Elftes Kapitel. Aufenthalt in Calais. — Grille einer schönen Frau. — Ueberfahrt. — Dover. — Schöne Frauen in der Grafschaft Kent. — Gemälde von England. Vorurteile der Engländer.

Meine Unparteilichkeit (?). — Bequemes Reisen. — Schöne Heerstraßen. — London. — Gesellschaftliches Leben daselbst. — Vergleichungen mit Paris. — Der Graf von Adhémar, französischer Botschafter in London. — Seine Geschichte. — Urteile über ihn. — Aufnahme der Franzosen an fremden Höfen vor der Revolution — seit der Revolution. — Emigrierte. — Abenteurer; wie sie sich geltend gemacht haben; sind das beißendste Epigramm auf die frühere Regierung. — Der Chevalier de Durfort. — Herr von Bouille. — Der englische Hof. — Der König. — Die königlichen Schlösser. — Smollett. — Englischer Eigendünkel in allen Klassen. — Sadlers Wells. — Quiberon. — Freundschaft der Engländer. — Ihre Feindschaft. — Die Herzogin von Devonshire. — Schönheit des Landes. — Gegensätze zwischen England und Frankreich. — Parallele beider Länder. — Englands Seetyrannei. — Englands Sitten, Politik, Eifersucht. — Haß und Feindschaft gegen alle Völker, eine Folge der Selbstliebe und des Egoismus. — Strenge und Mängel der Justiz in England. — Ein Beispiel davon auf meine Kosten. — Benehmen des Herzogs von Orleans und des Grafen von Adhémar dabei. — Mein Arrest. — Nähere Umstände. — Englische Kaltblütigkeit in Ehrensachen. — Der Herzog von Lauzun. — Ein interessantes Abenteuer beschleunigt meine Abreise aus London. — Parallele zwischen den Engländerinnen und Französinnen. — Diatribe gegen die Lebemänner ohne Grundsätze.

Tros, Tyriusve, mihi nullo discrimine agetur.
Virgil.


Ich kam in Calais an, stolz auf die Schnelligkeit meiner Reise, denn ich hatte die Postillone angetrieben wie ein Diplomat, wie ein mit dem wichtigsten Auftrag reisender Ministre Plénipotentiaire, für welchen jede verlorene Minute ein unersetzlicher Zeitverlust wäre.

Ich stieg bei Herrn Dessain ab, dessen Hotel mit den größten und schönsten in Europa wetteifert. Ich verlangte eines der besten Zimmer. Er gab mir zur Antwort: er habe kein mittelmäßiges. Ich fuhr fort: „Ein gutes Abendessen, Herr Dessain!“ – Er:“Bei mir hat noch niemand schlecht gegessen.“ Mit erhöhter Stimme gab ich ihm deutlich zu verstehen: das Geld sei in meinen Augen nichts. Er, stillschweigend meiner Meinung, gab mir einige Tage nachher durch seine Rechnung deutlich zu verstehen, daß er anders denke. Ich blieb eine ganze Woche bei ihm, betrug mich wie ein verschwenderischer Narr, wie einer, unter dessen Fenstern ein Arm des Paktolus flösse; und Herr Dessain zeigte sich mir wie ein Mann, der es gewohnt ist, mit Etourdis umzugehen, und aus ihren Etourderien Vorteil zu ziehen.

Damals befand sich in demselben Hotel eine Engländerin, die sich später in Paris einen Ruf durch ihre Schönheit erworben hat. Ich ermangelte nicht, ihr meine Aufwartung und sogar den Hof zu machen. Ich kann nicht sagen, daß sie meine Artigkeiten nicht erwidert hätte; allein sie hatte, wie alle ihre Landsmänninnen, ihre Launen: sie verlangte – im buchstäblichen Sinne des Wortes – ich sollte auf einer Leiter in ihr Zimmer steigen. Das mißfiel mir, zumal da wir kaum hundert Schritte voneinander waren, und ich nicht Lust hatte, mir den Hals zu brechen, um mich einer englischen Grille zu fügen. Sie gab vor, sich vor einer Art von Kammerfrau zu fürchten, deren forschendem Auge ich mich entziehen sollte.

