Zwölftes Kapitel. Das Grab, Ziel der Nichtigkeit des Lebens. — Bonmot der Königin. — Ich bezahle meine Schulden; — verkaufe ein Landgut. — Mein lächerlicher Streit mit meinem Mutterbruder.

Tragisches Ereignis in der Stadt Mans. — Der Chevalier Dolomieu. — Die Marquisin von Br . . . . — Wohin führt die Liebe? — nicht zum Glück. — Mein Beispiel. — Herr von M a . . . . ein junger Offizier. — Abscheulicher Auftritt. — Meine Meinung darüber. — Gründe für und wider. — Ich reise nach Italien. — Chambery. — Turin. — Die Lombardei. — Mailand. — Erinnerungen aus dem Mailändischen. — Tod meiner Großmutter. — Meine Liebschaft mit der Marquisin von Br . . . . — Erfolg. — Ihr Gatte entdeckt unser Verhältnis. — Sonderbarer Zufall. — Er reist nach Paris, — Seine Gattin stirbt. — Umstände ihrer Krankheit, ihres Todes. — Meine Verzweiflung. — Ihre letzten Worte. — Frau von Fondville. — Herr von Savonnieres. — Beider zärtliche Freundschaft für mich. — Mein Andenken. — Sein Tod. — Gleichgültigkeit des Marquis von B r . . . . — Die Einsamkeit des Weisen. — Kein Trost für mich. — Tod der Frau von Fondville. — Ihre Schilderung. — Ihr und der Marquisin Grab. — Mein Gebet an ihren Gräbern. — Ein kleines Gedicht auf beide.

Chiama gli abitator dell’ombre eterne I
l rauco suon della tartarea tromba;
Treman le spaziose atre caverne,
E l’aer cieco a quel romor rimbomba.
Tasso Cant. IV. St. 3.


Es ruft dem grausen Volk urnächt’ger Klüfte
Der höllischen Posaune heis’rer Ton.
Ihr zittern rings die weiten schwarzen Grüfte;
Des Orkus Nacht rückhallt ihr rauhes Droh’n.
(Uebers. v. Gries.)

Unaufhörlich erschallt die Posaune des Tartarus und ruft die Schatten zusammen, die wir das Menschengeschlecht nennen. Ihren Grabestönen gehorchend, drängen sich die Kinder der Menschen herbei, das neue Reich zu betreten. Hier zerstieben die Träume des Glücks, die Verfolgungen und Tücke des widrigen Schicksals, die Luftblasen des Ruhms, der getäuschten oder befriedigten Ehrsucht, und alle Hirngespinnste, aller Lügentand, der uns von der Wiege zum Grabe, zwischen Thron und Strohhütte in beständigem Lebensschlummer erhielt.

Das also sind die Bedingungen des Daseins, das ist das Ende so vieler Bestrebungen und Gedanken, so vieler Entwürfe, die sich untereinander kreuzten, wie die Wogen des Ozeans! Das also ist der Grenzstein, gegen den der Stolz unserer gebrechlichen Größe anprallt und woran die letzten Triebräder unserer Fähigkeiten sich zerschellen, welche jenes mächtige Ganze – die Seele – bilden! Die Seele, die das Vergangene, das Gegenwärtige, das Zukünftige – der Erinnerung, dem Genusse, den Forschungen des Menschen unterwirft! – Die Seele, dieses zugleich bewundernswerte und beschränkte Wesen, dieses unbegreifliche Uhrwerk, der sich selbst nicht kennt und versteht, und die Stunde schlägt und andeutet, ohne sich’s erklären zu können!! War es wohl der Mühe wert, dem langen Zuge von Menschen – von Luftbildern – sich anzuschließen!?!




In Paris wieder angelangt, war der Entschluß, meine Schulden zu bezahlen, mein erstes, und der Vorsatz, keine neuen zu machen, mein zweites. Die Königin, der ich nach meiner Rückkehr aus England die Ehre hatte aufzuwarten, und die noch einige Gewogenheit (Un reste de bonté) für mich hegte, sprach mit mir über den Zustand meiner Finanzen und setzte scherzend hinzu: „Diese Reise fehlte Ihnen noch. Herr von Lauraguais ging nach England, um, wie er sagte, zu denken (penser). Sie können von sich sagen: Ich bin nach England gereist, um zu verschenken (dépenser).“*) – Man muß gestehen, daß eine Schuld von mehr als sechzigtausend Franken nicht eben für meine Lebensklugheit und meine Wirtschaftlichkeit sprach. Ich nahm mich zusammen und beschäftigte mich ernstlich mit einer großen Maßregel, welche ich mir längst vorgenommen hatte, reiste nach Maine, besprach mich mit einem meiner Verwandten, und schlug ihm vor, eines meiner Güter an sich zu nehmen, dessen Ankauf ihm ebenso gelegen, als es mir war, einen Käufer zu finden. Er wandte ein: ich sei noch nicht volljährig; ich brachte ihm Opfer, die seinem Vorteil schmeichelten; endlich bequemte er sich dazu. Auf diese Weise ward ich meine Schulden los und behielt noch einen Notpfennig übrig, den meine Vernunft mich als einen Schatz ansehen ließ, an dem ich mich nicht vergreifen dürfe.

In jeder Hinsicht war dieses Geldgeschäft für mich ein sehr schlechtes, denn außer dem Verlust, den ich erlitt, führte es einen Umstand herbei und verleitete mich zu einem Schritte, wo das Unrecht ganz auf meiner Seite war und wo die Strafe dem Unrecht auf dem Fuße nachfolgte. Um als Minderjähriger den Kaufkontrakt meines Landguts abschließen zu können, bedurfte ich der Einwilligung meines Oheims mütterlicherseits. Ich hatte sie anfangs nachgesucht, man machte Schwierigkeiten, endlich, der Volljährigkeit nahe und der Zögerungen des Herrn von Chassille müde, suche ich ihn einst auf der Parade auf und frage ihn nach derselben in Gegenwart mehrerer Offiziere, in einem gebietenden Tone, zum dritten und letzten Male: ob er einwilligen wolle oder nicht. Ich legte in diese Frage einen Nachdruck, ein Ungestüm, der für Ungezogenheit gelten konnte, so daß ich mir von Herrn von Chassille die Antwort zuzog: „Nein, mein Herr, nein, zum dritten und letzten Male nein; aber ich ersuche Sie, sich zu mäßigen und nicht zu vergessen, wer und was ich Ihnen bin.“ – Er sprach diese Worte mit funkelnden Augen, hatte die Hand an den Griff seines Degens gelegt und rüttelte nachdrücklich daran. – „Und Sie,“ versetzte ich, „vergessen Sie nicht, wer ich bin, und daß mein Vater Ihrer Schwester die Ehre angetan, ihr seine Hand zu geben.“ – Bei diesen Worten drang er auf mich ein, um mich zu züchtigen. Im Begriff zu ziehen, brachte man uns auseinander. Meine unsinnige Rodomontade, die ich noch jetzt der Vernunft und dem gesunden Menschenverstande abbitte, hat mich um hunderttausend Taler gebracht, und das mit Recht!! Mein Oheim vermählte sich vier Wochen darauf, – für mich eine wohlverdiente Strafe!

