Gespräch Herrn Diderots mit der Marschallin von D***, von ihm selbst erzählt: ...

Gespräch Herrn Diderots mit der Marschallin von D***, von ihm selbst erzählt:

„Ich hatte, ich weiß nicht mehr in welcher Angelegenheit, mit dem Marschall D*** zu sprechen. Ich spreche bei ihm vor, er ist abwesend; man führt mich zu Mme La Marechale. Sie ist eine charmante Frau; sie ist schön, ist fromm wie ein Engel; die Güte ist auf ihrem Gesicht geschrieben, sie hat die süßeste Stimme und eine Naivetät der Unterhaltung, die ihrer Physiognomie entspricht. Sie war mit ihrer Toilette beschäftigt. Man schiebt mir einen Sessel hin, ich setze mich, und wir plaudern.


Auf einige Bemerkungen von mir, die sie erstaunten und belehrten, denn sie war der Meinung, daß jemand, der die heilige Dreieinigkeit leugne, ein Erztaugenichts sei, den man eines Tages hängen würde, sagt sie zu mir:

„Sind Sie nicht Monsieur Diderot?“ — „Ja, Madame.“— „Sie sind also der Ketzer?“ — „Gewiß, Madame.“ „Ihre Moral indessen ist die eines Gläubigen.“ — „Warum nicht, wenn er ein anständiger Mensch ist.“ — „Und befolgen Sie diese Moral?“ — „Nach bestem Wissen und Wollen.“ — „Wie, Sie stehlen nicht, Sie töten nicht, Sie plündern nicht?“ — „Sehr selten.“ — „Was haben Sie denn davon, nichts zu glauben?“ — „Nichts; glaubt man denn, weil es etwas dabei zu gewinnen gibt?“ — „Ich weiß es nicht, aber der Eigennutz verdirbt nichts in den Dingen dieser oder jener anderen Welt.“ — „Das bedauere ich ein wenig für Ihre armselige, menschliche Rasse.“ — „Sie stehlen also nie?“ — „Nein, auf Ehre.“ — „Wenn Sie weder Dieb noch Mörder sind, geben Sie wenigstens zu, daß Sie nicht konsequent sind?“ — „Warum denn?“ — „Weil es mir scheint, daß ich, wenn ich nach meinem Tode nichts zu fürchten noch zu hoffen hätte, ich mich in dem jetzigen Leben so mancher Süßigkeit nicht enthalten würde; ich gebe zu, daß ich Gott auf kurze Zeit und hohe Zinsen ausliehe.“ — „Sie bilden sich das ein.“ — „Das ist keine Einbildung, das ist Tatsache.“ — „Und darf man fragen, was für Dinge es sein würden, die Sie sich erlaubten, wären Sie ungläubig?“ — „Das ist ein Teil meiner Beichte.“ — „Ich meinerseits gäbe mich verloren.“ — „Das ist die Zuflucht aller Lumpen.“ — „Würde ich Ihnen als Wucherer lieber sein?“ — „Man kann mit Gott wuchern, soviel man will, man ruiniert ihn nicht. Ich weiß, daß dies nicht sehr zartfühlend klingt, aber was tut das? Da es sich darum handelt, den Himmel durch Geschicklichkeit oder durch Kraft zu gewinnen, muss man alles in Rechnung ziehen, keinen Vorteil vernachlässigen. Wir haben gut reden; alles, was wir bieten können, ist recht jämmerlich im Verhältnis zu der Aufnahme, die wir erwarten. Und Sie erwarten also gar nichts?“ — „Nein.“ — „Das ist traurig; geben Sie doch zu, daß Sie entweder sehr schlecht oder sehr töricht sind.“ — „Ich gestehe, ich kann nichts dergleichen zugeben, Madame.“ — „Welches Motiv kann ein Ungläubiger haben, um gut zu sein, wenn er nicht ein Narr ist?“ — „Ich werde es Ihnen sagen. Glauben Sie nicht, daß man so glücklich geboren sein kann, daß man Freude daran findet, Gutes zu tun?“ — „Ich glaube es.“ — „Daß man eine ausgezeich- nete Erziehung empfangen haben kann, die eine natürliche Nei- gung zur Wohltätigkeit unterstützt?“ — „Gewiß.“ — „Und daß uns die Erfahrung in vorgeschrittenem Alter überzeugt haben kann, daß es in dieser Welt zu unserem Glücke besser ist, ein ehrlicher Mensch zu sein, als alles zu nehmen und ein Schelm zu werden?“ — „Jawohl, aber wie ist man ein anständiger Mensch, wenn schlechte Prinzipien sich mit den Leidenschaften vereinen, um zum Bösen fortzureißen?“ — „Man ist inkonsequent, und gibt es etwas, das allgemeiner wäre als Inkonsequenz?“ — „Leider, nein; man glaubt und führt sich täg- lich auf, als ob man nicht gläubig wäre.“ — „Und ohne Glauben benimmt man sich ungefähr ebenso, als wenn man glaubte.“ — „Was Sie nicht sagen! Aber welche Unbequemlichkeit brächte es mit sich, hätte man einen Grund mehr, die Religion, um Gutes zu tun, und einen Grund weniger, den Unglauben, um schlecht zu sein?“ — „Keine, wenn die Religion ein Anlaß wäre, Gutes zu tun, und der Unglauben ein Anlaß zum Töten.“ — „Gibt es darüber irgendeinen Zweifel? ist es nicht das Wesen der Religion ohne Unterlaß, diese häßliche, verderbte Natur zu durchkreuzen, und das des Unglaubens, sie ihrer Schlechtigkeit dadurch auszuliefern, daß sie sie von der Furcht befreit?“ — „Dies, Madame, wird zu einer endlosen Diskussion führen.“ — „Was tut das? Der Marschall wird so bald nicht heimkommen, und es ist besser, daß wir über vernünftige Dinge sprechen, als zu klatschen.“ — „Ich muss also etwas höher beginnen.“ — „So hoch, wie Sie wünschen, vorausgesetzt, daß ich Sie verstehen kann.“ — „Wenn Sie mich nicht verstehen, wird es an mir liegen.“ — „Das ist sehr höflich, aber Sie müssen wissen, daß ich nie etwas anderes gelesen habe als mein Gebetbuch, und ich nie anders beschäftigt war, als das Evangelium zu üben und Kinder zu gebären.“ — „Dies sind zwei Pflichten, deren Sie sich gut entledigt haben.“ — „Ach ja, was die Kinder anbetrifft, so habe ich sechs lebendige und ein siebentes, das bald erscheinen wird, aber fahren Sie fort.“ — „Madame, gibt es irgend etwas Gutes auf dieser Welt, das ohne Nachteile ist.?“ — „Nein.“ — „Und irgend etwas Böses, das einen Vorteil hat?“ — „Nein.“

