Ich habe von einer achtungswerten und glaubwürdigen Persönlichkeit den unglaublichen Bericht der Abenteuer des Pfarrers ...

Ich habe von einer achtungswerten und glaubwürdigen Persönlichkeit den unglaublichen Bericht der Abenteuer des Pfarrers von Saint-Roch bekommen, der vor kurzem gestorben ist.

Der Abbe Marduel wurde zu Lyon im Jahre 1703 geboren; seine Eltern bestimmten ihn der geistlichen Laufbahn; er wandte sich dem Priesterstande zu und verließ ihn bald darauf, um Kaufmann zu werden, verheiratete sich, hatte Geldverluste, machte Bankerott und schiffte sich mit seiner Frau ein, sein Glück in Amerika zu versuchen. Das Schiff scheiterte, ein Teil der Mannschaft rettete sich, man glaubte, daß die anderen umgekommen seien.


Durch einen ziemlich seltsamen Zufall gelingt es dem Rest der Bemannung, den man ertrunken wähnt, sich an eine entgegengesetzte Küste zu retten; dasselbe Spiel findet statt: Hier lässt der Gatte, dort die Frau Totenmessen zur ewigen Seelenruhe lesen. Marduel, der in Amerika nicht glücklicher war als in Europa, reist nach Frankreich zurück. Aber, da er nicht wagt, wieder nach Lyon zu gehen, begibt er sich nach Paris, wendet sich wiederum dem Priesterstande zu, empfängt die Weihe und richtet sich in der Gemeinde zu Saint Louis-en-1’Ile ein, wo er lange das Amt eines Vikars ausfüllt; sein Eifer und seine Begabung verschaffen ihm schließlich die Pfarrei von Saint-Roch. Seine Frau kehrt bei Gelegenheit nach Europa und zu ihren Eltern nach Lyon zurück Geschäfte führen sie des öfteren nach mehreren Jahren nach Paris, und sie begibt sich wie alle Provinzler zur Fronleichnamsprozession nach Saint-Roch; unendlich ist ihre Überraschung, in den Zügen des Geistlichen den lang beweinten Gatten zu erkennen. Sie erkundigt sich nach seinem Namen, und ihr Erstaunen wächst; man sagt ihr, er stamme aus Lyon; bei dieser Nachricht verliert sie das Bewußtsein. Wieder zu sich gekommen, eilt sie dem Priester zu begegnen, und ihr Herz überzeugt sie noch besser als ihre Augen nach zwanzigjähriger Abwesenheit, daß sie ihren Gatten wiedergefunden hat.

Am nächsten Morgen lässt sie sich beim Pfarrer unter einem falschen Namen melden, nennt sich darauf, ruft ihre einstmaligen Beziehungen zurück und fällt ohnmächtig in seine Arme. Der gefühllose Pfarrer kalkuliert mit Blitzeseile in seiner gewinnsüchtigen Seele die Vorteile, die ihm entgehen können, wenn er seine Frau wiedererkennt; er behandelt sie wie eine Geisterseherin; sie beharrt auf ihrer Behauptung, bringt Details, die genügen, jeden Zweifel zu zerstreuen, fügt hinzu, daß sie in ihrem Alter keineswegs die Absicht habe, ihn um seine Stelle zu bringen, verlangt als einzige Güte, bei ihm als seine Schwester leben zu dürfen, und verspricht ihm heiligste Geheimhaltung ihrer wirklichen Beziehungen.

Der alte Priester, der vielleicht die Indiskretion seiner Frau fürchtet, besteht darauf, sie nicht zu verstehen; er nennt sie eine Närrin und droht, sie als Hochstaplerin einsperren zu lassen. Von Schmerz überwältigt, zieht sich die verzweifelte Gattin zurück. Sie war arm; der Überfluß, in dem ihr Gatte lebt, reizt ihre Verzweiflung stärker, und da bald der Rachedurst an Stelle der Zärtlichkeit tritt, lässt sie aus Lyon die notwendigen Papiere kommen, um ihren undankbaren Gatten zu überführen, und bringt sie zum ersten Parlamentsvorsitzenden, der den Pfarrer vorladet; er gesteht sein Unrecht ein und ersucht um Gnade. Der Erzbischof interveniert, sucht den Skandal zu vermeiden, schiebt den Kuraten für zwei Wochen ins Seminar und verpflichtet ihn auf das Geständnis seiner Frau hin, ihr eine Rente von 1000 Talern in irgendeinem Kloster, das sie selbst wählen soll, zu geben.

Man weiß nicht, ob der Abbé Marduel jemals Kinder gehabt hat, doch war er geschickt genug, seine Pfarre zu behalten und sich seiner Frau, die vielleicht heute noch lebt, zu entledigen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.