*)Wir haben das Wortspiel, so gut es sich tun ließ, wiederzugeben versucht. Uebrigens wird Ludwig XVI. ein besseres in den Mund gelegt. Der Herzog von Orléans (derselbe, von dem oben die Rede war) machte ihm nach seiner Rückkehr aus London die Aufwartung. Der König fragt: „Weswegen sind Sie nach England gegangen?“ – „Sire,“ versetzt der Herzog, „um denken zu lernen (pour apprendre à penser).“ Der König stellt sich, als verstehe er panser, und setzt hinzu: „Les cheveaux?“ ( Panser un cheval heißt ein Pferd warten.) Der Vorwurf war um so treffender, da der Herzog bloß der Pferde und der Wettrennen wegen nach England gereist war. Uebers

Ich hielt mich noch eine lange Zeit in Mans auf. Damals ward diese Stadt der Schauplatz eines tragischen Ereignisses, das sich um so tiefer meinem Gedächtnisse eingeprägt hat, als ich in der Folge die unglückliche Heldin des Trauerspiels mit abgöttischer Liebe verehrt habe. Der Vorfall gehört zu denen, welche je mehr und mehr abmahnen, den Geschichtsschreibern Glauben zu schenken, da selbst Tatsachen, die sich vor unseren Augen zugetragen haben, sich in Dunkel hüllen und der Forschung entgehen. Ferner ist diese Begebenheit geeignet, uns in der Meinung zu bestärken, daß man auf nichts, nicht einmal auf die innigste Herzensneigung und Treue, einen Wert legen darf. Es gibt Umstände, welche über die Wirklichkeit der zärtlichsten Gefühle, über den Wert derselben, über die Verbindlichkeit der Gegenliebe Zweifel in der Seele zurücklassen.

Ein Mann von vielem Verstande und der für ein Original galt, ein Mann, dessen oberflächliche Kenntnisse ihm den Ruf eines wissenschaftlich Unterrichteten zugezogen hatten, ein Mann, der über alles sprechen konnte, über alles sprach und anders sprach als andere; – dieser Mann hatte mit einem nicht einnehmenden Gesicht und seinen sechsunddreißig Jahren das Herz einer reizenden Frau von zwanzig erobert, deren Jugend das kleinste ihrer Verdienste war. Es war der Chevalier von Dolomieu, ein jüngerer Bruder des berühmten Geologen und Mineralogen. Er war auf einige Monate nach dem Dauphiné gereist und hatte sich wider Willen vom Gegenstande seiner Liebe entfernt, einer Liebe, deren Geheimnis er mir, weniger im Uebermaß der Eitelkeit, als im Erguß der Freundschaft*) vertraut hatte, denn das sind die beiden gewöhnlichen Quellen, welche dergleichen Geheimnisse verraten. Herr von Dolomieu stand bei einem Dragonerregiment in Mans. Ein Offizier des Regiments, ein bildschöner Mann, ein Mann ohne Grundsätze und Pflichtgefühl gegen sein Geschlecht, keck und zuversichtlich bei den Schönen, fand die Gelegenheit erwünscht und hielt sich für berechtigt, eine unbesetzte Stelle einzunehmen. Er hatte gerade den Ton, dem es gelingt, zu gefallen, sobald er nicht empört, und besaß alle Mittel, die für die Sinnlichkeit anlockend und für die Tugend gefährlich sind. Unterlag die Marquise von Br..., oder zog sie sich triumphierend aus dem Kampfe? Nie hat man es erfahren, ein ganzes Jahr des vertrautesten Umgangs hat es mir nicht entdeckt, so sehr ich auch, angespornt von Eifersucht und Neugier, alles aufbot, in ein Geheimnis einzudringen, das der gemeinen Klasse der Liebhaber ziemlich gleichgültig ist. Ich meinesteils bin jederzeit der Meinung gewesen, es sei wichtig, überaus wichtig, seine Geliebte kennen und würdigen zu lernen, den Wert ihres Herzens aus ihren früheren Neigungen abzumessen, in diesem Herzen den Grad der Liebe und vor allem der Achtung zu lesen, die man ihr schuldig ist, in ihren älteren Verbindungen den Grund des Vertrauens zu finden, das ihre gegenwärtige Empfindung verdient und durch Vergleichungen mit den früheren Verhältnissen auf die Natur des gegenwärtigen zu schließen.

Sollte diese Bemerkung Männern auffallen und ihnen für gezierten Unsinn (Un galimatias précieux) gelten, – so würde ich dazu lächeln. Sollten Frauen so urteilen, so würde es mir leid um sie tun. Ich weiß es nur zu gut: die Liebe ist für wenige eine wichtige Angelegenheit, nur wenige machen so viel Umstände damit. Die meisten fühlen sich glücklich, wenn sie einem leichten Vergnügen nachjagen, wenn sie Rosen ohne Dornen brechen, sie wollen das Leben genießen, nicht es zergliedern: sie wollen die Liebe kosten, ohne sie im Brennkolben der Nachforschungen verdunsten und ihre Blumen im Hohlspiegel der Reflexion verdorren zu lassen.

*) (moins) Par un excès de vanité Que par un excès de tendresse.

Mir ist dieses Glück nicht geworden. Ich habe mich und mein Leben dem schönen Geschlechte gewidmet. Zwar suchte ich in dieser Laufbahn nicht diejenige Achtung, die man selten erhält und über deren Mangel man sich trösten kann, wenn man sich nur nicht selbst verachtet; ich suchte das Glück, oder, da es nicht auf Erden zu finden ist, den Schatten des Glücks, aber auch diesen habe ich nicht gefunden. Meine schönsten Jahre habe ich verloren; die Qualen einer zu reizbaren, zu zartorganisierten Phantasie, haben die Blüten meiner Jugend abgestreift. ... Mit einem Worte, ich habe zuviel verlangt (Je fus trop difficile). Ich verzehre mich in meinen Wünschen, meinen Anforderungen, in dem ewigen Mißtrauen, das mein Herz in das Herz anderer setzte, in den ewigen Stürmen einer unruhigen, nie befriedigten Empfindung, die ein Nichts aufregen und vieles nicht beschwichtigen kann; ich klagte beständig über die Liebe, und doch war Liebe fast meine einzige Beschäftigung; ich fand nie, daß sie hielt, was ich mir von ihr versprochen hatte; ich zitterte immer, sie möchte mir wieder entreißen, was sie mir gewährt hatte. In meinen liebsten Herzensangelegenheiten bin ich nie zur Ruhe gelangt, habe ich immer wider Willen mich selbst, immer wider Willen den Gegenstand meiner Liebe gequält. Seltsamer Kontrast! Und doch hat er seinen Reiz! Eben weil man weniger Liebe verdient, erhält man mehr, eben weil man mehr Tränen vergossen hat als andere, ist man, in gewissem Sinne, glücklicher gewesen als sie.

Liebe! – ernste Schellenklapper der großen Kinder!

Gleichgültigkeit! – eiserner Schlaf der Herzlosen!

Das längste Leben! – ein kurzer Lügentraum!

Jener junge Offizier, von dem ich abgekommen bin, weil es mir unmöglich ist, zu schreiben, ohne mit und aus meinem Herzen zu schwatzen – hieß Herr von Ma... Er war in seiner Provinz zu einer Art von Berühmtheit gelangt, die er sieh durch eine reizbare Bravour, durch glückliche Liebesabenteuer, wie man sie in den Garnisonen zu haben pflegt und durch einen starken und kernhaften Körperbau erworben hatte, der sie ihn überall würde haben finden lassen, wenn seine Erziehung vollendet und sein Geist ganz ausgebildet gewesen wäre.