— „Was nennen Sie denn ,Gut’ und ,Böse’?“

— „Das Böse ist das, was mehr Nach- als Vorteile, und das Gute, was mehr Vorteile als Nachteile hat.“

— „Würden Madame die Güte haben, sich der Definition von Gut und Böse zu erinnern?“

— „Ich erinnere mich daran.“

— „Also sind Sie überzeugt, daß die Religion mehr Vor- ais Nachteile hat, und deshalb nennen Sie sie einen Gewinn.“

— „Gewiß.“

— „Ich meinerseits zweifle nicht daran, daß Ihr Intendant Sie nicht am Abend vor Ostern etwas weniger bestiehlt als am Mor- gen nach einem Festtage, und daß die Religion von Zeit zu Zeit eine gewisse Anzahl geringer Übel verhindert und manches Gute erzeugt.“

— „Wenig und wenig macht eine Summe.“

— „Aber glauben Sie, daß die schrecklichen Verheerungen, die sie in vergangenen Zeiten angerichtet hat und die sie in kommenden Zeiten veranlassen wird, genügend durch jene jammervollen Vorteile kompensiert seien? Denken Sie daran, daß sie heftigste Feindseligkeit zwischen den Nationen schuf und erhält. Es gibt keinen Muselmann, der nicht vermeinte, einen Gott und dem Propheten gefälligen Dienst damit zu tun. daß er die Christen ausrottete, die ihrerseits nicht etwa toleranter sind. Bedenken Sie, daß die Religion in einem Lande Zwiste hervorgerufen und fortgeführt hat, die selten ohne Blutverlust beigelegt worden sind. Bedenken Sie, daß sie in der Gesellschaft bei Bürgern und Familien, bei Verwandten ewigen und unversöhnlichen Haß hervorgerufen und fortgezeugt hat. Christus hat gesagt, daß er gekommen sei, um den Gatten vom Weib zu trennen, die Mutter von ihren Kindern, den Bruder von seiner Schwester, den Freund vom Freunde, und seine Verkündigung hat sich nur zu gut bewahrheitet.“

— „Dies sind Mißbräuche, aber nicht die Sache selbst.“

— „Die Sache ist es, von der die Mißbräuche unlöslich sind.“

— „Und wie wollen Sie mir beweisen, daß nichts in der Welt diese Mißbräuche beseitigen könnte?“

