Rückblick auf das Singvogelleben in der Gesamtheit

Rückblick auf das Singvogelleben in der Gesamtheit


Nach all den Einzelbildern lohnt es, noch einen abschließenden und zusammenfassenden Rückblick auf das Leben des Singvogels in der Gesamtheit zu werfen.


Der Sperber hat im Frühlingswalde übel gehaust. Hier und dort findet man auf bemoostem Baumstumpf die Spuren seiner Tätigkeit, die Federn der von ihm aufgefressenen Singvögel. Aber sieh da, ein Schwanzmeisenpärchen erscheint, und Feder um Feder trägt es in sein nahezu fertiges Nest. Seltsam! Der schlimmste Feind der Singvögel liefert das Federbett für die vielköpfige junge Brut. — Kein böser Bube kommt in diesen stillen Waldwinkel, aber der Häher, der Schlingel, zersaust das eben gebaute Nest und lässt sich die Eierchen wohlschmecken, bis ihm derselbe Sperber das Handwerk legt und seine Federn ins neue Schwanzmeisennest wandern.

Schlimmer als die Feinde aus der Tierwelt geht der Mensch mit der Singvogelwelt um. Der eine Nachbar stellt eine Klappermühle auf, der andere lauert den ganzen Tag mit dem Teschin, um Saatbeete und Bienenstöcke vor wirklichen und vermeintlichen Übergriffen zu schützen. Der andere hält in Überzahl Katzen, der vierte ist ein Katzenfeind, aber er züchtet unbewußt Ratten und Mäuse und durch die vielen Mäuse Steinmarder und Wiesel, und die sind schlimmer als die plumpe Katze hinter den Vögeln her.

Der verständige Vogelfreund wird darum kein Pessimist. Es ist Vogelschicksal, all diesen Gefahren zu trotzen und doch so sorgenlos zu singen, als ob es keine Sperber und keine Häher, keine Katzen und keine Menschen gäbe. Wenn die Nachbarn ungastlich sind, treiben sie uns die willkommenen Gäste zu.

Schlimmer als böse Tiere und böse Menschen ist die Kultur*) für manchen Vogel. Wo man ein Paradies vor ihren Schritten schwinden sieht, könnte man sie hassen. Aber auch da beruht manche Klage auf dem Mangel intimerer Kenntnis und genauer Beobachtung. Mit den weggehauenen Dornbüschen verschwanden die Würger, und die so oft angeklagte intensive Bewirtschaftung des Bodens deckt großen Vogelscharen den Tisch. Es läßt sich auf keinen Fall in Abrede stellen, daß im Winter große Vogelmassen, sogar um fremde vermehrt, nach den Äckern und belebten Straßen, nach den Dörfern und Höfen eilen, um bei den Menschen Nahrung zu finden, während weite Wälder dann öde sind. Man lasse sich nicht durch landläufige Redensarten den Blick trüben. Von einer allgemeinen Abnahme der Singvogelwelt kann gegenwärtig keine Rede sein. Diese Tatsache soll den Eifer, die Singvogelwelt mit allen Mitteln zu hegen, nicht dämpfen, sondern ermutigen, denn es liegt in unsrer Hand, eine Zunahme herbeizuführen**).

Wie schnell füllt — wenigstens bei den nicht geradezu kulturflüchtigen Arten — die Natur die Lücken nach. Wie rasch werden im Nest 5, 6, 8 kalkumhüllte Eiweißtropfen zu kleinen Vögeln, und wie rasch wird aus- dem hilflosen nackten Wesen, das gerade nur mühsam den mit ein paar Bismarckhaaren gezierten Kopf heben und den gelben Mund aufsperren kann, ein flugfähiger, selbständiger Vogel, der es fröhlich mit den Nöten des Lebens aufnimmt, sogar mit den Gefahren einer Afrikareise!

Man mag übertrieben haben, wenn man es als allgemeine Regel aufstellte, die jungen Vögel reisten ohne Begleitung alter Vögel nach dem Süden, aber noch verkehrter ist es, zu meinen, der junge Vogel müsse Zugstraßen, Gesang und Nestbau erst von dem alten Vogel lernen. In der Hauptsache leiten ihn seine Instinkte. So verpönt lange Zeit dies Wort war, es kam wieder zu Ehren, als man lernte, unbefangen zu beobachten und nicht mehr die eigenen menschlichen Empfindungen dem Vogel unbewußt unterzulegen.

