Abschnitt. 4

Was das ancien régime dichtete, ist kein Dokument unbedingten Wertes für das, was es lebte. Die Dichtung ist mitnichten „der Spiegel der Zeit“. Sie ist auch Übertreibung. Besonders, wenn sie wie im Rokoko nichts als ein Gesellschaftsspiel des Witzes und der Laune ist. Es gab eine Art zerebraler Débauche, die von bravsten Leuten mitgemacht wurde: der Dichter der unanständigsten Liedchen und Operetten, Collé, war der allertreueste Gatte, der Chevalier Boufflers der hingehendste treueste Geliebte, und solche Beispiele scheinbaren Widerspruchs ließen sich Hunderte anführen zur Bestätigung, daß die Zeit nicht unsittlicher gelebt hat als irgendeine andere. Daß sie unsittlicher gedacht hat, das lag daran, daß sie eben nichts sonst als gedacht hat in diesen Angelegenheiten des Sinnlichen, und daß sie mit einer Vernunft gedacht hat, die, schnell erschöpft, zu immer steigenderem Raffinement treibt, um sich zu behaupten. Was dem Liebeskomplexe durch die Vernunft an Blut entzogen wurde, das musste, zur Wahrung des Bestandes überhaupt, ihm in irgendeiner anderen Materie von wo anders her wieder zugeführt werden. Prompt eignet sich das Vokabular der Liebe alles Neue an und bildet es im Sinne seines galanten Gesamtcharakters um: das Wort Sentiment z. B.

Neben die sittengeschichtlichen Dokumente, die hier folgend das Gesagte illustrieren sollen, stelle man zum Vergleiche das, was heute geschieht und die „Ausschweifung“ jener Zeit wird uns sehr armselig vorkommen. Vergleicht man aber die Entrüstung dieser Pamphletäre mit der Entrüstung, die unsere durch die ?ffentlichkeit hypokrit gewordene und polizeilich versittlichte Zeit aufbringt, dann ist unsere Zeit jener alten weit überlegen. Die öffentliche Moralität war damals gering, wo man nicht zu repräsentieren brauchte, da man irgendwie war. Die öffentliche Moralität ist heute außerordentlich groß, weil man repräsentiert und nichts als das tut, da man nicht ist. Die Verstaatlichung der Moralität machte den Einzelunternehmer überflüssig oder verdächtig. Von Staats wegen unsittlich ist heute das meiste Sittliche. Je stärker es bei einem nötig ist, daß er seine Sitten heimlich betreibt, desto mehr wird er an dem Bestand der öffentlichen Moral interessiert sein. Je sittlicher es heute einer will und tut, desto gegnerischer wird er sich zur öffentlichen Moral stellen. Dieser Widerspruch, der heute das öffentliche Leben beherrscht, war das auflösende Element des Rokokos; das erste europäische Parlament der Revolution machte ihn definitiv. Ihn aufzuheben, schickt sich die Zeit an. Aber nicht, wie gleich bemerkt sei, in dem Hör- und Sehbaren dieser Zeit, in ihren Revolutionen und Konterrevolutionen, in ihren Kriegen und Pazifismen, in ihren Krämpfen und Fiebern! Oder gar in ihren Gegnerschaften, den vermeinten, der Klassen und Parteien! Alle diese Phänomene leben vom Widerspruch, lieben ihn, weil sie von ihm leben, und haben keinen intensiveren Wunsch, als daß er ihnen erhalten bleibe. Was sich hör- und sehbar heute vollzieht, hat seine Fragestellungen immer noch im ancien régime bekommen und sucht auch im Bannkreise von dessen Geist die Antworten auf diese Fragen so, wie sie jenem Geiste entsprechen mögen. Darüber kann eine beliebte „Wissenschaftlichkeit“ nicht täuschen, die ja in dieser sittlichen Kategorie gar nicht in Betracht kommt. Die den Widerspruch aufzuheben bestimmten Keime liegen tiefer in der Erde als Rousseaus Appell an die Natur oder als Tolstois Aufruf zum evangelischen Christentum: was aus diesen Keimzeilen aufblühte, ist längst schon wieder abgeblüht in der Treibhaus wärme ihrer Züchtung, nachdem es als aparter Zimmerschmuck im bourgeoisen Hause seine Stunde gehabt hat. Was aber den Widerspruch aufzuheben und die noch währende Zeit des Rokoko zu beschließen bestimmt ist, das lebt in der tiefsten Katakombe.


Franz Blei

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.