— „Sehr leicht. Wenn ein Misanthrop beschlossen hat, das Menschengeschlecht unglücklich zu machen, was Besseres hätte er erfinden können als den Glauben an ein unverständliches Wesen, über das die Menschen sich nie haben einigen können und dem sie mehr Bedeutung zugemessen haben als ihrem eigenen Leben r Oder ist es möglich, von dem Begriff einer Gottheit die größte Bedeutung und die tiefste Unbegreiflichkeit zu trennen?“

— „Nein.“

— „Schlußfolgern Sie also.“

— „Ich schließe daraus, daß sie eine Idee ist, die im Gehirn eines Narren nicht ohne Folgen bleiben kann.“

— „Und fügen Sie dazu, daß die Narren immer in der Überzahl waren und sein werden, und daß die gefährlichsten jene sind, die die Religion selbst dazu gemacht hat, und aus denen die Störenfriede der menschlichen Gesellschaft bei Gelegenheit guten Nutzen ziehen werden.“

— „Aber wir brauchen etwas, das den Menschen für seine schlechten Handlungen, die der Strenge des Gesetzes entgehen, bedrohe, und wenn Sie die Religion zerstören, was geben Sie uns zum Ersatz?“

— „Wenn ich auch nichts an ihrer Stelle zu geben wüßte, wäre es immer ein schreckliches Vorurteil weniger und in Betracht zu ziehen, daß die religiösen Meinungen nie als Basis nationaler Sitten gedient haben, weder in irgendeinem Jahrhundert, noch bei irgendeiner Nation. Die Göttei, die von jenen alten Griechen und Römern angebetet wurden, den ehr- lichsten Menschen unter der Sonne, waren die verworfenste Kanaille: Ein Jupiter, der lebendig hätte verbrannt werden müssen; eine Venus, reif für ein Hospital; ein Merkur, den man hätte ins Zuchthaus einsperren müssen.“

— „Und Sie glauben, es sei ganz gleichgültig, ob wir Christen oder Heiden seien? Daß wir als Heiden nicht unwürdiger wären, und als Christen nicht würdiger?“

— „Wahrhaftig, das glaube ich.“

— „Das ist unmöglich.“

— „Aber, Madame, gibt es denn Christen? Ich habe noch nie welche gesehen.“

— „Und mir sagen Sie das ? Mir?“

— „Nein, Madame, nicht Ihnen; einer Nachbarin, die anständig und fromm ist wie Sie und sich gläubigste Christin glaubt, wie Sie.“

— „Und zeigten ihr, daß sie unrecht habe?“

— „In einem Augenblick.“

— „Wie haben Sie das angefangen?“

— „Ich öffnete ein Neues Testament, dessen sie sich oft bedient hatte, denn es war stark abgenutzt. Ich las ihr die Bergpredigt vor, und bei jedem Abschnitt fragte ich sie: , Befolgen Sie dieses, und dies hier, und auch das noch?‘ Ich ging noch weiter. Sie ist schön und, ob sie auch gut und fromm ist, sich dessen bewußt. Sie hat eine sehr weiße Haut, und obwohl sie nicht sehr großen Wert auf diesen vergänglichen Vorzug legt, ist sie nicht böse, wenn man ihr Schmeicheleien darüber sagt. Sie hat den entzückendsten Busen, den man sich denken kann, und obschon sehr bescheiden, gefällt es ihr, daß man dies bemerke.“

— „Vorausgesetzt, daß es nur sie und ihr Mann ist, die das wissen.“

— „Ich glaube, daß ihr Mann es besser weiß als ein anderer, aber für eine Frau, die sich großer Christlichkeit rühmt, genügt das nicht. Ich sagte ihr: ,Steht es nicht im Evangelium geschrieben, daß der, der die Frau eines anderen begehrt, Ehebruch getrieben habe in seinem Herzen?‘“

— „Hat sie Ihnen ,ja‘ geantwortet?“

— „Ich sagte ihr: ,Und der Ehebruch des Gedankens, verdammt er nicht ebenso wie der best beschaffene wirkliche Ehebruch?‘“

— „Hat sie Ihnen wieder ,ja‘ geantwortet?“

— „Ich sagte ihr: ,Und wenn der Mann verdammt wird, des Ehebruches wegen, den er in seinem Herzen begangen hat, was wird das Los der Frau, die alle, die sich ihr nähern, dazu einlädt, dies Verbrechen zu begehen?‘ Diese letzte Frage verwirrte sie.“

— „Ich verstehe; das kam daher, daß sie diesen Busen, der so schön war, als er irgend sein könnte, nicht gerade auffällig verschleierte.“

