VIII. Übereinstimmung der im vorigen Abschnitt zusammengestellten historischen Überlieferungen mit den heutigen Theorien der Meteorologie.

Sehen wir nun, in wie weit die in den vorstehenden Zusammenstellungen aufgeführten geschichtlichen Überlieferungen mit den heutigen Theorien und Erfahrungen der Meteorologie übereinstimmen.

Die in unserer gemäßigten Zone sehr verwickelten Erscheinungen der atmosphärischen Gleichgewichtsstörungen hat zuerst Dove aus einem festen wissenschaftlichen Gesichtspunkt zusammengefasst in seinem berühmten „Gesetz der Stürme“.


Vor ihm hatte man die zwar großartigeren, aber weniger komplizierten Erscheinungen der tropischen Zone, richtig als „Wirbelstürme“ aufgefasst, – man glaubte nun, die über Nordeuropa herrschenden Stürme ebenfalls als heftige Wirbelwinde erklären zu können. Die bekannte Drehung der Wetterfahne von S. nach W.–N.–O. u. s. w., also in dem Sinne der Drehung der Uhrzeiger, galt als unwiderleglicher Beweis für diese Ansicht. Wenn man nun auch nicht gänzlich in Abrede stellen kann, dass vielleicht einzelne der größeren Wirbelstürme der Tropen selbst bis in unsere Gegenden wirken können, sowie dass einzelne lokale Gleichgewichtsstörungen mit den Wirbelstürmen der Tropen Ähnlichkeit haben, – so gebührt doch Dove das Verdienst, nachgewiesen zu haben, dass die Stürme unserer Gegenden wesentlich als Folgen der beiden Passate, des warmen Südwest- und des kalten Nordoststroms zu betrachten sind. Nach dieser von Dove aufgestellten und begründeten Theorie sind auch bei uns die großen Störungen des atmosphärischen Gleichgewichts, welche wir mit dem Namen „Stürme“ bezeichnen, nicht durch lokale Ursachen hervorgerufen – sondern sind zurückzuführen auf die große Verschiedenheit der Erwärmung der Luft unter dem Äquator einerseits und in den Polargegenden andererseits, in Folge deren ein Strom heißer Luft oben vom Äquator nach den Polen abfließt, unten dagegen ein Strom kalter Luft in umgekehrter Richtung von den Polen nach dem Äquator als Ersatz zurückkehrt. Beide Ströme werden durch die Umdrehung der Erde modifiziert. – Während nämlich die Rotationsgeschwindigkeit eines Punktes des Äquators fast 1.500 Fuß pro Sekunde beträgt, nimmt dieselbe nach den Polen hin und zwar am raschesten in den höheren Breiten ab, am Pol selbst ist sie null, – der Äquatorialstrom trifft hiernach auf seinem Wege stetig auf Luftmassen von geringerer Rotationsgeschwindigkeit, er wird ihnen daher nach O. hin voraneilen, somit nach einfachen mechanischen Gesetzen aus S. allmählich immer mehr in SW-liche Richtung übergehen; – aus denselben Gründen wird für uns aus dem polaren Nordwind nach und nach ein Nordost.

Ursprünglich liegt der warme Südstrom der Luft über dem polaren, senkt sich allmählich, bis beide in dasselbe Bett geraten und um die Herrschaft ringen. Dies geschieht im Winter, Frühling und Herbst gewöhnlich schon in der Breite von Nordafrika oder über dem Mittelmeer, im Sommer dagegen wird der äquatoriale Strom, da die Sonne jetzt nördliche Deklination hat, sich erst später abkühlen und senken, etwa in Mitteleuropa, ja in einzelnen Fällen liegt derselbe noch in unseren Breiten über dem Polarstrom. Meistens indessen ist der Kampf schon entschieden, wenn die Strömungen in die Breite der Nordseeküste gelangen, sie wehen dann neben einander.

