Die Soziale Gliederung der Bayern zur Zeit des Volksrechtes.

Abhandlung vorgelegt der hohen rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Kaiser Wilhelms-Universität zu Straßburg zur Erlangung der Doktorwürde
Autor: Gutmann, Franz (1879-1967) US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler deutscher Herkunft., Erscheinungsjahr: 1906
Themenbereiche
Inhaltsverzeichnis
    Vorwort.
    Erstes Kapitel. Die rechtsständische Gliederung des Volkes.
  1. Der Adel.
  2. Der Vollfreie.
  3. Die umfassendere Bedeutung des liber-Begriffes. — Der Minderfreie.
  4. Der Unfreie.
  5. Die Eingliederung des nobilis in die Klasse der Vollfreien.
  6. Zweites Kapitel. Die Gegenstände der Wirtschaft und das Prinzip ihrer technischen Organisation.
  7. Die Mark.
  8. Das Gebiet des Sonderbesitzes.
  9. Die Hufe als ökonomisches Organisationsprinzip.
  10. Die Terminologie des Hufenbegriffes.
  11. Drittes Kapitel. Rechtsständische Gliederung und soziale Klassenbildung.
  12. Das sesshaft gewordene Volk.
  13. Der unfreie Bauer.
  14. Der minderfreie Bauer.
  15. Viertes Kapitel. Der vollfreie Grundherr.
  16. Die wirtschaftliche Verwertung des Grundeigentums.
  17. Das Institut der Eigenkirche.
  18. Die Zersplitterung des Grundbesitzes und die Rodungstätigkeit.
  19. Die Interpretation der Pertinenzformeln.
  20. Die statistische Verwertung der Formelgruppen.
  21. Vollfreienqualität und bäuerliche Berufsstellung.
  22. Wergeld und Grundbesitz.
  23. Der Einfluss der Traditionen auf die soziale Gliederung
  24. Exkurs I. Die Fastlingersche Hypothese vom Rechtsstande der Tradenten und ihre Kritik.
    § 1. Der Inhalt der Fastlingerschen Hypothese und die Anlage ihrer Beweisführung.
    § 2. Die Beziehungen der Urkundspersonen zu den Tradenten.
    § 3. Die Identität der Personennamen.
    § 4. Die genealogischen Kombinationen Fastlingers.
    Exkurs II. Beispiele von Ortsnamenwiederholungen innerhalb eines einzelnen Schenkungsbereiches.
Vorwort.

Vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, einen Einblick in die älteste soziale Vergangenheit des sesshaften bayrischen Volkes zu gewinnen. Es wird hierzu der Zeitpunkt gewählt, von dem an durch dauernde Niederlassung des Stammes auf eigentlich altbayrischem Boden die wirtschaftliche Entwicklung desselben in feste Bahnen gelenkt wird. Sichtbar werden diese Zustände in den Dokumenten der rechtlichen Veränderung und Konsolidierung des Besitzes. Um ein möglichst geschlossenes Bild dieser Verhältnisse zu erhalten, wurde die Untersuchung der einschlägigen Quellenliteratur bis zu Beginn des 10. Jahrhunderts ausgedehnt.

Der Brennpunkt für eine plastische begriffliche Charakteristik der sozialen Struktur liegt in der Fixierung des sozialen Ranges der volksbildenden Klasse. Dies ist die Klasse der Freien. Die entscheidende Frage geht hier dahin: Ist der freie Bayer im Durchschnitt seiner Klasse Bauer und zwar Freibauer oder Grundherr? Der Bauer erschöpft seine wirtschaftliche Arbeitskraft in der Bestellung seines sich selbst genügenden Eigenbetriebes. Der Grundherr steht als nutznießender „Herr“ über mehreren bäuerlichen Einzelwirtschaften. Diese sind seiner Bedürfnisbefriedigung dienstbar.