— „Das ist wahr; sie sagte mir, das wäre so Sitte, wie es genau so Sitte ist, sich Christ oder nicht Christ zu nennen; daß man sich nicht lächerlich kleiden könne, als wenn es irgendeinen Vergleich zwischen einer kleinen Lächerlichkeit, ihrer ewigen Verdammnis und der ihr Nächsten zu machen gäbe; daß ihre Schneiderin sie anzöge, und ob es besser sei, von einer Gewohnheit abzugehen, als seiner Religion zu entsagen; daß es die Laune ihres Mannes sei, da ein Gatte unvernünftig genug sei, von seiner Frau Schamlosigkeit und Pflichtvergessenheit zu verlangen, und daß eine wahre Christin den Gehorsam für einen extravaganten Mann bis zu diesem Opfer des göttlichen Willens treiben müsse, selbst auf die Gefahr der Sühnung durch ihren Erlöser hin.“

— „Ich wußte im voraus alle diese Albernheiten; vielleicht hätte ich sie Ihnen ebenso wie Ihrer Nachbarin gesagt, aber sie und ich wir hätten alle beide in schlechtem Glauben gehandelt. Und welche Partei ergriff sie nach Ihren Vorhaltungen?“

— „Am Morgen nach dieser Unterhaltung, es war ein Festtag, kam ich nach Hause, und meine schöne und fromme Nach- barin ging aus, um sich zur Messe zu begeben.“

— „Wie stets gekleidet?“

— „Wie stets gekleidet; ich lächle, sie lächelt, und wir gehen aneinander vorbei, ohne zu sprechen. Madame! Eine anständige Frau! Eine Christin! Eine Fromme! Welch tatsächlichen Ein- fluß kann ich der Religion aut die Sitten einräumen? Nach diesem und tausend andern Exempeln derselben Gattung: Fast keinen, und es ist besser so.“

— „Wie denn, besser so?“

— „Doch, Madame! Wenn 20000 Einwohner von Paris sich plötzlich einfallen ließen, ihr Benehmen streng nach der Bergpredigt zu richten ...“

— „Nun wohl, dann würden etliche schöne Brüste besser bedeckt werden!“

— „Und es würde so viel Narren geben, daß der Herr Polizeileutnant nicht wüßte, wohin damit, denn unsere Lusthäuser würden nicht dazu genügen. Unsere Lehrbücher kennen zweierlei Moral, die eine, die allen Nationen jeder Glaubensart gemein ist, und die man ungefähr befolgt; und eine andere, die jede Nation und jedes Glaubensbekenntnis für sich hat, an die man glaubt, die man in den Kirchen predigt, die man zu Hause preist und die man auf seine Weise ausübt.“

— „Und woher kommt diese Ungereimtheit?“

— „Daher, daß es unmöglich ist, ein ganzes Volk einer Regel zu unterjochen, die nur für gewisse Melancholiker geeignet und denen sie auf den Charakter geschrieben ist. Es ist mit den Religionen, wie mit monarchischen Konstitutionen, die alle mit der Zeit ihre Spannkraft verlieren; sie sind ein Aberwitz, der der konstanten Triebkraft der Natur, die uns unter ihre Gesetze zurückzwingt, nicht standhalten kann. Man erreichte, daß das Wohl des einzelnen Individuums so eng mit dem der großen Allgemeinheit verknüpft ist, daß der einzelne Bürger kaum imstande wäre, der Gesellschaft zu schaden, ohne sich selbst in Mitleidenschaft zu ziehen; man sichere der Tugend eine Belohnung, wie man der Bosheit eine Strafe gesichert hat; daß ein Verdienst, gleichviel welcher Art es sei, ohne Unterschied der Religion, zu einer hervorragenden Staatsanstellung führe; und man rechne nur mit der geringen Zahl schlechter Menschen, die von einer perversen Natur, die durch nichts gefesselt werden kann, zum Laster getrieben werden. Frau Marschallin, die Versuchung liegt zu nah, und die Hölle ist zu fern; er- warten Sie nichts, das der Mühe lohnte, wenn eine weise Gesetzgebung sich der Religion annähme, eines Systems bizarrer Meinungen, das nur für Kinder Bedeutung hat; das das Ver- brechen dank der Bequemlichkeit seiner Bestrafung unterstützt, das den Schuldigen hinsendet, Gott um Vergebung seines den Menschen zugefügten Unrechtes zu bitten, und das die Grund- lage unsere moralischen und natürlichen Pflichten herabwürdigt, indem es sich einer Ordnung schimärischer Pflichten unterwirft.“