Hierbei darf man eins nicht vergessen. Der äquatoriale Strom führt bedeutend größere erwärmte Luftmassen als Truppen ins Feld, welche durch das immer raschere Zusammenrücken der Meridiane nach Norden sich immer enger zusammendrängen, dadurch muss er an Kraft gewinnen, sowie durch die jetzt viel rascher abnehmende Erdrotation um so eher in einen energischen Westwind übergehen. Liegt daher der äquatoriale Strom westlich von seinem Gegner, so wird er denselben in westlicher Richtung energisch angreifen, und das Feld behaupten. Liegt dagegen derselbe östlich von dem polaren, so steht der westlichen Entwickelung des ersteren nichts im Wege, im Gegenteil, beide Ströme werden im Grenzgebiete einen luftverdünnten Raum erzeugen, welchen der polare Strom als der schwerere auszugleichen sucht, daher er mehr oder weniger rasch in einen NW. überspringt. Dieser Fall ist der gefährlichste für unsere Küsten: der starke SW. (äquatorialen Ursprungs) geht plötzlich in einen heftigen (polaren) NW. über; dadurch werden die Wogen des atlantischen Ozeans erst von dem SW. durch den Kanal in die Nordsee gepresst, und durch den nun rasch folgenden NW. die Wassermassen durch die weite nördliche Öffnung gedrängt, und mit großer Gewalt gegen unsere Küsten getrieben. *)

So ist es uns daher auch theoretisch erklärlich, warum, wie die Geschichte der Sturmfluten bestätigt, die verheerendsten dieser Katastrophen Statt gefunden haben, in dem auf einen heftigen SW.-Wind plötzlich ein eben so heftiger NW. folgte.

Reine heftige Nordwinde werden an unserer Küste viel seltener sein, weil sie meist einem viel späteren Stadium des Kampfes der beiden dann bereits ermüdeten Gegner angehören. Dasselbe gilt für südliche und östliche Winde, welche noch dazu ganz ungefährlich, ja als Retter willkommen sind, weil sie die Wassermassen von der Küste forttreiben. Es ist mir bei dem zum Teil mühsamen Nachsuchen in alten unsicheren Chroniken eine nicht geringe Belohnung gewesen, die Theorie mit der Erfahrung in solch' auffallender Übereinstimmung zu finden, wie es die auf Seite 40 vorgeführte Tabelle III. zeigt.

Auf diese Weise sind die großen Stürme, welche, wie vorhin angegeben, durchschnittlich 50 mal in jedem Jahrhundert unseren Küsten gefährliche Überschwemmungen bereitet haben, zurückgeführt auf die durch die ungleiche Erwärmung hervorgerufenen großartigen Gleichgewichtsstörungen und Bewegungen unserer Atmosphäre. Damit soll indessen – ich wiederhole dies nochmals – keineswegs behauptet werden, dass nicht vielleicht bei einzelnen Sturmfluten zufällige, örtliche Störungen mitgewirkt haben, es ist nur meine Ansicht, dass die Hauptursache in den angeführten terrestrischen Störungen zu suchen sei.

Man muss nicht vergessen, dass die als Sturmfluten bezeichneten Katastrophen nur durch die heftigsten Winde, die Orkane, bewirkt werden können. Dass diese Behauptung richtig ist, ergibt sich schlagend aus einer Vergleichung der von Prestel (nach 29jährigen von ihm in Emden angestellten Beobachtungen) angegebenen Zusammenstellung der Orkane nach Monaten *) mit der auf Seite 39 aufgestellten Tabelle Il. Nach Prestel fallen von sämtlichen in dieser Periode vorgekommenen Orkanen in den

Januar 8 | Februar 8 | März 4 | April 2 | Mai 3 | Juni 0 |
Juli 1| August 0 | September 0 | Oktober 4 | November 3 | Dezember 6 |

Nach Tabelle II. ist die Zahl der auf jeden Monat fallenden Sturmfluten:

Januar 41 | Februar 17 | März 21 | April 8 | Mai 5 | Juni 3 |
Juli 4| August 6 | September 14 | Oktober 27 | November 53 | Dezember 34 |

*) Prestel, Veränderungen des Barometerstandes etc. S. 102, Tab. 8 (Emden 1866. Verl. des Verf.)