So bedeutet das Ziel der Arbeit nur ein Fortschreiten auf dem von Wittich gewiesenen Wege. Die Wittichsche Theorie hinsichtlich der altsächsischen Wirtschaftszustände hat ihre Fassung im Exkurs seiner „Grundherrschaft in Nordwestdeutschland“ und noch präziser in der „Frage der Freibauern“ erhalten. Gleichzeitig sagt sie ihre Geltung für den Westen und Süden des Ostfrankenreiches voraus. Stimmen die Folgerungen aus der Durchforschung unseres Quellenkreises mit den Anschauungen Wittichs überein, so bestätigen sie nur die Richtigkeit einer früher geäußerten Wittichschen Ansicht.

Zur Erreichung eines schlüssigen Resultates schien vor allem eine scharfe begriffliche Formulierung und Sonderung der quellenmäßigen Terminologie nach ihrer rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Seite nötig zu sein. Den Stoff hierzu lieferten in der Hauptsache die bei Meichelbeck gesammelten traditiones Frisingenses,1) der indiculus Arnonis, die breves notitiae Salzburgenses, die Codices von Regensburg, Passau und Mondsee, sowie das Volksrecht selbst.

Unter den einzelnen terminologischen Stichworten wurden nun alle in Betracht kommenden Stellen des Quellenmaterials gesammelt. Nur weniges konnte einem so engmaschigen Netze entschlüpfen. Dann wurden die Zitate einander zur Vergleichung gegenübergestellt. Auf diese Weise konnte sich fast jeder der sich öfter wiederholenden Ausdrücke mit einem bestimmten Begriffe verbinden. Damit stand das Material zu einer methodischen Interpretation der Urkunden unter dem angegebenen Gesichtspunkte bereit Die Zeilen der Dokumente wurden lebendig. Ihr Inhalt erfüllte sich mit gegenständlicher Anschaulichkeit.

Zuerst wird nun die rechtsständische Gliederung des Volkes und die wirtschaftstechnische Organisation der Sachgüter im Produktionsprozess untersucht. Dann werden die rechtlichen und wirtschaftlichen Beziehungen der juristisch definierten Klassen zu den in bestimmten Formen genutzten Vermögensobjekten festgestellt. Hieraus ergibt sich der soziale Charakter der rechtlich qualifizierten Typen. Zugleich erwächst hieraus eine zweite, auf die soziale Differenzierung der Rechtsstände gegründete Terminologie des Personenstandes. Der nicht vollfreie Bauer scheidet sich reinlich vom vollfreien Grundherrn. Eine derartig deutliche Sprache der Terminologie gestattet ohne weiteres die soziale Klassifizierung der Individuen. Hieran anknüpfend wird die Möglichkeit einer sozialen Gruppierung der Rechtssubjekte auch da gezeigt, wo ein terminologischer Schlüssel fehlt. Auf der Zusammenfassung dieser Kriterien basiert eine Zählung der Personen nach ihrer sozialen Stellung. Die Schlüsse der Statistik beschränken sich auf Kennzeichen, die nach den Ergebnissen der vorausgehenden Teile keinen Zweifel über ihren Inhalt übrig lassen. Sie helfen in letzter Linie, den Streit um die Vorherrschaft des grundherrschaftlichen Betriebssystems im Wirtschaftsleben der Vollfreien entscheiden. Eine positive Ergänzung findet die Zählung in statistisch nicht faßbaren, außerhalb der Traditionen liegenden Tatsachen. —

Auch an dieser Stelle sei es mir gestattet, meinen hochverehrten Lehrern, den Herren Prof. Dr. Knapp und Wittich, aufrichtigen Dank zu sagen für die teilnehmende Unterstützung, mit der sie diese Arbeit unausgesetzt begleitet haben. Die Anregung ihrer Entstehung verdankt die Untersuchung Herrn Prof. Dr. Wittich.




1) Die von Bitterauf besorgte Neuedition der Freisinger Traditionen war bei Fertigstellung dieser Arbeit noch nicht erschienen.