— „Ich verstehe Sie nicht.“

— „Ich will mich erklären; aber da ist, scheint mir, der Wagen mit dem Marschall, der sehr zur rechten Gelegenheit erscheint, um mich zu verhindern, eine Dummheit zu sagen.“

— „Aber sagen Sie sie doch, sagen Sie Ihre Dummheit, ich werde sie nicht hören, ich habe mich daran gewöhnt, nur das zu verstehen, was mir paßt.“ Ich näherte mich ihrem Ohr und sagte ganz leise: „Frau Marschallin, fragen Sie den Vikar Ihrer Gemeinde nach diesen beiden Verbrechen: in ein Weihwasserbecken pissen oder den Ruf einer anständigen Frau schwärzen, was wohl das Schlimmere sei. Das erstere wird ihn vor Entsetzen zittern lassen, er wird gegen dieses Sakrileg seine Stimme erheben, und das Gesetz, das von Verleumdung kaum Notiz nimmt, während es Heiligtumsschändung mit dem Feuertod straft, wird die Geister endgültig verwirren und vernünftige Gedanken zerstören.

— „Ich kenne mich als eine Frau, die sich ein Gewissen daraus machen würde, am Freitag Fleisch zu essen und die . . . beinahe hätte ich nun auch eine Dummheit gesagt; fahren Sie fort.“

— „Aber, gnädige Frau, ich muss unbedingt mit dem Marschall sprechen.“

— „Noch einen Moment, und dann werden wir zusammen zu ihm gehen. Ich weiß nicht ganz, wie ich Ihnen antworten soll, und dennoch überzeugen Sie mich nicht.“

— „Ich habe mir nicht vorgenommen, Sie zu überzeugen. Mit der Religion ist es wie mit der Ehe: die Ehe, die das Unglück Vieler herbeigeführt hat, hat Ihr und des Marschalls Glück ge- macht. Sie haben beide gut daran getan, sich miteinander zu verheiraten. Die Religion, die so viel schlechte Menschen geschaffen hat, schafft und weiter schaffen wird, hat Sie selbst noch edler gemacht, Sie tun gut daran, sie sich zu bewahren. Es ist Ihnen ein süßer Trost, sich an Ihrer Seite, sich zu Ihren Häupten ein erhabenes und mächtiges Wesen zu denken, das Ihr Erdenwallen sieht, und dieser Gedanke festigt Ihren Schritt. Fahren Sie fort, gnädige Frau, sich an dieser göttlichen Bürgschaft Ihrer Gedanken, an diesem Beobachter, diesem überirdischen Vorbild Ihrer eigenen Handlungsweise zu erfreuen.“

— „Ich soll aus dem, was Sie sagen, nicht schließen, daß Sie eine Manie zum Proselytenmachen haben?“

— „Keineswegs.“

— „Desto mehr will ich Sie deshalb schätzen.“

— „Ich erlaube jedem, auf seine eigene Weise zu denken, vorausgesetzt, daß man mir die meine lässt; übrigens haben jene, die geschaffen sind, sich von Vorurteilen frei zu machen, es durchaus nicht nötig, geschulmeistert zu werden.“

— „Glauben Sie, daß der Mensch ohne Aberglauben existieren kann?“

— „Nein, nicht solange er unwissend und furchtsam bleibt.“

— „Wohl denn, Aberglaube für Aberglaube: unserer ist gleichwertig mit irgendeinem anderen.“

— „Ich denke das nicht.“

— „Seien Sie doch ehrlich; stößt Sie der Gedanke, daß Sie nichts mehr nach Ihrem Tode sein werden, denn wirklich nicht ab?“

— „Es würde mir lieber sein zu existieren, obschon ich nicht wüßte, warum ein Wesen, das mich ohne Grund unglücklich werden ließ, sich ein zweites Mal damit vergnügen sollte.“

— „Wenn Ihnen also trotz dieses Nachteils die Hoffnung auf ein anderes Leben süß und köstlich erscheint, warum sich selbst berauben?“

— „Ich trage diese Hoffnung nicht, weil der Wunsch sie keineswegs ihrer Unwirklichkeit entkleidet hat, aber ich nehme sie niemandem; wenn man aber daran glauben könnte, daß man einst ohne Augen sehen, ohne Ohren hören wird, ohne Gehirn denken, ohne Herz lieben, ohne Sinne fühlen wird, nicht mehr zu sein, und doch ohne Raum und Grenze zu existieren, so will ich das zugeben.“ — „Aber wer hat dann diese unsere Welt geschaffen?“

— „Das frage ich Sie zurück.“

— „Und was ist das: ,Gott’?“

— „Ein Geist.“

— „Wenn ein Geist eine Materie schafft, warum sollte eine Materie nicht Geist schaffen können?“