Eines Abends, als er mit seinen Chefs und den Vornehmen des Ortes bei der Marquise von Br... gespeist hatte, verbarg er sich, als die Gesellschaft aufbrach, hinter einem Schirm im Hausflur. Als er glaubte, daß alles zur Ruhe sei, die Dame und ihre Leute, schlich er sich an das Schlafgemach der ersteren und versuchte die Tür zu öffnen, zu der er einen Schlüssel hatte. Allein er fand sie von innen verriegelt. Nun flehte er um Einlaß und beschwor die Dame, im Namen ihrer Liebe, aufzumachen. Mit Unwillen und Verachtung abgewiesen, änderte er seinen Ton, berief sich auf Versprechungen, auf heilige Rechte, die er habe, und schloß mit unwürdigen Beleidigungen und Vorwürfen. Zugleich behauptete er: sie sei mit einem begünstigten Rival eingeschlossen, und vermaß sich, er werde an beiden, an ihr und ihm, auf eine Weise Rache nehmen, die für Meineidige und Eindringlinge eine furchtbare Lehre sein sollte. – Wütend riß Frau von Br... das Fenster auf und rief ihre Leute herbei. Verwirrung und Skandal stiegen aufs höchste. Der Haushofmeister und der Kutscher versuchten, sich der Person des Herrn von Ma... zu bemächtigen. Allein er zog den Degen und wehrte sich wie ein Rasender. Es kam noch mehr Gesinde dazu, er ward überwältigt, sein Degen zerbrochen, er selbst gemißhandelt, obschon die Beleidigte rief: man solle ihn schonen. In diesem Zustande wurde er um zwei Uhr in der Nacht auf die Straße gestoßen. Hier sammelte sich, durch den Lärm, das Geschrei, die Flüche herbeigezogen, Gesindel aller Art und eine Menge Nachtschwärmer aus den niederen Klassen. Vor ihnen stieß der Offizier die ungeheuersten Abscheulichkeiten aus, und warf zuletzt noch einen Schlüssel durch das Gittertor, mit dem Beifügen: es sei der Schlüssel zur Schlafkammer der Dame; sie habe ihm denselben selbst zu einer glücklicheren Zeit und in der Abwesenheit seines Rivals (des Ritters von Dolomieu), gegeben, der erst vor zwei Tagen zurückgekommen war.

Außer sich vor Verzweiflung, kleidet sich die Marquise an, wirft sich in den Wagen und eilt zum Regimentschef, der zwar mit dergleichen Händeln vertraut und seinem Dünkel nach ein Held darin, Spott damit zu treiben und sie als Kleinigkeiten anzusehen pflegte – dieses Mal aber, als Verwandter der Dame, die Sache ernsthaft nahm, ihrer Klage aufmerksam zuhörte, von ihren Tränen gerührt wurde, und ihr einen schnellen und der Verwegenheit und Größe der Beleidigung auf alle Fälle angemessenen Rechtsspruch verhieß. Augenblicklich schickte er einen Unteroffizier und einige Gemeine ab, die sich des jungen Wüterichs bemächtigen sollten, der mit Gewalt das Schlafzimmer von Frauen stürme, die nie sein waren, oder es nicht länger sein wollen, denn beides ist für einen Galanthomme ein und dasselbe. Er ließ ihn in das Verließ eines Klosters bringen, bis er dem Minister Bericht abgestattet, und dieser über sein Schicksal verfügt haben könne. Aber der unsinnige Kraftmann, der wohl voraussah, daß ihm als geringste Strafe die Kassation bevorstand, ließ halb aus Verzweiflung, halb aus Leidenschaft, zwei seiner Kameraden rufen, beteuerte auf Ehre, daß er berechtigt gewesen sei, den Liebesverrat zu rächen, und jagte sich zwei Kugeln durchs Herz. Er lebte noch sechs Stunden unter unsäglichen Schmerzen und flehte seine Freunde vergebens um Abkürzung derselben an.

Frau von Br... hatte inzwischen an ihren damals abwesenden Gatten einen Kurier abgefertigt. Sobald dieser die Nachricht des Vorganges erhalten hatte, machte er sich auf den Weg und eilte, die Wut im Herzen, um die Ehre seiner Gattin (ob mit Recht oder Unrecht?) zu rächen.

Weniger war er seiner eigenen nicht schuldig. Aber er machte sich vergebliche Kosten, denn als er aus dem Wagen stieg, lag derjenige, dem er das Leben hätte rauben, oder das seinige preisgeben müssen, auf der Bahre. – Dieser Ausgang mochte dem Gatten wohl eben nicht ganz unangenehm sein, wenigstens nicht unangenehmer als der andere.

Der Chevalier von Dolomieu, still und verschlossen, ruhig und unbefangen, ließ sich von allen Umständen einer Affäre unterrichten, deren Hauptgegenstand und Hauptzeuge er selbst gewesen sein sollte, und schien nichts davon verstehen zu wollen. Der Marquis von Br... ergriff die Partei seiner Gemahlin mit der unerschrockenen Festigkeit und Beharrlichkeit eines Mannes, der dem Publikum die Stirn bietet, und an die Tugend glaubt; er vertrat die Ehre seiner Gattin gegen die Meinung der wider sie aufgebrachten Provinz, die, sich nicht mit einer Leiche begnügend, noch zwei andere Opfer verlangte. Er trocknete ihre Tränen und gab ihr den Mut, ihre Unschuld an den Tag zu legen, oder den noch größeren, die Unschuldige zu spielen.

War sie es? War sie es nicht?

Verdiente sie, auch unter der schlimmsten Voraussetzung, den unaufhaltsamen Strom der Verleumdung, den ich gegen sie losbrechen sah, als ich, noch jung aber mutvoll, es unternahm, meine Stimme für sie zu erheben; als ich es wagte, auf ihre Seite zu treten und mir ein Recht auf ihre Dankbarkeit erwarb, die sich später in Liebe verwandelte?

Verdiente Herr von Ma..., selbst in dem günstigsten Fall, das allgemeine Mitleiden, das er in der ganzen Provinz und bei den vielen Personen von Rang, Reichtum und Ansehen fand, welche sie zählte?

Es scheint mir nicht wahrscheinlich, daß eine Frau, welche ihren Liebhaber in seiner Abwesenheit verraten hat – schon das ist ein großer Fehler, sich von dem Gegenstand seiner Liebe zu entfernen, (S. Voltaires Pucelle. Ch. IV. im Eingange.) – um die Zeit, wo sie ihn zurückerwartet, nicht alles anwenden sollte, sich von dem Stellvertreter, den sie ihm gegeben, loszumachen, und diesem einen anvertrauten Schlüssel wieder anzufordern, – es ist unwahrscheinlich, daß sie einen solchen Anstoß geben, einen ärgerlichen Auftritt veranlassen, ihre Leute zum Schutz ihrer Ehre zusammenrufen und nicht lieber versuchen werde, den Edelmut zweier Männer anzurufen, und (wenn sie nicht beide betrügen kann) sich und ihre Ehre nicht lieber beiden preiszugeben, als ihren eigenen Leuten und einer ganzen Stadt? Es scheint mir nicht wahrscheinlich, daß eine junge Frau, die noch keinen Beweis von Sittenlosigkeit gegeben, mit solcher Kraftäußerung zu Werke gehen, einen Unverschämten aus dem Hause werfen lassen, eine öffentliche Klage gegen ihn erheben werde, wo ihr Ruf, ihre Unschuld, und die gute Meinung des Publikums hinreichend waren, sie über jeden Verdacht hinauszusetzen.

