eigentum schützten. Vor allem spornte hierzu der Gewinn neuen Landes durch Einpolderung des ausgedehnten, durch die See bewirkten Landanwachses mächtig an, welcher, wie wir oben nachgewiesen haben, seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf fast allen Küstengebieten stetig Statt gefunden hat.

An mehreren Stellen haben verschiedene auf einander folgende Einpolderungen Statt gefunden; dort finden sich 2 oder 3 Deiche hinter einander, von denen die äußeren, neueren, der See zugekehrten, stets die älteren an Höhe und Stärke übertreffen. An anderen Stellen lässt sich die sehr scharf abgegrenzte Verschiedenheit des Bodens der konzentrisch auf einander folgenden Küstenstriche nur durch mehrere, auf einander gefolgte Bedeichungen erklären, von welchen auch meistens noch die Spuren vorhanden sind.

*) Vergl. Arends, Nordseeküste I. 152 ff.
**) Harkenroht, Oorspronkelykheden, S. 431, Nach einem andern Schriftsteller lehrte König Adgil die Friesen bloß, Anhöhen (Warfen, Terpen) aufwerfen, um darauf bei anstürmender See sich zu retten.
***) Vergl. Arends, Nordseeküste I. 153.
†) Tacitus, hist. V. 19.


Nach allen größeren Katastrophen, welche durch die Sturmfluten unserm Küstengebiet bereitet wurden, so namentlich nach den Fluten von 1717, 1776, 1825, sind die Deiche immer mehr verstärkt worden.

Ihre durchschnittliche Höhe wechselt jetzt zwischen 15 und 30 Fuß, ihre Stärke beträgt an ihrem Fuße etwa das Doppelte.

Nicht bloß ihre Erbauung hat den beteiligten Gemeinden oft unerschwingliche Kosten verursacht, sondern auch ihre Wiederherstellung nach der Zerstörung durch die Sturmfluten schwere Opfer gefordert, ja schon ihre Erhaltung unter gewöhnlichen Verhältnissen erheischt an manchen Stellen drückende Abgaben. Fast überall müssen sie alljährlich mit Stroh bestickt werden, an manchen Stellen in Holland, im Butjadingerlande und an der holsteinischen Küste kann man sie nur durch eine Steindossierung gegen die Angriffe der See schützen.

Der Deichbau mit seinen Deichverbänden, Deichachten etc. hat zu den ältesten politischen Einrichtungen des Küstengebiets Veranlassung gegeben; die Deichrechte mit ihren in alten Zeiten oft wahrhaft drakonischen Verordnungen und Strafen bilden einen Hauptteil der ältesten Justizpflege des alten Friesenlandes.

Wie einerseits die Sturmfluten, oft monatelang weite Strecken mit Wasser bedeckt lassend, verheerende Fieber und Seuchen hervorgerufen haben, – so ist andererseits mit dem durch sie veranlassten, fortschreitenden Deichbau und der verbesserten Entwässerung das Klima unserer niedrigen Nordseeküste gesunder geworden.

Gegenwärtig ist die ganze holländisch-deutsche Küste, soweit sie nicht an einzelnen Stellen durch sich selbst, d. h. durch Dünen oder hohe Sandrücken geschützt ist, von Deichen eingefasst. Dieselben haben nach Arends Schätzungen eine Gesamtlänge von 330 geographischen Meilen, und repräsentieren ein Anlage-Kapital von mindestens 200 Millionen Mark. Viele unserer Seedeiche sind jetzt zu einer solchen Schwere gediehen, dass, wenn man gezwungen wäre, sie auf einmal neu anzulegen, die Kosten der Herstellung derselben dem Wert des durch sie geschützten Landes gleichkommen, ja ihn an nicht wenigen Stellen noch übersteigen würden. *) Man nennt daher die Deiche mit Recht den „goldenen Reif“ der Küste.

*) Vergl. Arends I. 189. Derselbe schätzt z. B. die Herstellungskosten des Deichs der Niederemsischen Deichacht auf 2,3 Millionen Thaler, während das durch den Deich geschützte Land höchstens 1/2 Mill. wert sei.

Und sind wir denn jetzt hinter diesen schweren, kostbaren Deichen vollständig sicher gegen alle Angriffe der See? Mit dem Fortschritt des Deichbaus haben, wie schon oben bemerkt worden ist, auch die Überflutungen des Küstengebiets stetig abgenommen. Solche verheerende Katastrophen, wie die zu Anfang geschilderte vom Jahre 1717 oder selbst eine solche, wie die von 1825, werden wir daher schwerlich zu befürchten haben.

Ich glaube indessen, dass wir uns auch jetzt noch nicht einem unbedingten Sicherheitsgefühl hingeben dürfen, die Erfahrung mahnt zur Vorsicht. Auch zu Anfang des Jahrhunderts, als man nach den schweren Fluten von 1725, 56, 75, 77 etc. die Deiche immer mehr verstärkt hatte, glaubte man vor neuen größeren Überflutungen sicher zu sein. Die Sturmflut von 1825 bewies das Gegenteil. Diese Flut, die schwerste der 3 letzten Jahrhunderte, hat trotz der bedeutend vervollkommneten Deiche fast die ganze südliche Küste von neuem überschwemmt und ungeheure Verwüstungen angerichtet. Solche schweren Fluten kehren, wie die Geschichte uns belehrt, von Zeit zu Zeit, wenn auch selten wieder. Kleinere Überströmungen haben auch noch in unserem Jahrhundert Statt gefunden. So ist Emden von 1801 bis 1847 nicht weniger als 19 Male teilweise unter Wasser gesetzt. Seit dem 1848 vollendeten Bau der Nesserlander Schleuse ist zwar die Stadt von Überströmungen verschont geblieben, indessen wird mir von zuverlässiger Seite versichert, dass unsere Deiche im Dezember 1863 schwer gelitten haben, ja dass sie vielleicht durchbrochen wären, wenn der damalige NW.-Sturm sie noch länger bedrängt hätte.

Die gegenwärtigen Deiche können an verschiedenen Stellen aus technischen Gründen nur schwer noch weiter verstärkt werden.

Den besten Deichschutz, besser wie die schwerste Steindossierung, gewährt erfahrungsmäßig ein recht großes Vorland, d. h. Watten und Inseln, an welchen sich die Kraft der sturmerregten Wogen allmählich bricht.

Wollen wir daher ähnlichen oder noch schlimmeren Katastrophen, wie der von 1825, vorbeugen, so haben wir unser Hauptaugenmerk auf die Erhaltung unserer Inseln zu richten. Sie sind es ja, welche, wie wir oben nachgewiesen haben, den ersten heftigsten Andrang der Wellen aushalten müssen. Wären sie erst zerstört, so würde unserem südlichen Gebiete wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal bereitet werden, wie dem untergegangenen Nordfriesland. Es kann daher nicht genug anerkannt werden, dass die jetzige Regierung mehr Kosten auf die Erhaltung der bedrohtesten Punkte verwendet; es kann in dieser Beziehung nicht zu viel geschehen; unsere Pflicht ist es, die Fürsorge der Regierung auch unserer Seits nach Kräften zu unterstützen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sturmfluten in der Nordsee *)