— „Und warum sollte sie das?“

— „Weil ich es jeden Tag erlebe, wie sie es tut. Glauben Sie, daß die Tiere Seelen haben?“

— „Gewiß glaube ich das.“

— „Und könnten Sie mir zum Beispiel sagen, was aus der Seele einer peruanischen Schlange wird, während sie in einem Rauchfang während zweier Jahre aufgehängt und dem Rauche ausgesetzt eintrocknet? Das ist es eben, daß die Frau Marschallin nicht weiß, daß die geräucherte, vertrocknete Schlange in eine neue Existenz übergeht.“

— „Daran glaube ich nicht.“

— „Und dennoch ist es ein geistvoller Mann, der dies behauptet hat.“

— „Ihr geistvoller Mann hat gelogen.“

— „Und wenn er wahr gesprochen hätte?“

— „Ich würde es damit abtun zu glauben, daß Tiere Maschinen sind.“

— „Und der Mensch, der nur ein Tier, doch vollkommener als die anderen ist Aber der Herr Marschall ...“

— „Noch eine Frage, und dies ist die letzte. Sind Sie ganz ohne innere Unruhe bei Ihrem Unglauben?“

— „Niemand könnte ruhiger sein.“

— „Wenn Sie sich aber dennoch täuschten?“

— „Dies erst, wenn ich mich täusche.“

— „Alles, was Sie falsch glauben, würde wahr sein, und Sie, mein Herr Diderot, würden ewig verdammt werden: Es ist schmerzlich, verdammt zu sein; eine ganze Ewigkeit zu brennen, das ist lang!“

— „La Fontaine meinte, daß wir uns wohl wie der Fisch im Wasser dabei fühlen werden.“

— „Gewiß, aber Ihr La Fontaine wurde im letzten Moment recht ernsthaft, und das erwarte ich auch von Ihnen.“

— „Ich stehe für nichts, wenn mein Kopf nicht mehr beisammen sein wird; aber wenn ich an einer jener Krankheiten sterben sollte, die dem Sterbenden noch seine Vernunft bewahren, werde ich in dem Moment, auf den Sie warten, nicht unruhiger sein als in dem augenblicklichen.“

— „Diese Unerschrockenheit bringt mich aus der Fassung.“

— „Ich finde sie vielmehr bei dem Sterbenden, welcher an einen gestrengen Richter glaubt, der noch unsere geheimsten Gedanken abwägt, und in dessen Schätzung sich der gerechteste Mann durch seine Nichtigkeit verlöre, wenn er nicht zitterte, zu gering befunden zu werden, wenn eben dieser Sterbende noch die Wahl hätte, vernichtet zu werden oder sich diesem Richter zu stellen; seine Unerschrockenheit würde mich noch mehr verwirren, wenn er schwankte, das erstere zu erwählen, es sei denn, er sei noch unvernünftiger als der Genosse des heiligen Bruno oder trunkener von seinem eigenen Wert als Bohola.“

— „Ich habe die Geschichte vom Genossen des heiligen Bruno gelesen, aber niemals von Ihrem Bohola sprechen hören.“

— „Das ist ein Jesuit aus dem Kollegium zu Prisch in Litauen, der nach seinem Tode eine silbergefüllte Kassette und ein von seiner Hand geschriebenes Billett hinterließ.“

— „Und dies Billett?“

— „War in folgenden Worten abgefaßt: ,Ich bitte meinen lieben Bruder im Herrn, bei dem ich diese Kassette hinterlege, daß er sie öffne, sobald ich Wunder vollbracht haben werde. Das Geld, das sie enthält, soll die Kosten meiner Seligspre- chung bestreiten; ich habe einige authentische Memoiren beigelegt, die meine Tugenden beweisen sollen und denjenigen, die meinen Lebenslauf etwa beschreiben wollen, nützlich sein werden.‘“

— „Das ist zum Totlachen.“

— „Für mich, gnädige Frau, aber nicht für Sie, denn Ihr Gott versteht keinen Spott. Sie haben recht, Frau Marschallin, es ist leicht, schwerwiegend gegen Ihr Gesetz zu predigen.“

— Das Gesetz ist wahr.“

— „Und wenn Sie die Wunder Ihrer Religion an der geringen Zahl ihrer Erwählten glauben wollen, so wird wenig dabei herauskommen.“

— „Oh, ich bin nicht jansenistisch, ich sehe die Medaille nicht nur von der tröstlichen Kehrseite; in meinen Augen deckt das Blut Jesu Christi einen unendlichen Raum, und es würde mir recht absonderlich erscheinen, daß der Teufel, der seinen Sohn doch nicht dem Tode ausgeliefert hat, dennoch den besseren Anteil haben sollte.“