Späterhin machte sie weniger Umstände, und in Paris konnten die jungen Herren ganz bequem zu ihr die Treppe hinaufsteigen.

Ich hatte die Ueberfahrt mit einem überaus geistreichen gebildeten Manne gemacht, dessen Umgang ich nicht näher suchte, der mir aber unvergeßlich ist, – mit einer hübschen, jungen, seekranken Frau, die ich kaum ansah, weil ich noch kränker war als sie; – und mit einem unleidlichen Original, einem zweiten Herrn des Mazures,*) der mir ärger zusetzte, als das Seeübel.

Dover ist eine Stadt, deren Häßlichkeit mir beim ersten Anblick auffiel. Was mich aber bald tröstete, war die Schönheit der Frauen vom gemeinen Stande und (fast schäme ich mich, es zu sagen) von der dienenden Klasse. Sie machen in der ganzen Grafschaft Kent einen besonderen Stamm aus, der um so weniger unbeachtet bleiben darf, als aus ihm die Pflanzschulen der Venus in London mit jungem Baumschlag versehen werden, und da es nichts Ungewöhnliches ist, diese Pflänzchen von der Provinz aus den Boudoirs der Londoner Liebesgöttin in den Tempel der britischen Glücksgöttin**) eintreten zu sehen; denn bekanntlich machen sich die Engländer, unter allen Nationen von Europa, am allerwenigsten eine Schande und ein Gewissen daraus, ihre Buhldirnen zu verehelichen, und bekümmern sich wenig um ihre frühere Lebensart – und nicht viel mehr um ihre gegenwärtige. Ihr philosophischer Geist erhebt sich über jedes irdische Vorurteil.

Die edle Kochkunst steht in England in hohen Ehren; es wird viel davon gesprochen, aber wenig dafür getan. Die Worte sind gut, die Gerichte schlecht; doch da die Speisen einfach und gesund sind, so gewöhnt man sich bald daran, und befindet sich wohl dabei. Die Engländer sind der festen Ueberzeugung, daß sie, und nur sie, wissen, was eine servierte Tafel sei; sie bilden sich ein, größere Feinschmecker zu sein, als irgend ein Volk in Europa; und doch kenne ich keines, dessen Gaumen so leicht befriedigt wird, und dessen Kost so schlecht ist, als die ihrige. Es herrscht bei den Engländern (mit wenig Ausnahmen von Reisenden und Gereisten) der Glaube, daß es in Frankreich nur Sudelköche gibt, daß man in Frankreich schlecht und spärlich ißt. In Frankreich, wie Yorick sagt, „verstehen sie das Ding besser“, und kehren den Vorwurf um.

Es gibt überhaupt, bei vielen großen und schätzbaren Eigenschaften, keine Nation, die so abergläubisch fest auf ihre Sitten und Gebräuche hält als die englische; keine Nation, in der Vorurteile aller Art so tief haften, und ihr, die ihre ganze Kraft aus ihrem Nationalgeist zieht, so wesentlich notwendig sind, obschon sie größtenteils an das Lächerliche grenzen. Sie gleichen dem Stalle des Augias; wer hat den herkulischen Mut, ihn zu reinigen? Und doch sollte man ihn haben, um sie abzustreifen, anstatt sie beizubehalten und zu verewigen.