Es scheint mir nicht wahrscheinlich, daß sie, über den Verlust ihres guten Mannes untröstlich, sich nur gleichgültig bei dem Tod desjenigen gezeigt haben sollte, von dem sie behauptete, „er habe sich selbst bestraft“; – daß sie sich nicht verraten haben sollte, wenn er je ihrem Herzen teuer war; – daß ihr nie ein Wort, ein Blick, eine Bewegung entfahren sein sollte; – daß ich, über ein Jahr im Besitz ihrer Zärtlichkeit, von ihr nie etwas anderes hätte erhalten sollen, als das beharrlichste Ableugnen dieser doppelten Verbindung.

Ist es wohl wahrscheinlich, daß, wenn ein vertrauter Umgang mit Herrn von Ma... stattgefunden und sogar einige Monate gedauert hätte, keine Spur von Verdacht im Hause, in der Stadt, auf einem so beschränkten Schauplatz, wo aller Augen auf eine Frau von ihrem Stande gerichtet sein mußten, entstanden wäre, zumal bei der bekannten Lebhaftigkeit Und Petulanz des jungen Mannes, bei dem Rufe, worin er stand, kein Geheimnis bewahren zu können? Wie wäre es möglich gewesen, sei’s von seinen Freunden, sei’s von ihren Frauen und übrigem Gesinde, bei allen von anderen (und besonders von mir) angestellten Nachforschungen kein Anzeichen, keine Entdeckung, keinen Beweis auftreiben zu können?

Ist es wahrscheinlich, daß bei ihrem Tode, dessen Zeuge, dessen unwillkürliches Werkzeug ich gewesen bin, eine so sanfte, so bängliche Frau sich dem Schlummer der Unschuld hingegeben und kein Wort gesprochen haben sollte, welches ein so drückendes Geheimnis von ihrem Herzen lösen, oder einigermaßen zur Entsündigung ihrer letzten Augenblicke hätte dienen können?

Ich muß jeden aufrichtig bedauern, dem dieser letzte Beweis unvollständig oder gar lächerlich scheinen sollte.

Das ist die eine Seite der Frage.

Ich lasse die andere folgen.

Ist es wahrscheinlich, daß sich ein Mann in einen Abgrund von unglücklichen, unabsehbaren und doch vorauszusehenden Folgen gestürzt haben würde, wenn er nicht ein Recht zu haben geglaubt, ihnen zu trotzen, wenn er nicht frühere Begünstigungen zum Vorwande und darauf sich gründende Wünsche und Begierden zur Entschuldigung gehabt hätte? Ist es wahrscheinlich, daß er, in so viele andere Liebesabenteuer verwickelt, sich an eine Frau gewendet haben würde, der es, in ihrer Lage, in ihren Umständen und Verhältnissen, so leicht war, ihn von Grund aus zu verderben, und von der er am meisten befürchten mußte, ihr Widerstand werde durch das daraus entstehende Aufsehen seiner Eitelkeit den Todesstreich versetzen? Ist es wahrscheinlich, daß er darauf bestanden haben würde, in ein Schlafzimmer einzudringen, dessen Tür ihm keine Rechte aufschlössen; daß er hinter den Riegeln einen Rival sich gedacht und ohne allen Grund sich einem Manne gegenübergestellt haben würde, mit dem er nichts auszumachen gehabt hätte?

Ist es wahrscheinlich, daß ihn ein eingebildetes Unrecht, daß ihn vermeintliche Beleidigungen in eine so plötzliche, so blinde Wut versetzt haben sollten, ihn dergestalt aller Besinnung, aller Beobachtung der Schicklichkeit beraubt, – ihn vermocht haben sollten, der Dienerschaft eines ganzen Hauses einen löwenartigen Widerstand entgegenzusetzen, der, wenn er nicht überwältigt worden wäre, ihm nicht sowohl zum Siege, als zur Schande anzurechnen war? Ist es wahrscheinlich, daß er sich in den Ausfällen einer grundlosen Wut so weit vergessen haben sollte, eine Frau, von deren Unschuld und Tugend er die Ueberzeugung gehabt hätte, öffentlich zu beschimpfen und zu entehren, – daß er ihr einen heimlich entwendeten Schlüssel auf eine schändende Weise (Avec infamie) zurückgeworfen hätte, wenn er es nicht aus Wut, ihn nicht gebrauchen zu können, getan hätte? – Ist es wahrscheinlich, daß er beim Fortgehen die, die ihm nichts schuldig war, und den, der ihn nicht beleidigt hatte, mit dem Uebermaß seiner Rache bedroht haben würde?

Ist es endlich wohl wahrscheinlich, wenn er zwei Freunde kommen läßt, wenn er die Rechtmäßigkeit seiner Raserei mit blutigen Tränen beteuert; wenn er Briefe verbrennt, von denen er schwört, sie seien von seiner Ungetreuen; wenn er sich zwei Kugeln durch das Herz jagt und bis zum letzten Atemzug bei der Wahrheit seiner Aussagen beharrt – ist es dann wohl wahrscheinlich, daß alles Wut, Wahn und Lüge sei?

Hier hat man die andere Seite.

Ueber beiden schwebt ein undurchdringliches Dunkel.

Verdiente aber die Marquise von Br..., wenn sie nur einen Anbeter gehabt, wenn sie ihm treu geblieben, die Verachtung, womit man sie belegt hat? Ich will noch mehr sagen: ... verdient sie, auch in dem Fall, wo sie, der Schuld einer doppelten Schwäche sich bewußt, den zweiten Liebhaber nicht ferner sehen will und zur ersten Wahl zurückkehrt, den allgemeinen Haß ohne alle Einschränkung?

Verdiente der Mann so überschwengliches Bedauern, der unter der ersten Voraussetzung ein Ungeheuer, unter der zweiten ein Wüterich ist? Doch die Welt nimmt es nicht so genau, sie spricht die Toten frei, um die Lebenden desto strenger zu verdammen. Sie lobt mit aller Langsamkeit der Reflexion, sie billigt nur mit Parenthesen und Einschränkungen; tadelt aber ohne Schonung und verdammt mit der Blitzesschnelle des Instinkts.

Die Marquise von Br... erhob sich wieder, sie und ihre Familie boten dem Ungewitter die Stirn, sie hielt ein gutes Haus, man knüpfte die Beziehungen wieder an, wäre sie von geringem Stande und ohne Vermögen gewesen, so würde man sie ein für alle mal verstoßen haben. Ich riet ihr, nach Paris zu reisen. In diesem Abgrund (sagte ich ihr), wo die Geschichten, welche in der Provinz zu Klatschereien Anlaß geben, augenblicklich verschwinden, werde sich auch die ihrige verlieren.

Sie folgte meinem Rat.

Schon damals hatte sie mir eine lebhafte Leidenschaft eingeflößt, die ich ihr aber in ihrer Lage zu entdecken Bedenken trug. Sie wußte es mir Dank. Später wurde mein bescheidenes Schweigen belohnt.

Italien zu bereisen, war seit meiner ersten Jugend einer meiner Lieblingswünsche gewesen. Ich gab ihm Gehör, und ohne außerordentliche Ereignisse kam ich am ersten Februar 17.. in Lyon an, und befand mich, ich weiß selbst nicht wie? in dieser volkreichen, blühenden Handelsstadt, die späterhin, nachdem die Revolution sie in Trümmer gestürzt, durch die Wohltaten der neuen Regierung wieder aufgerichtet worden ist.

