Die Sitten des Rokoko.

Autor: Blei, Franz 1871-1942, Erscheinungsjahr: 1923

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Rokoko, Sitten, Gebräuche, achtzehntes Jahrhundert, Revolution, Paris, Kultur, Kunst, kulturelle Werte, Menschengeschichte, Kulturgeschichte, Literatur, Lebensformen, Konvention, Ehebruch, Zweck der Ehe, Lebenswandel, Kurtisanen, Liebhaber, Freudenmädchen, Ausschweifungen, Bordell, Freudenhaus, Vergnügen, Verschwendung, Schönheit
Inhaltsverzeichnis
    1. Abschnitt. 2
    2. Abschnitt. 3
    3. Abschnitt. 4
  1. Die Chronique Scandaleuse.
    1. Vestris, der Gott des Tanzes, hat in der Tat das getan, was unsere Weltleute ein Ende machen nennen ...
    2. Die ernsthaftesten Leute von Rang vergnügen sich in Paris damit, ein Gesellschaftsspiel zu veranstalten, das man Mystifikationen nennt, ...
    3. Frau Dugazon, Schauspielerin an der Comédie Italienne, war höchstens bei ihrem fünfzehnten oder sechzehnten Liebhaber seit sechs Monaten ...
    4. Liguria trat eines Tages plötzlich in mein Zimmer. Die Unsicherheit ihres Blickes, die Hast ihrer Bewegungen, die Unordnung ihrer Haartracht ...
    5. Herr de la Blinaye, ein bretagnischer Edelmann, wohnte auf seinem Landgut, und hatte ein gutes Einkommen; es war jedoch zu gering, ...
    6. Zwei Damen von Rang, die von einer Ausländerin gehört hatten, daß sie die Zukunft besser weissagen sollte als die glaubwürdigsten ...
    7. Das Haus, das Herr von Cahouet bewohnte, als es ihm noch gut ging, überblickte den Garten der Jakobiner. ...
    8. Mademoiselle Duthé 10), die Heldin unserer galanten Mädchen, musste eines Tages eine Strafe über sich ergehen lassen, ...
    9. Ein junger Mann begab sich auf die Besitzungen, die ihm kürzlich durch Erbschaft zugefallen waren.
    10. Ist ein junges Mädchen nicht stark genug, ihre Natur und eine Leidenschaft, die mitunter nichts Sträfliches birgt, ...
    11. Mademoiselle Quincy, eine recht hübsche Kurtisane, gibt eines Tages, sei es aus Malice, sei es aus Leichtsinn, ...
    12. Ein Generalpächter liebte seine Frau und glaubte sich von ihr angebetet. Es war ihm grausame, beispiellose Lust, ...
    13. Der selige M. Duclos, Sekretär der Akademie, badete in der Seine, nahe bei dem Schiff, das Poictevin eingerichtet hatte, ...
    14. Ein Königsgardist, der hinter einer Dame von hohem Rang die Treppe zu Versailles heraufsteigt, wagt, seine Hand ...
    15. Herr von B., ehemaliger Königsgardist und Schwager des Marquis von P., befand sich mit seiner Frau bei einem Souper. ...
    16. Der Bischof geht, zum Weltmann umgewandelt, zu einer liebenswürdigen Dame, die für die kleinen Vergnügungen ...
    17. Ein Soldat des Regiments von *** verlässt ohne Einwilligung seiner Vorgesetzten seine Garnison und kommt ...
    18. Eine unserer wenig bekannten Fräuleins ließ es sich eines Tages einfallen, sich für unberührt ausgeben zu wollen. ...
    19. Trotz sichtbarer Fortschritte der philosophischen Moral sind Menschen einer gewissen Klasse unter uns noch weit ...
    20. Herr Boncourt hat eine hübsche Frau, die das Vergnügen und damit das Verschwenden ungeheuer liebt. ...
    21. Beim Opernball hat sich eine Szene ereignet, die der Markthalle würdig gewesen wäre, doch hatte sie fröhlicheren Ausgang. ...
    22. Unter der Zahl unserer Freudenmädchen finden sich unter anderen auch zwei sehr schöne und sehr unverschämte, ...
    23. Der Marquis von L., der von den Reizen Mlle Fermels sehr eingenommen ist, begibt sich eines Tages zu ihr und bittet ...