*) Hier nur zwei wenig beachtete Tatsachen: Überaus viele Vögel fallen durch die Gifte, mittels derer die Landwirtschaft sich der Mäuse und anderer Schädlinge zu erwehren sucht. Der elektrische Strom der Überlandzentralen tötet an den Masten große Vogelmengen. Ich konnte dem bekannten Vogelschutz-Fachmann Freiherrn von Berlepsch an etwa 30 Masten über 80 Stück tote Vögel, meist Stare und Turmfalken, zeigen. Statt über solche Verluste untätig zu jammern, gilt es, die Sicherung der Drähte zu verbessern, wie es hier erfolgreich geschehen ist, und dann womöglich die Masten zur Aufhängung von Nistkästen zu benutzen, ferner über den Schutz des Saatgutes ohne Gift fleißig die begonnenen Versuche fortzusetzen.

**) Das gediegene Büchlein „Lösung der Vogelschutzfrage“ nach Freiherrn von Berlepsch von Martin Hiesemann (5. Auflage, F. Wagner, Leipzig) ist so bekannt, daß es fast überflüssig ist, darauf hinzuweisen.


Freilich wie das Gefieder sich verschönert und erst im dritten oder gar vierten Kalenderjahr des Vogels vollkommen wird, so reifen die ererbten Instinkte mit ihrem Gebrauch, daher mag mancher sogenannte Stümper im dritten Jahre ein guter Sänger werden. Wie Nachahmung andrer Arten vielfach den Gesang bereichert, so spielt gewiß auch das Lernen von den eigenen Artgenossen neben dem Instinkt eine Rolle. Das ist durch genaue Beobachtungen ermittelt. Aber ein jung dem Nest entnommener Vogel, der nie ein Nest bauen sah, baut allein aus ererbter Gewohnheit in der Gefangenschaft das schönste Nest. Das schließt nicht aus, daß ein alter Vogel, dem zehnmal das Nest zerstört wurde, es besser verstecken lernt und daß der dreimal aus Afrika zurückgekehrte günstigere Aussicht hat, das viertemal heil urückzukehren, als ein Jährling.

Wir haben den unzweifelhaften Beweis, daß manche Arten schon als einjährige Tiere, also in dem Frühling, der auf ihre Geburt bzw. Ausbrütung folgt, selbst erfolgreich zur Brut schreiten und dies sogar im unvollkommenen Jugendgefieder.

Denken im eigentlichen Sinn kann der Vogel nicht. Derselbe Vogel, der durch seine sichere, gewohnte Scheu eine schlau bereitete Falle vermeidet, verhungert vor ungewohnter Nahrung, wenn sein Instinkt schweigt, findet, in ein Zimmer verirrt, oft nicht den gebotenen Ausgang, wenn dieser seinem artgewohnten Verhalten zu Licht und Schatten, der gewissermaßen auswendig gelernten Formel seiner Lebenssitte, widerstreitet. Er flattert sich zu Tode an einem Gitter. Wenn er denken könnte, müßte er die Unmöglichkeit einsehen und einen andern Ausgang suchen. Völlig gedankenlos pickt er Futter vom Schnabel eines toten Kameraden und singt, nachdem eine Katze sein Nest geplündert, fröhlich wie immer sein Lied. Aber ich möchte diese beobachteten Fälle nicht als Regel hinstellen und dem Vogel nicht jede Empfindung absprechen. So wenig der Vogel mit seinem Lied Absichten verbindet, etwa, das Herz des Weibchens zu rühren oder es beim Bruten zu unterhalten oder die Jungen zu lehren, ebensowenig singt er in allen Fällen wie ein Leierkasten. Wo der Gesang nur ein Ausdruck geschlechtlicher Erregung ist, wird er leierkastenartig; ich erinnere an die balzenden Arten, vor allem an die Sperlinge. Nicht nur Lebensfreude und Behagen drückt sich im Gesang aus, sondern Freude an eigenen und fremden Tongebilden oder auch nur am Lärmen, nach Art spielender Kinder.

Das Vogelleben bildet einen jährlichen Kreislauf, den man etwa durch die vier Abschnitte: Mauserzeit, Feistzeit, Oesangszeit, Brutpflegezeit einteilen könnte, in die noch bei vielen Arten die Zugzeiten und die Frühlingsmauser einzureihen wären. Es wird eine recht interessante Aufgabe für künftige Beobachter sein, das Gewicht der einzelnen Arten in den verschiedenen Jahreszeiten und in den einzelnen Wintermonaten zu ermitteln. (Zufällig gefangene Vögel steckt man in ein größeres Briefkouvert, ohne es zu verschließen, und legt sie auf die Briefwage. Der Vogel liegt still, beschädigt sich nicht und kann sofort wieder freigelassen werden.) Im allgemeinen sind die Vögel im Herbst sehr fett, im Winter fett, im Sommer mager. Die überall behauptete Winternot der Vögel ist sicher eine starke Übertreibung, und das Wort: „Euer himmlischer Vater nähret sie doch“ spricht eine tiefere Naturkenntnis aus als das landläufige Mitleid mit dem im Zimmer „durch den Winter gefütterten Vogel“, der sich draußen viel besser nähren würde. Man streue im Sommer regelmäßig Mohnsamen vor einem Fenster auf die Erde, und es wird auch im Sommer an Gästen nicht fehlen.