Ich sah nichts Merkwürdiges in dem kleinen Chambéry. Es zählt höchstens zehntausend Seelen. Das einzige Bemerkenswerte ist, daß der König Victor Amadeus II. nach seiner Abdankung und Vermählung mit Frau von Saint-Sébastian im Jahre 1730 seinen Aufenthalt daselbst genommen und dann noch bis 1732 daselbst gelebt hat. Auf dem Wege nach Turin ist der Anblick der vielen Kröpfe widerlich, die in Savoyen einheimisch zu sein scheinen. Desto freudiger ruht das Auge auf Turin, desto lieblicher ist der Anblick dieser prächtigen, regelmäßigen Stadt mit ihren im rechten Winkel durchschnittenen Straßen am Po. Die schönste dieser Straßen – eine der schönsten in Europa – führt den Namen des Flusses. Die Geißel Gottes, der wilde Attila, zerstörte Taurinum von Grund aus im Jahre 405. Die Stadt zählt heute 80000 Einwohner. Sie gehört dem Hause Savoyen seit 1278, ist dreimal von den Franzosen erobert worden, das erstemal vom ritterlichen König Franz I., das zweite im Jahre 1640, das dritte und letztemal im Revolutionskriege, der sie auf ewige Zeiten und unwiderruflich(!) dem französischen Reiche einverleibt hat.

Obschon der königliche Palast einer der schönsten in Italien ist und sich ebenso sehr durch Geschmack als durch Pracht auszeichnet, so enthält er doch wenig Sehenswertes. Das Schauspielhaus ist als eines der größten und schönsten berühmt, und die Zitadelle ein Meisterstück und Wunder der Kunst.

Mein kurzer Aufenthalt in Turin setzte mich nicht in den Stand, über die gesellschaftlichen Gebräuche ein festes Urteil zu sprechen; so viel ich gesehen und bemerkt habe, herrschte in den höheren Ständen ein edler und anständiger Ton. Der Hof ging mit dem besten Beispiel voran und teilte seine Sitten einem aufgeklärten, aufgeweckten Volke mit, das sich zu dem vom Souverän aufgestellten Muster von Würde, Ernst und Größe hingezogen fühlte.

Das schöne Geschlecht ist hier im allgemeinen von der Natur sehr begünstigt und scheint es zu wissen.

Der Weg von Turin nach Mailand führt durch die schönsten Gegenden und ist mit einer unzähligen Menge heiterer Landhäuser besetzt. Die unvergleichliche Ebene der Lombardei bietet ein einziges Schauspiel dar. Eine freundliche Stadt folgt auf die andere, schließt sich der andern an, nur könnten die Wirtshäuser einladender sein. Mailand, Italiens dritte Stadt an Rang und Größe, zählt über 150000 Einwohner. Ihre Schicksale sind bekannt. Die Annalen der Geschichte der Reiche und Städte sind, wie die Geschichte des Menschengeschlechts überhaupt, eine lange Folge von Unglücksfällen, von Torheiten, von Grausamkeiten aller Art. So wurde auch Mailand um die Mitte des zwölften Jahrhunderts von Grund aus zerstört. Der Pflug zog über den Boden hin, auf dem es gestanden hatte, man bestreute ihn mit unfruchtbarem Salze. Wie können Sieger mit solcher Barbarei verfahren! Wie schnell können aber auch Besiegte sich erholen, und durch Kunstfleiß die Spuren der Verheerung tilgen! Wie weit hat es der Mensch auf beiden Seiten gebracht, alles vernichtend, und alles – außer sich selbst – wieder herstellend!

Da liegt es vor meinen Augen, das schöne Mailand, die kurze Eroberung Franz’ I., die ewige Wunde in Frankreichs Geschichte seit der Schlacht von Pavia, wo die Blüte des französischen Adels fiel, wo der gefangene König nur dadurch wieder zur Freiheit gelangte, daß er einen Eid brach, dessen Inhalt ihn beinahe vom Meineid losspricht. Unglückselige Schlacht, die dem Hause Oesterreich ein Land erwarb, dessen Lorbeeren wir mit unserm Blute bespritzt hatten!

Mailand hat eine Menge Denkmäler, der Ansicht und Aufmerksamkeit der Reisenden würdig. Der Kanal, der die Stadt mit der Adda verbindet, ist die Hauptquelle der Fruchtbarkeit ihres Bodens. Die öffentlichen und Privatsammlungen von Kunstwerken zeichnen sich besonders durch schöne Originalgemälde aus. Der Adel, dem eine angeborene Höflichkeit eigen ist, zeigt sich glänzend und prächtig in der Gastfreiheit. Die Frauen (denn von diesen muß immer und überall die Rede sein) sind reich an Reizen und Bildung.

Wem fällt unter dem Himmel von Mailand nicht Gaston von Foix, der glänzende Held, Neffe Ludwigs XII., Gouverneur des Herzogtums, ein? Wer bedauert nicht seinen frühzeitigen Tod, im 24. Jahre des Lebens, in den Armen des Sieges, und sein Grab, in das er einen Ruhm mit sich hinab nahm, der gewöhnlich nur den Krieger belohnt, dessen Haar eine lange Reihe von Feldzügen gebleicht hat.

In Mailand erhielt ich ein Schreiben, das mich mit einem Male in dem Laufe meiner vorgehabten klassischen Reise aufhielt, und mich nötigte, ebenso schnell nach Frankreich zurückzukehren, als ich es verlassen hatte. Der Umstand, der mich rief, war der Tod meiner Großmutter mütterlicher Seite. Ihr Verlust schmerzte mich, obschon er mir ein ziemliches Erbe einbrachte. Ich eilte nach Maine, brachte meine Angelegenheiten in Ordnung, und wäre reich genug gewesen, wäre ich nur weise genug gewesen, meinen Reichtum zu benutzen. In Mans traf ich die Marquise von Br... wieder an, deren Reize und deren Unglück einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hatten; ich fand sie noch traurig, aber trostesfähig (Consolable). Noch mehr, ich fand sie frisch wie die Gartenblumen, und in ihren Zügen einen Ausdruck von Tiefgefühl und Melancholie – zwei Reize, denen ich nie habe widerstehen können. Sie wußte, wie lebhaft ich mich ihrer angenommen hatte; ich liebte sie zu sehr, um daran zu denken, sie liebte mich genug, sich dessen zu erinnern.

Aus dieser Sympathie entstand, was daraus entstehen mußte. Ehezwiste nahmen die Stelle der früheren Einigkeit ein, das Publikum erlaubte sich schmähende Aeußerungen und Reden, wir gewöhnten uns daran, verachteten sie, und da wir dagegen gleichgültig blieben, fielen die Gerüchte in ihr Nichts zurück. Eine übergroße Empfindlichkeit gibt der Verleumdung den ersten Zunder, die erste Nahrung, und den Lästerzungen Gewicht und Nachdruck.