    24. Adeline Colombe, eine italienische Schauspielerin, die Carlines halber von dem Herzog von F. verlassen worden ist, ...
    25. Ein den Ausschweifungen sehr ergebener Abbe, steter Begleiter des Marquis von *** bei dessen Eskapaden, ...
    26. Eines Tages kommt eine Dame zu Mlle Berbier, Modistin der Königin, mehrere Hüte bei ihr zu bestellen, ...
    27. Ein Schöngeist, der Herr Palissot 12), dessen lebhafte Spottsucht seine Talente überwiegt, hatte gegen den Abbé ...
    28. Vor einiger Zeit hat man die Verfügungen, Freudenmädchen betreffend, erneuert, und die eiserne Strenge, ...
    29. Die Frau des Akademikers Marmontel hat ihr erstes Kind tot zur Welt gebracht. Die schlimmen Spötter bemerkten darauf, daß dieser Autor nichts machen könne, das lebensfähig sei. 13)
    30. Die Montensier, derzeit Leiterin der Comedie in Versailles, hat sich einer Anzahl Vergehen schuldig gemacht; ...
    31. Ein ausländischer Gesandter hielt hier ein entzückendes Mädchen aus, die mit den Reizen der Schönheit alle persönlichen ...
    32. Der Abbe P** begab sich nach der Besitzung eines seiner Freunde im Limousinischen. Als er in einen Wald kommt, ...
    33. Die Oper Bacchus und Amor hat zu Anfang letzten Jahres eine ihrer vorzüglichsten Priesterinnen verloren: ...
    34. Ein Abbé kam aus der unentgeltlichen Vorstellung von Coriolan; ein Mädchen spricht ihn an und macht ...
    35. Frau von Mirabeau liebte es außerordentlich, zu prozessieren. Ihr Gatte, der Verfasser des „Ami des Hommes“, ...
    36. Man fragte Mme von Murville nach dem Alter ihrer Mutter (Mlle Arnoult). „Ich weiß es nicht mehr,“ antwortete sie, „jedes Jahr glaubt sich meine Mutter um eines verjüngt; wenn sie so fortfährt, werde ich bald die ältere sein.“
    37. Ein junger Gardeoffizier, der in der Gesellschaft debütierte, toll verliebt in die Mlle Granville, eine berühmte und reiche Kurtisane, ...
    38. Die berühmte Kurtisane Longeau 15) ist aus den Pariser B. (Boudoirs, wenn Sie wollen) zum Theater in Bordeaux ...
    39. Eines Tages schrieb der Präsident von S** einem Polizeiinspektor folgenden Brief: „Ich bitte Sie, Monsieur, ...
    40. Vor einigen Jahren begegnete Frau von Boulainvilliers auf dem Lande einem jungen Mädchen, ...
    41. Ein junger Herr von Rang, der kaum den Händen eines Erziehers, der ihn in tugendhafter Unwissenheit bewahrte, ...
    42. Mlle Fanier 17), die gerade die Rolle eines Offiziers gespielt hatte, kam in die Kulissen zurück, indem sie rief: ...
    43. Die Annalen der komischen Bühne bieten mehr als eine blutige Szene. Nicht immer ist die Bravour eine falsche ...
    44. Der berühmte Generalpächter Bouret wird eines Morgens tot in seinem Bett gefunden. ...
    45. Der berühmte Abbé Prévost soupierte einst mit einigen intimen Freunden, die wie er Schriftsteller waren. ...
    46. Monsieur Linguet sieht einige Tage nach seiner Einlieferung in die Bastille einen großen, mageren Mann in sein Zimmer treten, der ihm leichte Furcht einflößte. Er fragt ihn, wer er sei. — „Ich bin“, antwortet der Unbekannte, „der Barbier der Bastille.“ „Bei Gott,“ antwortet kurz Linguet, „Sie hätten die Bastille rasieren sollen.“
    47. Ein Soldat, Sohn des Herrn de Case, des Generalpächters, hat sich mit dem Sohn des Herrn de la Reyniere, ...
    48. Die nächtlichen Weihnachtszeremonien haben oft zu skandalösen Szenen Anlaß gegeben. Die Kirche zu ...
    49. Ein junges, sehr hübsches Mädchen stand im Begriff, sich zu verheiraten. Man konnte ihre jungfräuliche Miene ...
    50. Ein Finanzier, der eine sehr galante Frau besaß, war auf Reisen; sie profitierte von seiner Abwesenheit, ...

