II. Die fünf schwersten Sturmfluten der Nordseeküste. Beschreibung einer derselben, der Weihnachtsflut des Jahres 1717

Die 5 schwersten, historisch zuverlässigen Sturmfluten sind die von 1170, 1277, 1570, 1717, 1825. Von letzterer hat ein Zeitgenosse derselben, Fr. Arends, *) unser um die Geschichte der Sturmfluten sowie um die Kenntnis der physischen Beschaffenheit der Nordseeküste so hochverdiente Emder Mitbürger, dessen Schriften in der nachfolgenden Darstellung der Sturmfluten vieles entnommen ist, eine ins einzelnste gehende Beschreibung gegeben. Danach sind durch die Flut von 1825, vielleicht die höchste von allen, welche die Nordseeküste betroffen, 789 Menschen ums Leben gekommen, über 45.000 Stück Vieh ertrunken, 2.400 Gebäude zerstört, 8.700 beschädigt. Er schätzt den Gesamtschaden, welchen damals die Küste von Belgien bis Jütland erlitten, auf 16 Millionen Thaler.**)

*) Fridrich Arends, Gemälde der Sturmfluten vom 3./5. Februar 1825. (Da dieses Werk vielen leichter zu Gebote steht, habe ich als Beispiel einer Sturmflut die von 1717 beschrieben.)
**) Das Inundationsgebiet der Sturmflut von 1825 ist auf der hinten beigegebenen Karte I. dargestellt.


In der Sturmflut von 1717 sind nach speziellen Listen etwa 11.000 Menschen umgekommen; 1570 sollen sogar 41.000 umgekommen sein. Wenn diese letztere Zahl, sowie die bei manchen andern Sturmfluten angegebenen, auch offenbar übertrieben sind, so war der Verlust an Menschenleben in früheren Jahrhunderten doch darum viel grösser, weil der Deichbau noch nicht so vervollkommnet war, wie in unserem Jahrhundert.

Um dem Leser, welchem die Werke von Arends oder ähnliche nicht zur Verfügung stehen, ein Bild zu geben von den furchtbaren Verheerungen, welche die Sturmfluten an unserer Küste angerichtet haben, erlaube ich mir, demselben eine kurze Schilderung der Flut von 1717 vorzuführen.*) Dieselbe ist in vielen Spezialschriften beschrieben, sehr ausführlich von Outhoff, welcher um diese Zeit Prediger in Emden war, sie also als Augenzeuge miterlebte. Seinem Werke über die Wasserfluten, *) sowie der Geschichte der Sturmfluten von Arends**) ist die nachfolgende Darstellung entnommen.

*) Fridrich Arends, Gemälde der Sturmfluten vom 3./5. Februar 1825. (Da dieses Werk vielen leichter zu Gebote steht, habe ich als Beispiel einer Sturmflut die von 1717 beschrieben.)
*) Gerhardus Outhof's: Verhaal van alle hoogen Watervloeden etc. Emden 1720.
**) Arends, Physische Geschichte der Nordseeküste und deren Veränderungen durch Sturmfluten. II. Bd., S. 192–244.


Nachdem es mehrere Tage vor Weihnachten (1717) stark und anhaltend aus dem SW. geweht hatte, und dadurch viel Wasser durch den Kanal in die Nordsee getrieben war, wandte sich am heiligen Abend der Wind westlich, wurde mit Sonnenuntergang NW., ließ aber dann allmählich nach. Niemand ahnte daher in Emden die drohende Gefahr, um so weniger, als der Mond im letzten Viertel stand und die nächste Flutzeit (der Gezeiten) erst gegen 7 Uhr des nächsten Morgens eintreten musste. Alles – namentlich die Bewohner der von gewöhnlichen Fluten weniger bedrohten Stadtteile – legte sich ganz unbesorgt zu Bette. Da erhob sich unerwartet Nachts zwischen 1 und 2 Uhr der Sturm wieder mit unerhörter Wut aus dem NW. Die See schwoll rasch zu solcher Höhe an, dass schon kurz nach 2 Uhr das Wasser durch die ganze Stadt strömte. Die Fluten sollen an einzelnen Stellen mehrere Fuß über die Deiche hinweggegangen sein. Letztere vermochten dem Andrang der Wogen nicht zu widerstehen und brachen an vielen Stellen. Mit reißender Schnelligkeit ergoss sich das wildtobende Wasser in die weiten, offenen Ebenen, sodass in kurzer Zeit Alles rings umher einer aufgeregten See glich. Aus dem ersten tiefen Schlaf wurden die sorglosen Bewohner mitten in der finsteren Nacht aufgeweckt durch das Heulen des rasenden Sturmes, das Rollen des Donners, das Getöse der einbrechenden Wogen. Noch schlaftrunken erheben sie sich, um nach der Ursache des Unerhörten zu forschen. Kein Stern leuchtet ihnen, einzelne Blitze nur durchzucken den finstern Himmel. Doch nur zu bald wird ihnen das Unglück klar, aus dem warmen Bett sich erhebend steigen sie in das kalte Wasser. Von dem immer höher steigenden Wasser überrascht, müssen Viele, halb oder fast ganz nackend, auf Böden und Balken, wohin sie sich gerettet, die Nacht zubringen, zähneklappernd vor Kälte, kämpfend gegen Tod, Hunger und Durst. Und als endlich die Nacht des Schreckens vorüber war und das heißersehnte Tageslicht anbrach, brachte dieses keinen Trost, sondern zeigte nur das Unglück in seiner ganzen Größe. – Nicht wie sonst fiel das Wasser um die Ebbezeit, sondern der volle 3 Tage unausgesetzt wütende Orkan trieb immer neue Wogen gegen die Küste; – so lange blieb die See überall stehen. Halbe Häuser, Dächer, Sparren, Bretter, Schränke, Betten, auf denselben Menschen und Menschenleichen, Vieh, Heu, Stroh, Kornhaufen, Alles schwamm im buntesten Gemisch durch die Straßen. Hier hatten Menschen die Dächer der Häuser, dort aus dem Wasser vorragende Balken oder Bäume erklettert, manche im bloßen Hemde. Schaudernd vor Kälte mussten sie ohne Nahrung nicht stunden-, nein tagelang ausharren. Mattigkeit und Kälte schwächte endlich die erstarrten Glieder, bis sie in die Tiefe sanken. Ihr Hilfegeschrei war verhallt unter dem donnerartigen Brausen des Sturms und der Wogen. – Das Schicksal derer, welche sich auf die Böden gerettet hatten, war wenig besser. Ohne Feuer, ohne Lebensmittel, oder mit dem Wenigen, was ihnen mitleidige Nachbarn auf Stangen durch die Dachluken zugereicht, mussten sie ausharren in den kalten Winternächten, ohne Trinkwasser mitten im Wasser quälenden Durst leiden. Diese Sturmflut erstreckte sich längs der ganzen südlichen und östlichen Nordseeküste. Am schwersten wurden Groningen, Ostfriesland, Jever und Oldenburg mitgenommen. Auf einer Strecke von etwa 20 Meilen Länge wurden mindestens 75 Quadrat/Meilen überströmt, an manchen Stellen 5, 6, 8, 10, ja 14 Fuß über die gewöhnlichen Fluten. Im Amt Emden stieg sie noch 2 Zoll höher, als um Allerheiligen 1570, wie aus dem Merkzeichen am Turm zu Suderhusen zu ersehen ist.