Ich will ebensowenig ein Libell auf die Engländer schreiben, als eine geschmeichelte Schilderung von ihnen entwerfen. Ich will schreiben, was mich ein Aufenthalt von mehr als fünf Jahren, zu verschiedenen Zeiten, in der Jugend, im reiferen Alter, gelehrt hat. Kann sein, daß ich in den Augen einiger nicht streng genug urteile, in der Meinung anderer zu wenig schmeichle. Allein, ich habe mich in diesen Memoiren verbindlich gemacht, wahr zu sein, nichts als wahr. Ich habe niemandem versprochen, seinen Vorurteilen, seinen Launen, seiner Parteilichkeit, seinem Hasse zu schmeicheln.
*) Eine lächerliche Person in Destouches Lustspiel: La fausse Agnès. Angelika nennt ihn: un provincial, un campagnard, et, qui pis est, un campagnard bel-esprit. – Il est de ces gens, sagt ein anderer, dont on cherche ce qu’ils on dit, après qu’ils ont parlé. Uebers.
**) Königliche und andere Herzoge, Lords und Nabobs haben ihre Mätressen und zum Teil ihre Gemahlinnen aus öffentlichen Häusern und von der Bühne geholt. Uebers.

Ich kam in London an, ohne unterwegs Langeweile gehabt zu haben. Nirgends reist man besser als in England. Man braucht nicht zu warten; man darf nicht auf die Postillone schimpfen. Die Gegenden sind so schön; sie gewähren ein herrliches Schauspiel von Ruhe, Behaglichkeit und Reichtum; sie stellen ein so lebendiges Bild der Natur dar, daß man glauben sollte, der Weg führe durch einen großen Garten. Das englische Wiesengrün verdiente wohl einen eigentümlichen Farbennamen, so sehr wird es von der mit Meeresdünsten geschwängerten Luft erfrischt und befeuchtet, nur daß auf diesem schönen Gemälde die Sonne neun Monate durch vermißt wird.

London ist eine der schönsten Städte Europas, wenn man nämlich die Länge der Straßen, die Größe der Plätze und den unermeßlichen Umfang dieser kleinen Welt in Betracht zieht. Die Trottoirs längs den Häusern sind für den Menschenfreund und Denker eine tröstliche Erscheinung und ein Beweis, daß man sich in London mit dem Volke beschäftigt, und daß der Mensch dort etwas gilt. Aber für den, welcher Paläste, Gebäude und Monumente für den Maßstab der Hauptstadt eines stolzen und reichen Volkes hält, ist London nur eine Stadt zweiter Ordnung. Meine Nachbarn, die Herren Engländer, werden es mir verzeihen, wenn ich behaupte, daß London, dieser ungeheure, unnatürliche Auswuchs, dieser an einem Ende ihres Landes aufgetürmte Steinklumpen weit entfernt ist, eine angenehme Hauptstadt zu sein, worin man die Kunst zu leben versteht (ich will nicht sagen, „wie in Paris“, denn mit Paris läßt sich in dieser Hinsicht kein zweiter Ort vergleichen), sondern nur wie in anderen großen Städten Europas.

Ich wiederhole es: in London muß man nicht leben. Nicht, daß die Engländer eine so ungesellige Nation wären, wie es ihnen von so vielen, die ihr Land besuchen, vorgeworfen wird. Im Gegenteil findet man hier Gelegenheit zu leben, wenn man nur selbst ein guter Gesellschafter ist. Wenn man auch einigen Engländern mit Recht nachsagen kann, daß sie auf dem festen Lande zuvorkommend und zu Hause abstoßend und geringschätzig sind, so ist ihnen dieser Fehler mit anderen Nationen gemein, denn überall findet man Leute, welche außerhalb ebenso freundlich und bescheiden, als bei sich stolz und wegwerfend sind. Im allgemeinen läßt es sich in England, wie überall in der großen Welt, leben. Nur der engere Verkehr ist seltener und schwieriger, weil die Engländer eine kalte, bedächtige Nation sind, weil in England ein kaltes, ruhiges Gemüt zum Nationalcharakter geworden ist, weil der Engländer, selbst seinen Landsmann in einiger Entfernung zu halten gewohnt, nicht in den ersten Tagen mit einem Fremden vertraut wird.

In Paris hielt es noch schwerer als in London, in das Innere der großen Häuser zu dringen. Doch muß man die Hotels der Prinzen ausnehmen, worin so ziemlich der Fremde mit bedeutendem Namen Eingang und Gelegenheit fand, die übrigen Gäste und Hausgenossen zu langweilen. Ferner standen die Hotels der Herzogin de la Vallière, des Marschalls von Biron, des Prinzen von Soubise den Reisenden offen, die trotz ihrer Familiennamen in Paris oft nicht wußten, wo sie hin sollten.