Es verging einige Zeit, ehe der Marquis, um dessen Freundschaft ich mich bemüht hatte, hinreichende Beweise sammeln konnte, loszubrechen, und einen Skandal zu erregen, der zu nichts hilft, wenn er zu spät kommt. Er war ein Mann von Ehre, der mit dem Hofe zerfallen war, weil er Ursache zu haben glaubte, sich ?ber ihn zu beschweren. Der einzige Grund seiner Klage bestand darin, daß der Hof für seinen Oheim zuviel, folglich für den Neffen zu wenig getan habe. Unter allen Sonderbarkeiten des alten französischen Adels war diese eine der auffallendsten und bizarrsten, daß er die Hofgunst für ein Familieneigentum hielt. Der Marquis, von dem hier die Rede ist, war solch ein Sonderling und Trotzer im kleinen (En miniature), er hatte einige Ansprüche auf Beförderung, die er aber außerordentlich übertrieb, und auf die man nicht Rücksicht genommen hatte, weil er nichts Glänzendes an sich hatte und in der Intrige nicht bewandert war. Später tröstete er sich damit, daß er schnell zur Revolution überging, das heißt, „um den Schmerz zu vertreiben, sich mit Ruten streichen“. (Vouloir se distraire avec des verges.) Er hatte seine Gattin grenzenlos geliebt; ihm war diese Liebe mit Freundschaft und Achtung erwidert worden. Die Herzensbande ließen seinerseits nach, die Gewißheit, daß ich vorgezogen wurde, zerrissen sie vollends. Die Art, wie er den Beweis einer Sache erhielt, die er lieber nicht hätte erfahren sollen, ist zu sonderbar, um sie nicht ausführlich zu erzählen.

Im Schauspielhause zu Mans war, was man in der Provinz eine Redoute nennt, veranstaltet worden, – ein Maskenball, wenn man will, ein Opernball. Ich speiste zu Abend beim Marquis. Die Gesellschaft beschloß, bis auf wenige Ausnahmen, auf den Ball zu gehen. Hr. von Br... entschuldigte sich: er fühle sich ermüdet, wolle sich schlafen legen, und wünsche uns viel Vergnügen. Aber anstatt Wort zu halten, warf er einen Domino um, nahm eine Maske vor, ging auf den Ball und erkannte uns, seine Gemahlin und mich, mit leichter Mühe. Wir waren erst eine Zeitlang im Saal umhergeschlendert, hatten uns dann auf eine Bank gesetzt, und waren in einer lebhaften Unterredung begriffen, welcher die Liebe das Hauptthema lieferte. Eine Maske folgte uns, etwas sehr Gewöhnliches! Sie setzt sich neben uns, gleichfalls sehr gewöhnlich! Sie sitzt aber bewegungslos da. Ist sie tot? Nein, sie schläft, und hat ohne Umstände den Kopf auf meine Schulter gelehnt. Der Spaß fing an, mir lästig zu werden. Nach einigen Minuten stoße ich den Schläfer sanft an, und ersuche ihn, mich nicht länger für sein Kopfkissen zu halten. Er stammelt mit angenommener weiblicher Stimme einige Entschuldigungen, fällt aber gleich wieder in den alten Fehler und in die vorige Stellung zurück. Wir setzen, Frau von Br... und ich, unser Gespräch fort. Es betraf eine Aussöhnung – den Himmel der Liebe. Ich glaubte mich über Kälte und über den einem andern gegebenen Vorzug beschweren zu können; ich tat es zwar mit leiser Stimme, aber mit dem vollen Ausdruck der Leidenschaft, mit der lebhaften Pantomime meines Alters und meiner feurigen Liebe. Die lästige Maske lag immer unbeweglich auf mir, drückte mich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers, stieß einzelne Seufzer aus der bedrängten Brust. Verdrießlich stoße ich endlich den Schläfer von mir, in der Hitze unsers Gesprächs nicht ahnend, daß er aufmerksam zuhöre. Bei der Bewegung, die der Unbekannte macht, faßt ihn Frau von Br... ins Auge, betrachtet ihn näher, und flüstert mir ganz leise die Worte zu: „Himmel! Mein Mann! Ich bin verloren!“ – „Nicht möglich!“ – „Kein anderer!“ – „Kommen Sie!“

Wir stehen auf. Die Maske folgt; will sich an meinen Arm hängen. Ich reiße mich gewaltsam los. Wir verlieren uns in der Menge ... Man denke sich aber die Verzweiflung der Marquise und meine Verwirrung! Unser Gespräch war so deutlich gewesen als möglich, selbst für einen gleichgültigen Dritten.

Nach gepflogenem Rate trug sie Bedenken, nach Hause zu gehen. Sie wollte sich zu ihrer Mutter oder nach Paris zu ihrer Schwester begeben und auf eine Trennung in der Güte dringen. Ich widerriet es ihr und war der Meinung, sie solle sich benehmen, als sei nichts vorgefallen, eine ruhige und feste Haltung annehmen, ihres Mannes Erklärung abwarten und dann alles leugnen. Sie hatte es nicht nötig. Am folgenden Morgen nahm er Postpferde und ging unter dem Vorwande eines Prozesses nach Paris. Auf halbem Wege schrieb er an seine Gemahlin in kaltem und edlem Tone. Er meldete ihr, seine Abwesenheit werde von langer Dauer sein; er wünsche von ihr zu erfahren, wann es ihr gelegen sein würde, ihn aus Paris abzuholen, damit er mit ihr nach Mans zurückkehren, die Angelegenheiten seines Hauses wieder übernehmen und seine Geschäfte betreiben könne. Es war einleuchtend, daß er kein Aufsehen machen, die Mutter seines Sohnes nicht beschimpfen wollte, aber zugleich auch entschlossen war, nicht länger mit ihr zu leben, wenigstens nicht so lange, als ihm ein Liebhaber im Wege stehen würde.

Die Liebe, die die Stelle alles übrigen einnimmt und alles ersetzt, tröstete sie in dieser Lage. Ich ward ihr alles und wurde um so mehr an sie gefesselt, weil sie sich um meinetwillen über alles hinweggesetzt hatte. Ein zweites Schreiben ihres Gatten meldete, daß seine Gesundheit gelitten habe, daß seine Kräfte schwänden, und er befürchten müsse, nicht lange zu leben. Ihre Verwandten bestätigten diese Nachricht; sie hatte zuviel Seele und zuviel Gemüt, um sich darüber freuen zu können, konnte sich jedoch nicht enthalten, an die Möglichkeit einer Zukunft zu denken, die wir uns früher nicht hatten versprechen dürfen. Wir träumten beide, ohne es uns zu gestehen und zu vertrauen, den schönen Traum, einst mit unauflöslichen Banden vereinigt zu sein.

Doch derjenige, der mit unseren Plänen sein Spiel treibt, und unsre Hoffnungen zuschanden macht, hatte es anders beschlossen. Die Fackel, die uns Hymen vortragen sollte, war bestimmt, einer Leiche zu leuchten. Ein Grab sollte sich für die öffnen, welche vor dem Altar zu treten sich anschickte; ihr Brautbett sollte ein Rasenhügel decken. Auf dem eisernen Bette des Todes sollte sie die Ruhe finden, die den Mann, den sie zu ihrem Lebensgefährten ausersehen hatte, noch immer flieht!

Traurige Rückerinnerung! Jammervolles Gemälde, dessen Farben nach zwanzig Jahren noch so lebhaft sind! Schwere, aber sehr angemessene Strafe für die vielen Fehler, die ich begangen, wodurch ich mein Leben mit Bitterkeit erfüllt, mir Trübsale und Feinde in Menge zugezogen und über meine Bahn ein totenfarbenes Dunkel verbreitet habe!!

Sie war krank, schien es aber nicht gefährlich zu sein. Ich hatte, mich zu zerstreuen, eine Einladung angenommen. Bei der Tafel erhalte ich ein mit zitternder Hand geschriebenes Billett: „Komm’, eile, du hast keinen Augenblick zu verlieren ...“ Ich tue einen Schrei, springe auf, verlasse das Haus ohne Abschied und fliege zu ihr hin.