Schwer litt die Stadt Emden. Mit Ausnahme der Deichstraße, des höchsten Punktes der Stadt, welcher vor Jahrhunderten ein Deich gewesen sein soll, war die ganze Stadt überströmt, in den meisten Häusern hatte das Wasser 3–4 Fuß hoch gestanden, in manchen noch höher. Tiefe Löcher waren in die Straßen gerissen. In dem schwer getroffenen Amt Esens allein ertranken 842 Menschen, in den an einander grenzenden Orten Dornumer- und Westeraccumersiehl blieb von den meisten Häusern keine Spur, fast alle Einwohner waren umgekommen. Ein Haus in Wirdum trieb mit 5 Menschen ganz nach dem Moor hinter Ochterbur, wo es in Trümmer ging. Solcher Unglücksfälle finden wir in den Spezialberichten hunderte.

Schrecklich war der Anblick des Landes nach dem Abzug des Wassers. Fast überall fand man auf den Feldern Leichen. Hier sah man Mütter, welche noch im Tode das Kind umklammert hielten, dort vor Kälte erstarrte Menschen in den Bäumen hängen, andere in verschlammten Gräben stecken. Hier lagen die Leichen einzeln, dort in Gruppen, unweit Dornum waren bei einem Steg sogar 30 angetrieben. Überall sah man auf dem platten Lande Trümmer von Häusern, Brücken, Stroh, Heu, Torf, Haus- und Ackergerät, vermischt mit Viehkadavern. Noch im Sommer darauf fand man Leichen beim Aufräumen der angeschwemmten Heu- und Strohhaufen im Schlamm oder in Gräben. Fast keine Familie gab es in dem angegebenen Küstengebiete, welche nicht das Leben eines oder mehrerer Angehörigen betrauerte.

Hierzu kam noch für die Überlebenden vielfach Not an Lebensmitteln und Nahrung für Menschen und Vieh, sowie der Mangel an Feuerung und Trinkwasser, und außerdem die Sorge und Angst vor neuen Fluten. Denn die Deiche waren fast alle zerrissen. Durch viele in ihnen entstandene Grundbrüche drang täglich das Wasser wieder ein, niedrige Gegenden blieben monatelang ein See. Große Kolke waren an vielen Stellen entstanden.

Jahre lang dauerte es, ehe die Deiche vollständig wieder geschlossen werden konnten. Neue Fluten, namentlich während der ersten Jahre, zerstörten das mühsam Wiederhergerichtete, überschwemmten von Neuem das Küstengebiet, so 10 mal im Jahre 1718, 3 mal 1719, 5 mal 1720, wo besonders die Flut vom 31. Dezember schwere Verheerungen anrichtete. Erst im Jahre 1725 wurden im Emdener Amt die Hauptdeiche vollendet. Fast 1 Million Thaler sollen für die ostfriesische Küste allein auf den Deichbau verwandt sein, ungerechnet die von den Bewohnern selbst unentgeltlich geleistete Arbeit.

Die von Arends zusammengestellten speziellen Listen ergeben, dass 10.828 Menschen, über 90.000 Stück Vieh ihren Tod in den Wellen fanden, 4.915 Häuser wurden ganz weggespült, 3.375 beschädigt.

Die Weihnachtsflut des Jahres 1717 gehört, wie schon angegeben, zu den schwersten, welche seit historischen Zeiten uns überliefert sind. Wenn indessen die meisten der Sturmfluten auch nicht einen gleich hohen Wasserstand erreichten, so wirkten doch viele der in früheren Jahrhunderten vorgekommenen verheerend und verwüstend auf dem ganzen Küstengebiet, da dieses früher durch bei weitem schlechtere Deiche weniger gegen die Gewalt der erregten Wogen geschützt war.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sturmfluten in der Nordsee *)