    51. Frau von ***, die seit kurzer Zeit verheiratet ist, gähnte viel in Gegenwart ihres Mannes. Als dieser sie fragte, ob sie sich mit ihm langweile, antwortete sie: „Nein Monsieur, aber Sie und ich, wir bilden eine Person, und ich langweile mich, wenn ich allein bin.“ Nur einer Frau kann eine so naive und gleichzeitig so ingeniöse Antwort entschlüpfen.
    52. Eine Arie aus Richard Löwenherz hat einer Unzahl boshafter oder leichtfertiger Couplets zum Muster gedient, ...
    53. Nachdem der Graf de Lauraguais während einiger Jahre mit Mlle Arnoult gelebt hatte, setzte er ihr eine Rente ...
    54. Man hat nirgendwo, glaube ich, einen geistreichen Ausspruch des Malers Doyen aufgezeichnet, ...
    55. Eines Tages durchquert der, wie man weiß, starkknochige Abbé Fürst Salm das Vorzimmer des Königs, l’oeil de boeuf genannt, als einige Herren, die sich dort wärmten, laut genug, um es ihn hören zu lassen, bemerkten: „Da ist ja der Äsop des Hofes.“

      Der Fürst antwortete ohne jede Verwirrung: „Meine Herren, der Vergleich ist mir sehr schmeichelhaft, denn Äsop machte die Tiere sprechen.“
    56. Die Geschichte, die man über das Exil des eleganten Virgilübersetzers erzählt, entbehrt jeder Begründung. ...
    57. Mlle Arnoulds witzige Bemerkungen erfreuen sich großer Berühmtheit. ...
    58. Ein Engländer, der im Begriff stand, nach London abzureisen , schrieb folgende Sätze an die berühmte Gourdan: ...
    59. Der Marquis von Bièvre lieferte bei Prault, dem Drucker, das Manuskript seiner Komödie „Le Séducteur“ ab, ...
    60. Man weiß, daß Herr le Mierre von der Académie Francaise nicht gerade ein Narziß zu nennen ist, und daß ...
    61. Die Theatereröffnung des Mgr. Grafen von Beaujolais fand im Palais Royal am 23. Oktober 1784 statt. ...
    62. Man hat soeben eine neue Obszönität entdeckt, die bisher unbekannt war und die wert ist, unter die großen Erfindungen des Jahrhunderts gezählt zu werden.

      Dies sind die „Westen der petits soupers“. Da es momentan Sitte ist, den Anzug zuzuknöpfen, sieht man keineswegs den oberen Teil der Weste, jedoch, bei Orgien gewisser Art, löst sich der Frack und exponiert den Augen der Messalinen Malereien und Stickereien, die mit dem Zweck des Festes in Einklang stehen und ihrer ganzen Geilheit würdig sind.
    63. Der talentierte Bildhauer Houdon hat die Büste des Prinzen Heinrich von Preußen gemacht. Der Chevalier de Bouffiers, dessen poetisches Talent so wert ist, gewürdigt zu werden, hat die vier folgenden Verse geliefert, die auf dem Sockel der interessanten Büste stehen sollen:

      Dans cette image auguste et chère,
      Tout héros verra son rival,
      Tout sage verra son égal,
      Et tout homme verra son frère.
    64. Herr von Maurepas hat sich bis zum Ende seiner Tage seine Fröhlichkeit und seine galante Laune bewahrt. ...
    65. Es gibt verschiedene Klassen unter den Roués. Die lustigsten, wenn auch nicht die wohlwollendsten, ...
    66. Der Magnetismus spielt seine Rolle bis zu den Zuckerbäckern der Rue des Lombards herab. Zur Zeit der Neu Jahrsgeschenke ist es Sitte, ...
    67. Einer unserer liebenswürdigsten Galane, der ebenso gern auf dem Parnasse, auf Cythère wie in Versailles gesehen wird, ...
    68. Die schmutzige Geschichte der Präsidentin D*** ist bekannt. 21) Man weiß, daß sie vor 15 Jahren aus Douai entführt ...
    69. Auf der Place Dauphine hat sich kürzlich ein Abenteuer zugetragen, das dem des Frater Girard gleichen würde, ...
    70. Ein Engländer hat kürzlich in der Oper eine seltsame Wette verloren; er präsentierte sich immer auf dem Balkon ...
    71. Man kennt die verschiedentlichen Neigungen der Mlle Raucourt; sie haben Anlaß zu folgendem Couplet gegeben, ...
    72. Man kennt die Mode der Krinolinen, deren Volumen mehr oder weniger den Umfang aller Damen gleich macht, ...
    73. Ein Schelmenstreich der Mlle Rosalie von der Comédie Italienne hat zu einem recht seltsamen Urteil geführt. ...
    74. Mlle Arnould hat sich nach einem Streit mit Mlle Raucourt 25) mit dieser wieder versöhnt, woran der Komödiant ...
    75. Man erzählt über den verstorbenen Herrn Pompignan eine Anekdote, die die jähzornige Veranlagung vieler Frommen ...
    76. Nach unseren Kabrioletts hat man sehr erhöhte Wagen gebaut, die Wiskis genannt wurden. ...
    77. Im Palais der Tuilerien hat man einen Riesenaerostat anfertigen lassen, der ganz Paris auf die Beine gebracht hat. ...

    78. In der vergangenen Woche ereignete sich im Palais Royal im „Camp des Tartares“, ein ziemlich heftiger Aufruhr. 26)
    79. Der Chevalier de la Morliere, der im Jahre 1784 gestorben ist, hatte sich sozusagen zum Arbiter neuer Stücke ...
    80. Ein Abenteuer, das sich soeben im Palais Royal ereignet hat wird viel dazu beitragen, um die gefährlichen Priesterinnen ...
    81. Hier eine lustige Anekdote, die gut aus Griechenland wieder auferstanden sein könnte. Man erzählt, daß die Frau ...
    82. Leute, die an Vorbedeutungen und Träume glauben, werden mit Vergnügen diese ganz neue Anekdote lesen, ...
    83. Gespräch Herrn Diderots mit der Marschallin von D***, von ihm selbst erzählt: ...
    84. Ich habe von einer achtungswerten und glaubwürdigen Persönlichkeit den unglaublichen Bericht der Abenteuer des Pfarrers ...
    85. Im ,Journal de Paris‘ hat Dr. Retz veröffentlicht, daß er einen Kutscher dafür zu belohnen wünscht, daß er ihn nicht ...
    86. Hier ein Scherz, der zu lustig war, um nicht vollkommen gelungen zu sein. ...
    87. Der Karneval in Venedig dauert, wie man weiß, sechs Monate; die Mönche spazieren in Maske und Domino einher, und auf einem Platz sieht man auf der einen Seite Komödianten, die lustige, aber zügellos ausgelassene Farcen mimen, und auf der anderen spielen Geistliche Farcen anderer Art und rufen aus: „Meine Herren, kümmern Sie sich nicht um jene Stümper; der Polichinell, der sie zusammentrommelt, ist nur ein Dummkopf“; und (hier zeigt er ein Kruzifix): „Hier ist er, der wahre Polichinell, der große Polichinell, hier ist er ...“
    88. Eine Gesellschaft vornehmer und reicher Leute, aus zwanzig Personen bestehend, Männern sowohl wie Frauen, ...
    89. Eine Anekdote, die man von Herrn von Calonne erzählt, lässt hoffen, daß er sich leicht über ein Malheur trösten wird, ...
    90. Das Parlament beschäftigt sich mit einer Angelegenheit, die viel von sich reden machen wird. ...
    91. Am Spieltisch einer Hofdame, die eine Art Spielhölle unterhält, trafen sich ebenso glückliche wie geschickte Spieler. ...
    92. Man lacht viel über das Testament eines Engländers, dessen Authentizität garantiert wird; hier eine seiner Klauseln:

      „Ich gebe und vermache meiner Schwester N. N. fünf Guineen, die ihr aber nicht während ihres irdischen Daseins ausgezahlt werden sollen; sie sollen ihr sofort nach ihrem Tode eingehändigt werden, damit sie sich standesgemäß begraben lassen kann.“
    93. Aus London schreibt man, daß unser berühmter Seiltänzer Placide dort wunderbare Vorstellungen gibt, daß es ihm aber teuer zu stehen gekommen ist, einem noch gewagteren Springer begegnet zu sein. Dies ist ein Straßenräuber, der ihm, nachdem er ihm seine Börse entwendet hatte, freundschaftlich die Hand à l’anglaise schüttelte und ihm sagte: „Kamerad Placide, vielleicht werde ich bald einen viel gefährlicheren Sprung machen als die deinen, aber in der Zwischenzeit werde ich ein Glas auf deine Gesundheit trinken.“
    94. Bei einem Souper wurde erzählt, Mme D. habe die Pocken. „Das erstaunt mich nicht,“ antwortete jemand, „ich habe sie immer als sehr anspruchslos gekannt.“ [Veröle = Syphilis; Petite Veröle = Pocken. Anm. d. Ü.]
    95. Vor kurzem hat man drei Säbelduelle ausgefochten; das eine vom Chevalier de Cubieres gegen M. de Champcenets, ...
Das achtzehnte Jahrhundert hat — vielleicht aus einen Überfluss an Dokumenten — in der heutigen Kenntnis unter dem Abgestorbenen und in seiner Zeit Verbrauchten mehr als irgendeine Zeit in der Schätzung zu leiden, so sehr, dass diese Zeit uns ferner erscheint als irgendeine vor ihr. Die Revolution dünkt uns so sehr definitive Endigung des Alten und Ausgang unserer vermeintlich ganz neuen Geschichte zu sein, dass wir ein Besonderes in dem Allgemeinen gar nicht mehr wahrnehmen und in einem bloßen Schlagwort jene Zeit verdichten und erledigen, wo wir uns in allem Wesentlichen noch immer mit den Dingen auseinandersetzen und auf die Fragen Antworten suchen, welche eben dieses achtzehnte Jahrhundert zum ersten Male gestellt hat. Die sichtbaren Wirkungen markieren in der Geschichte keineswegs. Das tun die Ursachen. Die Revolution, von der wir uns so neu datieren, ist früheren Datums als 1789, wovon das heutige Bürgertum Zeuge ist, dessen Geburtsstunde zusammenfällt mit jener von Rousseaus Literatur, deren träumerisch- verlogene Sprache dieses Bürgertum bis auf heute nicht zu seinem Vorteil redet, wenn immer es sich auf der Tribüne äußert. Im Kontor spricht es zu seinem Glücke ja englisch, und auch dieses Englisch bekam seine Faktur im achtzehnten Jahrhundert.

Es gefällt sich unsere Zeit darin, zu der Kultur des ancien régime, der letzten, welche die Menschengeschichte zusammengebracht hat, sich gegensätzlich zu charakterisieren und die sehr missverstandenen Werte jener mit einem negativen Vorzeichen zu versehen, und das um so mehr, als sie die eigenen dafür einbesorgten oder bloß so behaupteten Werte positiv einstellt. Man vermeint jene Zeit oberflächlich und äußerlich, weil man sich selber tief und intensiv vorkommt: dass diese Tiefe und Intensität sich noch keinerlei Form geschaffen, es zu keinen kulturellen Werten gebracht haben, das lässt die Menschen dieser Zeit nicht etwa an dem Vorhandensein dieser Qualitäten zweifeln, sondern soll sogar ihr ganz außerordentlich starkes Vorhandensein bestätigen.