Der Botschafter, welchen Frankreich damals in London hatte, verdankte sein glänzendes Glück dem Ungefähr und seinen Posten der Intrige. Es war der Graf von Adhémar, dessen Geschichte kurz folgende ist: Als Herr von Montfalcon diente er, ward verwundet, wurde in eine Provinzialstadt versetzt, und schien bestimmt daselbst als halber Invalide zu leben und zu sterben. Mit einemmal wird der dreißigjährige Kapitän zum Seigneur, zum großen Herrn, ohne sich durch Rang oder Hoffnungen zu dieser plötzlichen Glücksstaffel vorbereitet zu haben. An einem Badeorte macht er die Bekanntschaft einer vornehmen Dame vom Hofe, die ihm vorschlägt, sie nach Paris zu begleiten, dort ihren zärtlichen Umgang fortzusetzen, und zugleich den Kriegsminister mit der Himmel weiß welchem System einer neuen militärischen Taktik, über den sogenannten Ordre profond und das französische Militär zu behelligen. Dabei hatte er eine angenehme Stimme, sang die kleinen Lieder von Collé und anderer Mode-Chansonniers und mitunter auch einige Couplets eigenen Machwerks. In der Liebe fehlte es ihm an physischer Kraft, in Geschäften an geistiger; bei den Frauen ersetzte er den Mangel größerer Verführungsmittel durch feines, süßes, einschmeichelndes Geschwätz. Sein Militärglück machte er dadurch, daß ihm der Herzog von Orléans, welchem er von seiner Gönnerin empfohlen war, das Infanterieregiment Chartres anvertraute, um bei demselben die äußerst vernachlässigte Manneszucht wieder herzustellen. Wir sind es der Wahrheit schuldig, zu gestehen, daß er dieses Militär von Grund aus umschuf. Beim ganzen Regiment war er übrigens verhaßt, weil er es mit dem dreifachen Despotismus des Neulings, des Eitlen und des Querkopfs quälte. Zu eben der Zeit trat er als ein Abkömmling des Hauses Grignan auf, und da es niemandem einfiel, ihm einen für erloschen gehaltenen Titel streitig zu machen, so nannte er sich von nun an Graf Adhémar und hielt sich nun zu allem berechtigt, sogar zu einer Verbindung mit der Frau von Valbelle. Sie, die Witwe eines Mannes, dem der Ruf eines angenehmen Weltmannes zuteil geworden war, war Palastdame, und bereute es später, ihren Namen mit dem seinigen vertauscht zu haben. Uebrigens will ich es keineswegs bestreiten, oder nur in Zweifel ziehen, daß Herr von Adhémar nicht wirklich der Mann gewesen sei, für welchen er sich ausgab. Der Graf von Vaudreuil – der erste, der ihm zu seinem Stammbaum verhalf, und der letzte, der dieses auf Kosten der Wahrheit getan haben würde – hat mir aufs bestimmteste versichert, daß die öffentliche Meinung ihm mit Unrecht seine Geburt habe streitig machen wollen, und daß seine Abstammung besser sei, als er selbst. Auch der Genealogist Chérin hat sie nie bezweifelt.