Ach, der Tod, der blasse Tod lag auf ihrer Stirn. Ihre sanften, zärtlichen Augen waren starr und erloschen. Ihr anbetungswürdiges Gesicht trug die Farbe und den Ausdruck des Todes. Umgeben von Aerzten, auf einem Bette mitten im Zimmer, fand ich sie sterbend, und alles um sie in Verwirrung und Aufruhr. Eine zehnmal wiederholte Ohnmacht nahm sie uns, gab sie uns wieder. Savonnières (der an den Folgen des fünften Oktober einen edelmütigen und treuen Tod starb) versuchte es, mich, der das Zimmer mit Klagegeschrei erfüllte, zu entfernen. Dasselbe tat eine Verwandte, Frau von Fondville, deren Schönheit sowohl in Paris als in der Provinz so viel Herzen entflammt hat, die, eine zweite Ninon, bis zu ihrem Ende ihren Siegeswagen von Anbetern umgeben sah – sie bediente sich ihrer ganzen Gewalt, und machte mir’s zur Pflicht, entweder mich wegzubegeben oder meinen Schmerz zu mäßigen. Umsonst. Zu den Füßen der Sterbenden knieend, ihre kalte Hand in meinen brennenden Händen haltend, war ich nicht von der Stelle zu bringen, bis die Nacht einbrach, wo ich des Anstandes wegen mich überreden ließ, das Zimmer zu räumen. Es war mir aber unmöglich, nach Hause zu gehen; ich blieb mit der Sterbenden unter einem Dache, holte alle Augenblicke Nachricht über ihren Zustand ein, der trotz aller angewandten Mittel derselbe blieb. Gegen Morgen sammelte sie ihre letzten Kräfte und ließ mich rufen. Ich wurde mit ihr allein gelassen. Langsam und leise, mit abgebrochenen Worten, mein in Tränen schwimmendes Haupt an ihr Herz drückend, sagte sie mir: „Vergib mir meinen Tod, liebster Freund, vergib mir den verbrecherischen Schritt, dessen ich mich schuldig gemacht habe. Ich war schwach genug, mich vor der Welt zu fürchten, jetzt straft mich der Himmel. Es zu vermeiden, daß ein noch unentwickeltes Wesen einst ins Leben trete, habe ich vor drei Wochen einen Trank genommen, den mir ein Wundarzt mit der Versicherung gegeben, daß er unschädlich und gefahrlos sei. Ich bin jetzt überzeugt, dieser Trank ist mein Tod. Ich will durchaus nicht, daß man Nachforschungen anstelle, die diesem Menschen und meiner Kammerfrau Unruhe und Nachteil bringen könnten. Versprich mir ein ewiges Geheimnis.“ – Sie beteuerte mir zuletzt noch, mich einzig und mit unverbrüchlicher Treue geliebt und sich vor dieser Liebe nur einer ähnlichen Schwachheit schuldig gemacht zu haben, welcher aber nicht tief in ihr Herz eingegriffen hätte. Jetzt überließ sie sich dem Gedanken an den Schmerz, den mir diese Trennung verursachen würde, bat mich gerührt und mit Tränen um Verzeihung, ließ mich meine Briefe aus einem Fache ihres Schreibpultes zurücknehmen, und beschwor mich, wo möglich, sie mit meinem Bilde, das sie im Medaillon auf dem Herzen trug ... und zu mehreren Malen küßte, sterben und begraben zu lassen. – Sie schloß mit der Bitte, ihres Gatten, ihrer Ehre, ihres Nachrufs zu schonen, wie jede Gelegenheit zu Streitigkeiten zu vermeiden, die einen Flecken auf ihr Leben und auf ihr Andenken bringen könnten.

Wie leicht ist es, den Tod zu finden, wenn man ihn nicht sucht? Wie schwer ist es, wenn man sterben sollte, und sterben will! Leblos brachte man mich aus dem Hause ... Eine Stunde später war sie in eine bessere Welt gegangen. Ich blieb in dieser zurück, ohne den Mut, sie zu verlassen, ohne den Trieb, darin zu verweilen, ihren Tod und mein Leben gleich sehr verabscheuend.

Sobald sie in den Armen der Frau von Fondville und des Herrn von Savonnières verschieden war, beschäftigten sich beide ausdrücklich mit mir, und gaben mich dem Gefühl, dem Lichte, dem Leben zurück, – dem Lichte, dem meine Augen mit Entsetzen sich öffneten. Meine vortreffliche Freundin nahm mich zu sich, behielt mich bei sich, mischte ihren Schmerz in meine Verzweiflung, versuchte nicht, meinen Gram zu schwächen, zerteilte ihn, indem sie ihn teilte. Zwei Tage später meldete ein vorauseilender Kurier die nahe Ankunft des Marquis. Frau von Fondville wollte mich überreden, auf einige Zeit die Stadt zu verlassen; ich blieb unbeweglich.

Herr von Savonnières vereinigte seine Bitten mit den ihrigen, ich blieb standhaft. Endlich fragte er mich: „Wissen Sie auch bestimmt, ob bei der Marquise nichts gefunden werden kann, was ihrem Andenken Nachteil bringen könne? Haben Sie alles in Händen, was in den Augen ihres Gemahls gegen sie zeugen, alles, was ohne Not das Herz des Gatten, des Vaters brechen würde?“ – „Alles, mit Ausnahme meines Bildnisses, das sie gewünscht hat, nach dem Tode in ihre letzte Ruhestätte mit sich zu nehmen.“ – Hier erschraken beide; er sprang auf, eilte in das Trauerhaus, trat an das Bett, wo die Abgeschiedene unter ihren wachenden Frauen schlief, und unter dem Vorwand, nachzusehen, ob alles in Ordnung sei, beugte er sich über die Leiche, nahm ihr das Medaillon ab und brachte es mir. Beim Empfang fühlte ich einen neuen Dolchstich im Herzen; es war mir, als würde ich ein zweites Mal von der Geliebten getrennt.

Aus einem falschen Ehrgefühl blieb ich noch einige Zeit in der Stadt und nahm dann Abschied von einem Orte, der für mich so schmerzhaft geworden war, und wo Herr von Br... eine Gleichgültigkeit zur Schau trug, welche aller Herzen der Unglücklichen zuwandte, die dieser Genugtuung nicht mehr bedurfte. Ich sagte dem Boden Lebewohl, der die Gebeine einer Frau in sich schloß, die ich so herzlich geliebt hatte, und von der ich, als der Tod sie mir geraubt, glaubte, ich würde ewig nur sie anbeten können. Ich begab mich aufs Land, begrub mich in die stille Wohnung eines Freundes, eines Weisen, barg mich in die freundliche Einsamkeit, worin er des Jahrhunderts und der Lebensträume vergaß. Er versuchte, mich mit dem Verstande und dem Herzen zu beruhigen; es gelang ihm aber nicht, die Wohltat seiner Erfahrungen und die Ruhe seines Alters auf mich zu übertragen. Dann erbot sich der vortreffliche Greis, mir nach Paris zu folgen. Sollte ich ihn aber dem Frieden seiner Fluren, der Kühle und dem Schatten seiner Wälder, dem Genusse des Landlebens entziehen? Sollte ich schuld sein, daß er sie gegen das Getümmel der Hauptstadt, gegen das Geräusch und Treiben der ville de boue, gegen alle Unruhen des Lebens, denen er so glücklich entgangen war, vertauschte? Nein, das würde ein schlechter Dank für seine Teilnahme und für alle Gefälligkeit gewesen sein, die er für mich hatte; es wäre in meinen Augen die allergrausamste, die ausgesuchteste Undankbarkeit gewesen. Ich reiste allein ab.