— „Verdammen Sie Sokrates, Phokion, Aristides, Cato und Mark Aurel?“

— „Pfui, nur wilde Tiere können so etwas denken. Der heilige Paulus sagt, daß jeder nach dem Maß, das er gekannt hat, gerichtet werde.“

— „Und der heilige Paulus hat recht. Und nach welchem Gesetze soll der Zweifler gerichtet werden?“

— „Ihr Fall ist ein wenig anders; Sie sind einer jener verdammten Einwohner Corozains und Bethsaidas, die ihre Augen dem Licht, das ihnen leuchtete, verschlossen und ihre Ohren verstopften, um die Stimme der Wahrheit, die zu ihnen sprach, nicht zu hören.“

— „Frau Marschallin, diese Corozainer und Bethsaider waren Männer, wie sie es vorher noch nie gegeben hatte, wenn sie Herr darüber waren zu glauben oder nicht zu glauben.“

— „Sie lebten als Entartete, die Sack und Asche zur Auktion ausgeboten hätten, wären sie in Tyrus oder Sidon geboren worden.“

— „Das kommt daher, daß die Bewohner von Sidon und Tyrus Leute von Geist waren, und die von Corozain und Bethsaida nur Dummköpfe. Wird derjenige, der Dummköpfe schuf, sie dafür strafen, daß sie dumm gewesen sind? Ich habe Ihnen eben eine Begebenheit erzählt, nun faßt mich die Lust, Ihnen eine Geschichte zu berichten.“

— „Erzählen Sie Ihre Geschichte.“

— „Ein junger Mexikaner . . . aber der Herr Marschall?“

— „Ich werde zu ihm schicken und ihn fragen lassen, ob er zu sprechen ist. Ihr junger Mexikaner?“

— „Seiner Arbeit müde, ging er eines Tages an der Meeresküste spazieren; er erblickte eine Planke, die mit dem einen Ende in das Wasser tauchte, am anderen das Ufer berührte. Er setzte sich auf diese Planke und sagte sich da, während er seinen Blick über die weite Ferne sandte, die sich vor ihm ausbreitete: ,Nichts ist unwahrer als die Geschichte, von der meine Großmutter immer schwatzt, von jenen ich weiß nicht welchen Einwohnern, die, ich weiß nicht zu welchen Zeiten hier, ich weiß nicht wo landeten, von weit her jenseits des Meeres. Es gibt einen gesunden Menschenverstand; sehe ich nicht das Meer sich mit dem Himmel einen? Und kann ich gegen die Zeugen meiner Augen eine alte Fabel, deren Ursprung man nicht kennt, glauben, eine Fabel, die jeder nach seiner Manier auslegt, und die nur ein Gespinst absurder Zufälligkeiten ist, über die sie ihr Herz verzehren und ihre Augen ausreißen?‘ Während er so nachdachte, wiegten ihn die bewegten Wasser auf seiner Planke und er schlummerte ein. Während seines Schlafes schwillt der Wind, die Flut erhebt sich und führt die Planke, auf der er ausgestreckt liegt, mit sich, und unserer junger Denker tritt seine Reise an.“

— „Ach, dies gleicht nur zu sehr unserem eigenen Bilde, ein jeder von uns liegt auf der Planke, der Wind bläst, und die Flut trägt uns davon.“

— „Er war schon weit vom Festland, als er erwachte; wer war sehr erstaunt, sich auf offenem Meer zu sehen? Unser Mexikaner. Wer war es noch mehr? Wieder er, als ihm das Meer, nachdem ihm die Küste, auf der er vor einem Moment spazierte, aus den Augen entschwunden war, sich nun von allen Seiten mit dem Himmel einte. Da argwöhnte er, sich getäuscht zu haben, und daß er, wenn der Wind sich nicht drehte, vielleicht an das Ufer und zu jenen Ansiedlern getragen werden würde, von denen ihm seine Großmutter erzählt hat.“

— „Und von seiner Unruhe sagen Sie mir nichts?“

— „Er fühlte keine; er sagte sich: ,Was ist mir dies alles, vor,ausgesetzt, daß ich lande? Ich habe wie ein Unbesonnener ge-folgert, das gebe ich zu, aber ich war ehrlich gegen mich selbst, und das ist alles, was man von mir verlangen darf. Wenn es keine Tugend ist, Geist zu haben, so ist es kein Laster, ihn zu ent-behren.‘ Unterdessen schwoll der Wind weiter an, der Mann und die Planken schwammen auf den Wogen, und das unbe- kannte Ufer begann zu erscheinen, er faßte Fuß, und da ist er nun.“