Dass man heute alles auch in seinem polaren Gegensatze denken und meinen kann, dass man von Wahrheiten redet, aber nicht von der Wahrheit, dass keinerlei bindende Lebensformen da sind, das hält man heute für die Form dieser Zeit. Und achtet nicht, dass sie, soweit sie es überhaupt zu einer alle verbindenden Form bringt, bestenfalls nichts sonst tut, als Formen jener alten Zeit unbewusst parodieren, und eben nichts anderes kann als dieses, da ihr eben weder die Tiefe noch die Intensität jener alten Zeit eignet, aus der heraus jene Oberfläche wurde, die wir gesellige Kultur nennen.

Unsere Zeit verbraucht das Erbe des achtzehnten Jahrhunderts und tut es mit wenig Talent, aber mit einem schlechten Gewissen. Deshalb möchte es sich in einem Gegensatz zu dem achtzehnten Jahrhundert gesehen wünschen, dem es aber im Wesentlichen denkerischer und ethischer Einstellungen viel näher ist als etwa dem achtzehnten das siebzehnte Jahrhundert, so dass man eine bestimmt zu charakterisierende Periode von 1730 bis auf heute datieren kann, welcher durchaus gemeinsame Tendenzen eignen und die nur durch den Mangel der formbildenden Kräfte im neunzehnten Jahrhundert voneinander unterschieden sind. Die Formen, die sich das ancien régime noch geben konnte, haben in der neueren Zeit nur mehr in der leblosen Konvention eine diskutierte Existenz, in ihrer toten Nachahmung und Parodie, aber sie sind nicht mehr ein Ganzes bindend und Hintergrund schaffend. Die Leichtigkeit und scheinbare Voraussetzungslosigkeit der Formen des Rokokos — der Zeit von 1740 bis 1790 — gelten heute als Wesen und Gesetz für alle Form, in der man nichts als ein sogenanntes Äußerliches sieht, das man ganz eklektisch wählen könne. Die neue Zeit hat alle Formen kopiert, aber keine aus sich geschaffen, unter Formen gesellschaftliche Bindungen verstanden, nicht nur Formen der Künste. Das Rokoko verbarg Zweck, Konstruktion und Elemente hinter dem Ornament; man hob scheinbar alle statischen Gesetze auf und gefiel sich im Illusionismus; man vermengte Plastik und Architektur so oft, indem man beides malte. Kirchen machte man wie Theater, Schlafzimmer wie Altäre, Bäume und Sträucher schnitt man nach Tierformen, Kaskaden ließ man scheinbar aufwärts fließen, die Liebe reklamierte man für den Verstand, und den einzigen Zweck der Ehe sah man im Ehebruch. Das Gespräch und der Brief wurden die beliebtesten Ausdrucksformen auch für gelehrteste Dinge, denn man liebte den belebten Reichtum der Oberfläche und die Sinnlichkeit des Geselligen aus einer Tiefe heraus, die sich nicht an sich selbst begnügte: in der Musik hatte das Rokoko sein Genie. Ja, dieses „oberflächliche“ Jahrhundert kultivierte, an die Vis superba formae glaubend und sie zu schaffen begabt, seine Oberfläche um so intensiver, je mehr Kräfte von unten sich rührten, welche die Formen dieses Lebens in Zweifel stellten, weil sie dieses Leben selber verwarfen. So stark war die Kraft zur Form und die kulturelle Verpflichtung zur Oberfläche, dass sich die Tiefen und Neuen selber darein begeben mussten: Diderot wie Rousseau, Lessing wie Goethe, Händel wie Mozart, Watteau wie Fragonard: im Besten wie im Schlimmsten lebt das neunzehnte Jahrhundert von diesen größten Energien des Rokokos, was das Griechentum Hölderlins, Beethovens letzte Quartette, die Episode der deutschen Romantik, was Die natürliche Tochter nicht zu ändern vermochten bis auf heute.