Die Übereinstimmung der beiden Tabellen ist, obwohl die erstere nur den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von 29 Jahren umfasst, eine sehr auffallende. Betrachten wir zum Beispiel das Verhältnis der in den Wintermonaten (Okt., Nov., Dez., Jan., Febr., März) vorgekommenen Zahl von Orkanen und Sturmfluten zu den in den 6 Sommermonaten angeführten, so ist das Verhältnis der Orkane 33 : 6 oder 5 ½ : 1, das Verhältnis der geschichtlich zuverlässigen Sturmfluten 193 : 40 oder fast 5 : 1. Hiernach ist sowohl die Zahl der in den Wintermonaten vorgekommenen Orkane, als auch die der Sturmfluten ungefähr 5 mal so groß, als die Zahl dieser Erscheinungen in den Sommermonaten.

Höchst interessant ist es mit der vorstehenden sich auf das ganze Küstengebiet beziehenden Verteilung der Sturmfluten nach Monaten, die Beobachtungen zu vergleichen, welche Lentz in seiner von uns mehrfach erwähnten Schrift*) in Bezug auf Hamburg und Cuxhaven veröffentlicht hat. Danach verteilen sich die in der 25jährigen Periode von 1843–1867 beobachteten Sturmfluten auf die einzelnen Monate in folgender Weise:

                                In Cuxhaven

Januar 42 | Februar 35 | März 15 | April 5 | Mai 1 | Juni 1 |
Juli 1| August 10 | September 7 | Oktober 28 | November 24 | Dezember 51 |

                                 In Hamburg

Januar 34 | Februar 48 | März 21 | April 11 | Mai 3 | Juni 3 |
Juli 2| August 9 | September 2 | Oktober 15 | November 15 | Dezember 36 |

Hiernach kommen für Cuxhaven auf die 6 Wintermonate ungefähr 7 4/57
, für Hamburg etwa 5 2/3 mal so viel Sturmfluten, als auf die 6 Sommermonate.

*) Lentz, Flut und Ebbe des Meeres, Seite 77.

Lentz erklärt die verschiedene Verteilung der Zahl der Sturmfluten in Hamburg und Cuxhaven auf die einzelnen Monate durch folgende Ursachen: Im Januar und Dezember vermindert häufiger Eisstand die Zahl der hohen Fluten in Hamburg; von August bis November bewirkt der niedrige Oberwassserstand dasselbe. Von Februar bis Mai vermehrt dagegen der hohe Oberwasserstand die Sturmfluten in Hamburg, im Juni und Juli ebenfalls, da in diesen Monaten der Oberwasserstand bisweilen den mittleren bedeutend überschreitet.

Dass die vorstehende Tabelle für Hamburg und Cuxhaven von der von uns für die ganze Küste gegebenen im einzelnen nicht unerheblich abweicht, erklärt sich dadurch, dass in den Hamburg-Cuxhavener Angaben auch solche Fluten mitgerechnet sind, welche noch nicht 10 über den mittleren Wasserstand sich erheben, während in unserer Tabelle nur diejenigen gerechnet werden, welche gemäß der von uns zu Anfang gegebenen Erklärung weite Küstengebiete überschwemmt haben. Letzteres ist aber nur bei einem beträchtlich höheren Wasserstande der Flut möglich.

Bei allem dem ist aber doch die Übereinstimmung beider Tabellen im Großen und Ganzen eine überraschende.

Minder heftige Winde – stürmische Winde und einfache Stürme – kommen bei uns auch im Sommer häufig vor. So verhält sich nach Prestel die Zahl der im Winter beobachteten stürmischen Winde zu der Zahl der im Sommer vorgekommenen wie 390: 229, die der Stürme wie 111: 54. Beide Verhältnisse sind ungefähr 2 : 1, d. h. auf den Winter fällt etwa die doppelte Anzahl. Dieses Verhältnis weicht von dem der Sturmfluten wesentlich ab. Die einfachen weniger heftigen Stürme werden daher selten im Stande gewesen sein, Sturmfluten (in dem von uns gemeinten Sinne) hervorzurufen.

In den Sommermonaten ist der Kampf der beiden Gegner weit weniger heftig, weil die Temperaturdifferenz zwischen ihnen eine weit geringere ist. Der polare Strom hat in Folge seines längeren Wehens über die dann weiterhin nördlich erwärmten Länder bereits viel von seinem eisigen Charakter verloren, ehe er mit seinem Gegner zusammentrifft.