— „Wir werden uns eines Tages doch wiedersehen, Herr Diderot.“

— „Ich wünsche es, gnädige Frau; wo es auch immer sei, werde ich stets entzückt sein, Ihnen den Hof zu machen. Kaum hat er das Land betreten und seinen Fuß auf den Strand gesetzt, als er einen würdigen Greis an seiner Seite erblickte; er fragte ihn, wo er sei und mit wem er die Ehre habe. ,Ich bin der Herrscher dieses Landes‘, antwortete der Greis. Der junge Mann stürzte ihm augenblicklich zu Füßen. ,Erheben Sie sich,‘ sagte ihm der Alte, ,Sie haben meine Existenz geleugnet.‘ ,Das ist wahr.‘ ,Ich vergebe Ihnen, weil ich jener bin, der bis auf den geheimsten Grund des Herzens schaut, und ich habe in Ihrem gelesen, daß Sie in gutem Glauben waren, doch was sonst noch in Ihren Gedanken und Handlungen liegt, ist nicht gleichartig rein.‘ Und der Greis, der ihn am Ohr gefaßt hielt, erinnerte ihn an all die Irrungen seines Lebens, und bei jedem Abschnitt neigte sich der Jüngling, schlug sich die Brust und bat um Vergebung. — Und nun, Frau Marschallin, versetzen Sie sich einen Moment an die Stelle des Greises und sagen Sie mir, was Sie getan hätten. Hätten Sie den jungen Unvernünftigen an den Haaren gepackt und hätte es Ihnen gefallen, ihn für alle Ewigkeit daran zu ziehen?“

— „Wahrhaftig, nein.“

— „Und wenn eines Ihrer hübschen Kinder, nachdem es von Hause geflohen und viel dumme Streiche gemacht hätte, reumütig dahin zurück käme?“

— „Ich, ich würde ihm entgegeneilen, würde es in meine Arme schließen und mit meinen Tränen benetzen; aber sein Vater, der Marschall, würde die Sache nicht so leicht nehmen.“

— „Der Herr Marschall ist kein Tiger.“

— „Er muss es wohl.“

— „Er ließe sich vielleicht ein wenig nötigen, aber er würde doch verzeihen.“

— „Gewiß.“

— „Besonders wenn er vorher überlegt hätte, daß er, ehe er dies Kind in die Welt setzte, das ganze Leben kannte, und daß die Bestrafung seiner Sünden weder für sich selbst, noch für den Schuldigen, noch für seine Brüder von irgendeinem Nutzen sein würde.“

— „Der Greis und der Herr Marschall sind zwei verschiedene Wesen.“

— „Wollen Sie damit sagen, daß der Herr Marschall besser ist als der Greis?“

— ,,Gott bewahre mich davor! Ich will sagen, daß, wenn meine Auffassung von Gerechtigkeit nicht die des Marschalls ist, die des Marschalls auch sehr gut von der des Alten abweichen könne.“

— „Ach, gnädige Frau, Sie ahnen nicht die Konsequenzen dieser Antwort: entweder ist die allgemeine Definition der Gerechtigkeit Ihnen, dem Marschall, mir, dem jungen Mexikaner und dem Alten gleichbedeutend, oder ich weiß nicht mehr, was sie ist und wie man letzterem gefallen oder mißfallen könnte.“

Da waren wir angelangt, als man uns benachrichtigte, der Herr Marschall erwarte uns; ich reichte der Frau Marschallin die Hand und sie sagte: ,,Das ist die Tintenflasche, nicht wahr?“

— ,,Das ist die Tintenflasche.“

— „Schließlich ist es am einfachsten, sich so aufzuführen, als ob der Alte existierte.“

— „Selbst wenn man nicht daran glaubt.“

— „Und wenn man daran glaubt, nicht zu sehr mit seiner Barmherzigkeit zu rechnen. Heiliger Nikolas, schwimme immer hin, aber traue nicht zu sehr.“

— „Das ist am sichersten . . . A propos, wenn Sie unseren Gesetzgebern Zeugnis über ihre Prinzipien ablegen sollten, würden Sie sie eingestehen?“

— „Ich würde mein Bestes tun, ihnen eine abscheuliche Hand- lungsweise zu ersparen.“

— „Welch Feigling Sie sind! Und wenn Ihr letztes Stündlein nahte, würden Sie sich den Gebräuchen der Kirche unterwerfen?“

— „Ich würde nicht verfehlen!“

— „Pfui, Sie Heuchler!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.