III. Die Nordsee, ihre Küste und ihre verhältnismäßig nur geringe Tiefe *)

*) Vergleiche hierzu die beigegebene Karte II. Auf derselben sind die Tiefen der Nordsee, sowie des benachbarten Ozeans an verschiedenen Stellen durch Zahlen in rheinl. Fuss angegeben.

Betrachten wir zunächst den Schauplatz dieser ebenso großartigen wie furchtbaren Naturereignisse. Die Nordsee bildet ein längliches Viereck. Ihre größte Länge von Calais bis zu den Shetlands-Inseln beträgt 150 geographische Meilen, während ihre größte Breite zwischen Edinburgh und Ringkjöbing nur 96 Meilen ausmacht. Nach Stevensons Berechnungen nimmt sie einen Flächenraum von 7.160 Quadratmeilen ein, sie ist demnach etwas kleiner, als die Ostsee und das kaspische Meer.


Die Ufer der Nordsee sind sehr verschiedenartig. Die norwegische Küste wird von hohen Granitfelsen gebildet, die Shetlands- und Orkney-Inseln sind durch starre Sandsteinfelsen geschützt, an der Küste von England wechseln Sandstein, Granit und Kalkstein, welche sich bis auf wenige Distrikte im südlichen England alle ziemlich hoch, durchschnittlich wohl über 100 Fuß aus dem Wasser erheben.

Ganz verschieden von den bisher genannten ist dagegen die Küste von Calais, längs Belgien, Holland, Deutschland bis zur jütischen Halbinsel hinauf. Von Calais bis Sylt besteht das Ufer mit ganz geringen Ausnahmen aus Marsch- und Sandstrecken. An sehr vielen Stellen ist dort die Küste so niedrig, dass sie ohne die schützenden, von Menschenhand mühsam errichteten und erhaltenen Deiche schon bei gewöhnlichen Fluten überschwemmt würde. Dies zeigte sich stets bei größeren Deichbrüchen, wo oft das dahinterliegende Land meilenweit durch die Gezeiten vom Seewasser
bedeckt wurde.

Die Tiefe der Nordsee ist, verglichen mit der des benachbarten Ozeans, nur eine geringe, durchschnittlich etwa 150’, während der atlantische Ozean 10–20 Meilen westlich von England und Schottland rasch eine Tiefe von mehreren Tausend Fuß erreicht. Fast ein Sechstel des ganzen Areals der Nordsee ist von Sandbänken eingenommen, welche durchschnittlich nur 85 unter dem Meeresspiegel liegen. Am höchsten erhebt sich der Boden, abgesehen von den Sandbänken, die unmittelbar an der Küste liegen, in der großen Doggerbank, an einzelnen Stellen bis zu 60’ unter dem mittleren Wasserstande.

Nur das etwa 10 Meilen breite sogenannte skandinavische Meer, welches sich längs der Küste Norwegens bis ins Skager Rack erstreckt, ist 600–1800’ tief; eine zweite geringere Vertiefung des Beckens (500–550’) findet sich südlich von den Shetlands-Inseln. Diese Tiefenverhältnisse sind in vorzüglicher Klarheit veranschaulicht auf der Karte Nr. 45 der neuen Ausgabe des Stieler'schen Handatlas. Bei Betrachtung dieser Karte erscheint uns die Nordsee als ein großer, seichter Busen des atlantischen resp. polaren Weltmeeres. Es wäre eine verhältnismäßig nur geringe Erhebung ihres Bodens erforderlich, um England mit dem Festlande zu vereinigen.

Während die ganze Nordseite unseres deutschen Meeres – die Shetlands- und Orkney-Inseln abgerechnet – dem Ozean offenen Zutritt gestattet, hängt es im Süden nur durch die schmale Wasserstraße des französisch-englischen Kanals mit dem Weltmeere zusammen. Auf beiden Wegen nimmt die Nordsee an allen großen Bewegungen der Ozeane Teil. Diese müssen zwar in ihrem seichten Bett einen besonderen lokalen Charakter annehmen; indessen können wir sie nicht vollständig verstehen, wenn wir uns nicht zugleich die allgemeinen Gleichgewichtsstörungen des Weltmeeres klar vorführen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sturmfluten in der Nordsee *)