Daß über Nutzen und Schaden der Vögel zum Teil übertriebene Ansichten herrschen, daß es aber ebenso übertrieben ist, beide völlig in Abrede zu stellen, sei nur kurz erwähnt.

Wie das Vogelleben im Laufe des Jahres wechselt, so wechselt es auch ganz natürlich im Lauf der Jahrzehnte. Was könnte da ein Waldbaum erzählen, der Generationen überragt. Als er gepflanzt wurde, brüteten Heidelerche und Brachpieper an seinem Fuße. Dann verschwanden diese, Baumpieper und Laubvögel zogen in die heranwachsende Schonung. Singdrossel und Braunelle, Misteldrossel und Goldhähnchen kamen und gingen, bis zuletzt Meisen und Stare in dem von Spechten gehöhlten mächtigen Stamm des Überständers brüten oder der Raubvogel das Krähennest in der Krone zum stolzen Horst vergrößert.

Aber im Kopfe des Menschen verdichtet sich das, was sein Gedächtnis aus langen Jahren der Beobachtung in ein Bild zusammenschmilzt, zu der Vorstellung, als seien all die Vögel, die hier in ganz natürlicher Folge mit der zugehörigen Pflanzenwelt und Insektenwelt — ein Miniaturbild der Erdgeschichte — einander ablösten, zugleich dagewesen und als sei die heutige Natur ärmer als die, welche er mit unbesorgten, staunenden Kinderaugen sah. Wenn auch die Ansicht, daß die Zahl der Arten sich im Laufe der Erdgeschichte verringert, richtiger ist als die, daß sie sich vermehrt, so darf man doch diese langsame Änderung nicht mit dem natürlichen Artenwechsel vermengen.

Wo freilich grünes Feld in Straßenpflaster, offener Wasserlauf in unterirdische Röhrenleitung verwandelt wird, da wird Passer domesticus der endgültige Ersatz für Lerche und Bachstelze. Der weicht nicht mehr, und das Entschwundene kehrt nicht wieder, es sei denn, daß man mit Nist-, Futter- und Tränkplätzen die vertriebenen Vorgänger zurückruft. Die Klagen über Naturverödung sind an vielen Orten berechtigt, besonders da, wo sie größere Vogelarten betreffen, daß aber z. B. die Wanderfalken abgenommen hätten, ist ein von Buch zu Buch abgeschriebener Irrtum. Bei vielen Singvogelarten vollends kann, wie schon oben bemerkt, durchaus nicht von einer „erschreckenden allgemeinen Abnahme“ die Rede sein. Meine Beobachtungen ergaben z. B. von der Nachtigall das Gegenteil.

Wem es vergönnt ist, an einem taufeuchten, sonnigen Augustmorgen draußen zu weilen, wenn die Luft erfüllt ist von Vogelstimmen und rings in den Büschen und Bäumen kleine flinke Gestalten sich regen, der vermag es beim besten Willen nicht, sich mit pessimistischen
Klagen die Stimmung zu verderben. Leider wird der Mensch immer hastiger; er findet immer weniger Zeit, die laute und doch immer halbversteckte Welt der gefiederten Sänger zu beachten und sich daran zu freuen. Möge dies Büchlein dazu helfen und anleiten, leere Erholungsstunden zu erfüllen mit erfrischendem Naturgenuß, der immerhin ein wenig dazu beitragen kann, die Seele herauszuheben aus den Sorgen der Gegenwart und der ungesunden pessimistischen Stimmung, für die eigentümlicherweise so viele Tierfreunde eine besondere Schwäche haben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Singvögel der Heimat
Schwarzdrossel, Turdus merula L.

Schwarzdrossel, Turdus merula L.

Singdrossel, Turdus musicus L.

Singdrossel, Turdus musicus L.

Wacholderdrossel, Turdus pilaris L.

Wacholderdrossel, Turdus pilaris L.

Misteldrossel, Turdus viscivorus L.

Misteldrossel, Turdus viscivorus L.

Feldlerche, Alauda arvensis L.

Feldlerche, Alauda arvensis L.

Heidelerche, Lullula arborea (L.)

Heidelerche, Lullula arborea (L.)

Haubenlerche, Galerida cristata (L.)

Haubenlerche, Galerida cristata (L.)

alle Kapitel sehen