Abschnitt. 3

Aus dieser Zersetzung der alten Mächte bildete sich eine neue Macht, die einzig herrschende bis auf unsere Zeit: die öffentliche Meinung. Sie ist nicht zu fassen und zur Rechenschaft zu ziehen, sie ist da und verschwunden, starr unbeweglich und immer flüchtig, unfassbar überall und nirgends, formlos und alle Form zerstörend. Wer sie zu beherrschen meint, der endet als ihr Diener, und wer ihr dienen will, den zermalmt sie oft, denn sie hat Launen, die in kein Kalkül zu bringen sind. An nichts gebunden, verbindet sie sich alles. Ihre Wahrheit von heute nennt sie morgen Lüge, ihre Götter von heute morgen Götzen, ihre verehrten Talente lächerliche Narren. Ihr Kultus veneriert die Untreue, die Unbeständigkeit, den permanenten Verrat; das doppelte Gesicht, das allem eigentümlich ist, was um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ans Licht kommt, hat es von der öffentlichen Meinung, die sich eine Literatur improvisiert, welche der Vorläufer der Zeitung ist: die geschriebene Konversation, das Pamphlet, die Chronik. Sie bringt in Voltaire, in Diderot diese journalistische Aktivität, in die Gelehrsamkeit den amüsierenden Vortrag, in den Montesquieu des Esprit des lois den Montesquieu der Lettres Persanes. Sie favorisiert den Witz, das Epigramm, die Karikatur. Sie gibt jedem das Recht, von allem zu reden, und erfindet sich aus ihrer Vielhaftigkeit die idealistische Einheit des Homme selon la nature, um sich einen seriösen Fond zu geben, der zu nichts verpflichtet, um ihrer Kritik der Zeit etwas wie einen moralischen Standpunkt außer der Zeit zu geben, um für sich selber die Geste der Entschuldigung zu haben, daß sie eben auch in dieser Zeit lebend ihr erliegen muss und den Homme selon la nature also nicht verwirklichen kann. Jedes Gesicht dieser Zeit hat zwei Profile: ein mit Krampf ernstes und das andere, das sich über den Ernst mokiert; ein gefühlvolles und eines, das darüber zynische Witze macht. Diese Doppeltheit war in einer Form nicht zu halten und daran zerbrach sie endlich. Diese Doppeltheit war nur mit äußerster Anstrengung eine Zeitlang zu halten gewesen, und diese äußerste Anstrengung zur Formbehauptung ist das Rokoko. Ein unbewusster Wille belebt unausgesetzt die glückliche Form, die der Geist unausgesetzt be- droht: das ist die Geschichte des Rokoko.

Die Sitten des Rokokos: man zitiert sie als das offenkundigste Beispiel der Unsittlichkeit. Nun will es uns aber scheinen, als ob sich das Quantum dessen, was, sagen wir im Sittlichen des Liebeskomplexes geschieht, sich in den Zeiten wenig ändert; es wird sich immer oder meistens an der Grenze des gerade noch Möglichen halten. Man tat wohl immer nur, was man konnte, nicht mehr; ich meine, man vernichtete sich nicht, erschöpfte sich kaum. Man hat in der Zeit des ancien régime gewiss nicht unsittlicher gelebt als heute, wenn wir das allein Vergleichbare nach Ort und Milieu vergleichen: Paris mit heutigen großen Städten, die Reichen oder Reichgewordenen von damals mit denen von heute. Was sich geändert hat, ist die Haltung zu dem Phänomen des Sittlichen, das für sich selber ganz gleichgeblieben ist. Das achtzehnte Jahrhundert moralisierte außerordentlich viel mehr, als es unsere Zeit tut, und es moralisierte leichter, mit einem leichteren Gewissen, möchte man sagen. Das heutige Urteil über jene Zeit äußert sich etwa so, daß man sich heute entrüstet darüber und daß man sich damals nicht entrüstete; man ist verblüfft von einer anders sich äußernden Konvenienz; man ist erstaunt, daß damals der Geist sich auf eine andere Weise mit den Dingen abfand, als er es heute zu tun beliebt; man vermisst bei den Sittenrichtern jener Zeit den Ernst eines Standpunktes; man weiß, daß die kleinen Pamphletisten, die über Skandal schrieen, allzuoft silberne Löffel stahlen; aber es dürfte an dem ethischen Ideal gelegen haben, das sich jene Zeit aus ihrer Vernünftigkeit konstruierte, daß es zu keinen anderen moralischen Reaktionen führte als solchen, die sich nur rhetorisch äußerten. Der Homme selon la nature war ein Wechselbalg. Und brachte der Zufall eines auf der Landstraße zerbrochenen Wagens die für die einfachen Sitten des Landvolkes schwärmenden Pariser an das wirkliche Landvolk, dann konnte praktisch von der Schwärmerei nur eine Arabeske übrigbleiben oder ein dichterisches Spiel, an das man nicht glaubte. Man hatte bei den Geistigen, bei den Führern keine „laxe“ Anschauung über das „Sittliche“, aber wohl allzu vernunfthafte Idealitäten, denen im Leben nichts irgend, entsprach. Aber es wäre falsch, den Geist jener Zeit anzuklagen, daß er nicht strenger gewesen sei und so das Sittenlose gefördert hätte. Der eine Rousseau wiegt wohl die hundert Crébillons und Genossen auf, über die Laclos wie ein Strafgericht kam, da die Zeit sich für die Herrschenden ihrem Ende zuneigte. Aber Laclos richtet nicht die sinnliche Entfesselung, sondern die Vergewaltigung des Sinnlichen durch den Verstand. Jene deutschen Jünglinge, die in Rousseau ihren Meister verehrten, waren des Sinnlichen wahrhaft voll und gaben unverstellte Kunde davon wie Glühende vom Gotte, ohne daß sie ihn in Madrigalen variierten wie die vorige Generation, die in ihrer verständigen Eiskühle eine Erwärmung darin fand, daß sie „galant“ war. Man kann sagen: Kinderzeugend in den Betten lagen die Burschen, denen später, als sie beim Klange der Sturmtrommel auf die Straße gingen, die Hosen zu eng wurden für ihre Muskeln, daß sie sie auszogen, wenn sie nicht schon, von den durchwühlten Frauen weg, halb nackt auf die Gasse sprangen. Solche Burschen, kleine Offiziere, Handwerker, Nichtstuer, Gaffer, waren die Amants du coeur aller der ausgehaltenen Mädchen, von deren Namen die Berichte voll sind. Die sie aushielten, waren reichgewordene Steuerpächter, die der Ehrgeiz und meist nichts sonst plagte, eine bekannte Mätresse zu haben; alte Generale der Armee, die wenigstens in der Liebe noch Schlachten schlagen wollten; Kleriker, die ihre Messen in den Schlafzimmern lesen mussten, da sie nur Titularkleriker wegen der Einkünfte waren; Tuchhändler mit Geld und einer langweiligen Gattin; Krautjunker vom Lande, die in Paris den verfluchten Kerl spielen wollten — eine Gesellschaft wie die heutige, und ihr entsprach, was ihr heute entspricht: das kleine Heer der Zuhälter und ausgehaltenen hübschen Jungen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.