Was sich im Komplexe des Gefühls am stärksten gegen seine Zeit stellte — ohne sich aus ihr heraus zu stellen — , wurde unser verzweifeltes Erbe: Rousseau. In Tolstoi verbrauchten wir dieses letzte Stück. Rousseaus lyrischer Sentimentalismus wandelte sich in den Spleen, dieser in den Pessimismus, der in seiner letzten Wandlung einen anarchischen Individualismus und seinen Zwillingsbruder, den protestantischen Sozialismus, zeugte. Dies sind die aus dem Rokoko zu datierenden Etappen im Geiste des neunzehnten Jahrhunderts. Wir sind dabei, uns mit den letzten gebliebenen Resten auseinander zu setzen. Noch ist nicht ganz deutlich, ob wir eine neue Einstellung haben, die sich jedenfalls durch eine distinkte Form nicht deutlich gemacht hat. Im allgemeinen lebt die heutige Zeit mehr als je in der Vernünftigkeit, der sie in einem angeblichen Wissen um ihre nicht einzige oder gar letzte Bedeutung die engere Determination des Zweckhaften gegeben hat. Die auf Zwecke gerichtete Vernunft ist das ordnende Prinzip heutigen Verhaltens. Gewissermaßen inoffiziell drohen Inundationen von allerlei Mystik an die Biberbaue.

01 Freudeberg, La Soiree d’hiver.

01 Freudeberg, La Soiree d’hiver.

02 Freudeberg, La Promenade du soir.

02 Freudeberg, La Promenade du soir.

03 Freudeberg, Les Confidences.

03 Freudeberg, Les Confidences.

04 Freudeberg, L’Evénement du bal.

04 Freudeberg, L’Evénement du bal.

05 Freudeberg, Le Boudoir.

05 Freudeberg, Le Boudoir.

06 Freudeberg, L’Occupation.

06 Freudeberg, L’Occupation.

07 Freudeberg, La Toilette.

07 Freudeberg, La Toilette.

08 Freudeberg, La Visite inattendue.

08 Freudeberg, La Visite inattendue.

09 Freudeberg, Le Coucher.

09 Freudeberg, Le Coucher.

10 Freudeberg, Le Lever.

10 Freudeberg, Le Lever.

11 Freudeberg, Le Bain.

11 Freudeberg, Le Bain.

12 Freudeberg,La Promenade du Matin.

12 Freudeberg,La Promenade du Matin.

13 Moreau, Les Adieux.

13 Moreau, Les Adieux.

14 Moreau, L’Accord parfait.

14 Moreau, L’Accord parfait.

15 Moreau, La Rencontre au bois de Boulogne.

15 Moreau, La Rencontre au bois de Boulogne.

16 Moreau, La Dame du Palais de la Reine.

16 Moreau, La Dame du Palais de la Reine.

17 Moreau, Le Rendezvous pour Marly.

17 Moreau, Le Rendezvous pour Marly.

18 Moreau, Le déclaration de la grossesse.

18 Moreau, Le déclaration de la grossesse.

19 Moreau, N’ayez pas peur, ma bonne amie.

19 Moreau, N’ayez pas peur, ma bonne amie.

20 Moreau, J’en accepte l’heureuse présage.

20 Moreau, J’en accepte l’heureuse présage.

21 Moreau, Les Précautions.

21 Moreau, Les Précautions.

22 Moreau, C’est un fils, Monsieur.

22 Moreau, C’est un fils, Monsieur.

23 Moreau, Les petits parrains.

23 Moreau, Les petits parrains.

24 Moreau, Les délices de la maternité.

24 Moreau, Les délices de la maternité.

25 Moreau, Le Lever du petit maitre.

25 Moreau, Le Lever du petit maitre.

26 Moreau, La petite toilette.

26 Moreau, La petite toilette.

27 Moreau, La grande toilette.

27 Moreau, La grande toilette.

28 Moreau, La course des chevaux.

28 Moreau, La course des chevaux.

29 Moreau, La petite loge.

29 Moreau, La petite loge.

30 Moreau, Le souper fin.

30 Moreau, Le souper fin.

31 Moreau, Oui ou Non.

31 Moreau, Oui ou Non.

32 Moreau, La sortie de l’Opéra.

32 Moreau, La sortie de l’Opéra.

33 Moreau, Le Seigneur chez son fermier.

33 Moreau, Le Seigneur chez son fermier.

34 Moreau, Le pari gagné.

34 Moreau, Le pari gagné.

35 Moreau, La partie de whist.

35 Moreau, La partie de whist.