Viel ernster ist der Kampf der beiden Gegner in den Wintermonaten. Der äquatoriale Strom, dessen erzeugender Herd um diese Zeit auf der südlichen Halbkugel liegt, findet dann in dem Polarstrom einen kräftigen, ebenbürtigeren Gegner, beide bekämpfen sich mit mehr gleichen Mitteln, die heftigsten Kämpfe äußern sich als Orkane, welche ihrerseits die als Sturmfluten bezeichneten Katastrophen herbeiführen.

Ungewöhnlich heftige Stürme oder Orkane sind weiter nichts, als ungewöhnliche Gleichgewichtsstörungen des Luftmeers. Über sie muss daher das Barometer uns unmittelbare, sichere Auskunft geben durch ebenfalls ungewöhnliche Schwankungen seines Standes.

Die an unserer Nordseeküste gemachten Beobachtungen zeigen, dass die extremsten Barometerschwankungen gerade in unseren Wintermonaten vorkommen.

Nach den von Prestel während des angegebenen 29jährigen Zeitraums (1836–64) dreimal täglich in Emden angestellten Messungen beträgt der Unterschied zwischen dem absoluten Maximum und Minimum der vorgekommenen Barometerstände in den einzelnen Monaten:
Januar 24,82 Pariser Linien
Februar 26,18 Pariser Linien
März 26,77 Pariser Linien
April 20,52 Pariser Linien
Mai 13,86 Pariser Linien
Juni 12,91 Pariser Linien
Juli 13,30 Pariser Linien
August 16,26 Pariser Linien
September 21,95 Pariser Linien
Oktober 20.66 Pariser Linien
November 24.77 Pariser Linien
Dezember 25.62 Pariser Linien

Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich, dass die größten Maxima und kleinsten Minima, d. h. die extremsten Schwankungen in die Wintermonate fallen. Ebenso deutlich zeigen dies die während dieser Periode vorgekommenen Unterschiede zwischen den durchschnittlichen (mittleren) Maximis und Minimis der einzelnen Monate. Diese betragen*):

Januar 15,72 Pariser Linien
Februar 13,94 Pariser Linien
März 13,84 Pariser Linien
April 11,49 Pariser Linien
Mai 9,41 Pariser Linien
Juni 8,21 Pariser Linien
Juli 8,13 Pariser Linien
August 8,82 Pariser Linien
September 11,08 Pariser Linien
Oktober 13,28 Pariser Linien
November 14,91 Pariser Linien
Dezember 15,24 Pariser Linien

Auch diese Tabelle zeigt, dass die größten durchschnittlichen Extreme in die Wintermonate fallen.

Dasselbe ergibt sich aus den von Prestel *) neuerdings veröffentlichten Beobachtungen für die 10jährige Periode 1864–73, danach beträgt der Unterschied:

Der absoluten Extreme:
für Januar 28,06 Pariser Linien 16,98 Pariser Linien
für Februar 23,78 Pariser Linien 15,53 Pariser Linien
für März 25,51 Pariser Linien 14,21 Pariser Linien
für April 18,07 Pariser Linien 11,68 Pariser Linien
für Mai 17,56 Pariser Linien 11,54 Pariser Linien
für Juni 13,71 Pariser Linien 9,21 Pariser Linien
für Juli 14,73 Pariser Linien 9,02 Pariser Linien
für August 15,88 Pariser Linien 9,57 Pariser Linien
für September 17,51 Pariser Linien 11,66 Pariser Linien
für Oktober 20,12 Pariser Linien 14,32 Pariser Linien
für November 19,95 Pariser Linien 15,71 Pariser Linien
für Dezember 23,82 Pariser Linien 15.37 Pariser Linien

*) Prestel, Veränderungen des Barometerstandes etc. S. 81.
*) Prestel, Ergebn. der Witterungsbeob. von 1864–1873. S. 39. Tab. b.


In den Zusammenstellungen beider Perioden zeigt sich deutlich, dass die bedeutendsten Schwankungen des Luftdrucks in Emden – und ähnliches ergibt sich für die ganze Nordseeküste – in den Monaten Oktober, November, Dezember, Januar, Februar, März liegen. Diese müssen notwendig heftige Stürme oder Orkane im Gefolge haben.

So ist denn auch unsere Tabelle II. (S. 11) mit der Theorie in einem vollständigen Einklang; dies zeugt zugleich für die Glaubwürdigkeit der von uns benutzten historischen Quellen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sturmfluten in der Nordsee *)