Nur mein Schmerz erhielt mich am Leben, erinnerte mich an mein Dasein; in ihm fand ich einen Reiz, der sich nicht beschreiben läßt, eine Art von Glück in dem Gefühl, daß ich alles Glücks beraubt sei, und Ruhe in meiner Trostlosigkeit; ich würde mich selbst verachtet haben, wäre ich des Trostes fähig und dafür empfänglich gewesen.

Das Bild der Geliebten, die ich beweinte, war mein Schutz, bewahrte, rettete mich lange vor einer zweiten Liebe. Ueber sechs Monate waren verflossen, als ich an einem schönen Abende im Palais Royal die Stimme ihrer Schwester hörte, die mit einem Bekannten lachte. Noch jetzt fühle ich (mag’s auch übertrieben scheinen), wie ihr Ton mir das Herz durchschnitt. Ich war außer mir, war wütend, hielt ihre Fröhlichkeit für beleidigend gegen mich, gegen den Schatten ihrer Schwester; in dieser Familie sollte nicht mehr gelacht werden. In einem Zustande, der sich nicht beschreiben läßt, kam ich nach Hause, physisch und moralisch angegriffen, erschüttert; man mußte mir eine Ader öffnen. Ich kann mir selbst nicht erklären, wie eine so unbedeutende Kleinigkeit, ein bloßes Auflachen, meine Herzenswunde so schmerzhaft aufreißen konnte. Der Vorfall brachte mich an die Pforten des Todes.

Später traf ich bei dem Prinzen von Condé mit dem Marquis von Br... zusammen. Er sah mich kaum an, ich konnte kein Auge von ihm wenden; verstohlen ruhte mein Blick auf seinen Zügen; er erinnerte mich so lebhaft an sie, daß ich ihn hätte lieben können. Sein Betragen war gleichgültig, anständig. Ich fand aber, daß er sich’s bei Tafel zu gut schmecken ließ. Ich selbst, konnte keinen Bissen anrühren. Wie gern hätte ich meinem Herzen, meiner Rührung, meinen Schmerz freien Lauf gelassen, wie gern hätte ich in diesem Augenblick mich allen mitgeteilt, die sie kannten, denen sie angehört hatte, denen sie teuer, denen sie nur etwas gewesen war!! ... Selten lassen die Toten ein so langes Andenken zurück, höchstens benetzen bald versiegende Tränen den Marmorstein ihres Grabmals!

Um diese Zeit starb Frau von Fondville, an welche so manches Band mich fesselte. Sie starb an einer langwierigen, schmerzhaften Krankheit. Ich war ihrer Freundschaft eine Erwiderung für die Dienste schuldig, die sie meiner sterbenden Freundin und mir geleistet hatte; ich wollte die Schuld abtragen, kam aber nur an, um Zeuge ihrer letzten Stunde zu sein. Vor meinen Augen starb diese durch einen ausgezeichneten Geist und eine noch ausgezeichnetere Gestalt berühmt gewordene Frau, deren Leben bis ins sechzigste Jahr ein beständig heiterer Frühling gewesen war, und keinen Winter gekannt hat.

Sie würde selbst noch kurz vor ihrem Tode jedem Jünglinge die heftigste Leidenschaft eingeflößt haben, und wäre imstande gewesen, ihm die beste Erziehung und Ausbildung zu geben. Mit dem feinsten Geschmack begabt, wußte sie jeden Ton anzunehmen, und hatte von der Natur den besten erhalten. Ihr halbes Leben hatte Sie in der Provinz zugebracht; und doch, wenn man sie in Paris sah, hätte man glauben sollen, sie habe die Hauptstadt nie verlassen. Zu ihren Freunden gehörten die vorzüglichsten Männer bei Hofe, der Marschall von Duras, die Herren von Thiars und von Voyer, Leute, von denen man nicht sagen konnte, sie hätten sich nicht auf Schönheit verstanden, und bei den Schönen den Mangel an Verstand übersehen oder begünstigt.

Nach ihrem Tode wurde mir die Stadt Mans so zuwider, daß, obschon ich in der Gegend noch Güter besaß, welche einen längeren Aufenthalt erfordert hätten, ich sie mit dem Entschluß verließ, nie wieder hinzukommen. Ich habe Wort gehalten.

Frau von Fondville wurde unweit der Gruft begraben, in welcher Frau von Br... ruhte. Beider Staub wird sich im Laufe der Zeit vermischen. Ich machte es mir zur schmerzlichen Pflicht, und tat mir fast Gewalt an, beide Grabmäler zu besuchen, welche Liebe und Freundschaft mir zu Heiligtümern machten, und vor ihnen meine Andacht zu verrichten. – Es schlug zwölf, der Himmel war finster und schwarz, wie meine Seele. Als ich den Kirchhof betrat, wo diese Frauen, welche mir beide – und besonders die eine – so teuer gewesen waren, den langen Schlaf der Ewigkeit schliefen, sträubte sich mein Haar. In demselben Augenblick brach die wohltätige Fackel der Nacht durch die Wolken und beleuchtete die Gräber. Ich fiel auf die Knie, dankte dem Höchsten, der meine Schritte geleitet hatte, und wagte es, für sie und für mich zu beten. Ist meine durch Seufzer und Tränen erstickte Stimme bis zu seinem Thron hinauf, bis in die Grabestiefe hinabgedrungen? Ich weiß es nicht; so viel aber weiß ich, daß innerer Friede und Andacht mein Herz erfüllt, und in dasselbe den Trost der Religion und die sanften Rührungen gegossen hat, die den Menschen beglücken und adeln. Ich erhob mich wieder, mit weniger strafbaren Neigungen und mehr Liebe zur Tugend.

Hatte ich Unrecht, diesem Kapitel die Zeilen aus Tassos Beschreibung des Tartarus voranzustellen? Von allen, deren Namen hier verzeichnet stehen, bin ich allein noch unter den Lebenden. Alle, deren Gemälde ich hier entworfen, deckt der Trauerflor, deckt der Todesschleier, den selbst der Arm der Zeit nicht zu lüften vermag! Du vor allen, teuerste Emilie! Du, mein teurer Dolomieu! Ihr beide ward die teuren Gegenstände der Neigung meiner schönsten, längst verschwundenen Jugendjahre. Um Blumen in die Zypressen zu flechten, die eure Gräber beschatten, hätte es einer bessern Hand als der meinigen bedurft; sie würde eurem Andenken mehr Glanz verliehen haben, ohne die Bitterkeit meines Schmerzes weder zu vermehren noch zu vermindern. Mein Huldigungszoll an eure Manen sei der Gedanke: „Ich verlor sie erst gestern, und werde mich nie über ihren Verlust trösten.“

Car si facilement les morts sont oubliés,
Si promptement les larmes sont séchées,
Avec tant de dédain l’homme foule à ses pieds
De ses amis les cendres dispersées,
Qu’on a tort de croire aux regrets
Lorsqu’on sera parmi les ombres éternelles!
Qu’il est peu d’amitiés fidèles,
Et que peu de tombeaux sont ornés de cyprès!
Moi, je veux élever un monument durable
Aux Souvenirs de mon printemps;
L’Amour et l’Amitié donneront à mes chants
Un intérêt ineffaçable.
Je saurai défier le temps
D’anéantir l’histoire mémorable
De ces penchans si doux de mes premiers beaux ans,
Et d’une larme intarissable
J’écrirai ma douleur stir les marbres parlans
De ce sépulcre impénétrable,
Où mes amis dorment avant le temps.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band