Dem sei wie ihm wolle, mit dem Familiennamen erhielt er auf einmal alle möglichen Talente. Sie erhoben ihn zum Maréchal de Camp. Vom Maréchal de Camp sah er sich in die diplomatische Laufbahn geschleudert, und wurde zum Gesandten in Brüssel ernannt. Bald nachher richtet die unglückliche Schwester Ludwigs XVI., Madame Elisabeth, ihr Haus ein, und Herr von Adhémar erhält eines der Hauptämter. Endlich (risum teneatis!) ernennt ihn der König zu seinem Botschafter in London. Er würde die Stelle nicht angenommen haben, wenn er sie hätte ausschlagen dürfen, und das schon aus dem einzigen Grunde, weil er über die See mußte. Das Klima, der Kohlendampf untergruben seine ohnehin schwächliche Gesundheit, und der Verdruß, später als er es erwartet hatte, mit dem großen Ordensbande bekleidet zu werden, machte ihn nachher zu einer Art von Revolutionsmann. Er starb einige Lieues von Paris, als Nationalgardist in seinem kleinen Landhause, unzufrieden mit einem Hofe, der Grund hatte, noch unzufriedener mit sich zu sein, weil er einem Adhémar so viel Auszeichnungen gespendet hatte.

Das war der Mann, der den tugendhaften Ludwig XVI. in London repräsentierte, als ich dort ankam. Er machte ein gutes Haus; doch war es mehr das eines reichen Privatmannes, als eines Diplomaten, der an die Stelle so großer und glänzender Vorgänger trat. Die Engländer spotteten über ihn, und die Franzosen, von lange her an den Prunk, den Glanz und den Aufwand der Botschafter ihrer Nation an fremden Höfen gewöhnt, wunderten sich über den Abstand. Was in ihren Augen dem Diplomaten, dem Repräsentanten ihrer Könige fehlte, wurde auf keine Weise durch die Eigenschaften des Privatmannes ersetzt, und sie hatten Mühe, in die Sarkasmen und den Spott der Engländer über ihn nicht einzustimmen.

Damals konnte man sich im Auslande ebensosehr Glück wünschen, ein Franzose zu sein, als es später in Verlegenheit setzte, wenn man keinen andern Empfehlungsbrief bei sich führte als diesen, und vollends wenn man des Verbrechens schuldig war, in seinem Vaterlande eine ausgezeichnete Rolle gespielt und der alten Ordnung der Dinge angehört zu haben.

Damals aber lief man auch in fremden Ländern nicht Gefahr, sich in der Person zu irren, und von Abenteurern betrogen zu werden. Nur derjenige, welcher von seinem Gesandten vorgestellt war, fand Eingang bei Hofe und in die großen Häuser. Später ist das Ausland mit Franzosen überschwemmt worden, und zwar von einer Klasse, welche das Unglück ihres Vaterlandes benutzte, um außerhalb Lügen und Verleumdungen zu verbreiten; mit Menschen, welche um ihres eigenen Vorteils willen sich für Opfer einer Revolution ausgaben, die sie nicht erreichen konnte, weil sie nichts zu verlieren hatten; mit Menschen, welche beständig von Dingen sprachen, die sie nie gesehen, von Ehrenstellen und Würden, die sie nie bekleidet hatten, die sie nur vom Hörensagen kannten, und die oft nicht einmal existierten; mit Menschen, die sich die Häupter einer Nation nannten, deren – anderes Extrem sie gewesen waren, und den leichtgläubigen Nachbarn die Lüge aufbanden, man habe sie ihres großen Vermögens wegen vertrieben; mit Menschen, welche dem Interesse des Hauses Bourbon den letzten Stoß dadurch versetzten, daß sie mit unverschämter Stirn behaupteten, die Kreaturen und Günstlinge dieses Hauses gewesen zu sein.

Ich könnte hier eine Menge Beispiele anführen und die Personen mit Namen nennen, wenn ich ihrer nicht aus Mitleid schonen wollte. Ich begnüge mich mit einigen allgemeinen Andeutungen. So habe ich z.B. in fremden Landen einen Oberst des Regiments der Berry-Dragoner (nie gab es ein solches), eine Surintendante des Hauses von Madame Elisabeth (nie gab es eine dergleichen) angetroffen. Sie ließen sich ohne Scheu Monsieur le Colonel, Madame la Surintendante nennen. Ein Emigrant, der sich herabließ, mich mit Schuhen zu versorgen, die mich drückten, gab mir sein Ehrenwort: „Dieses sei unmöglich, denn er sei Maréchalde Camp gewesen“ (er zählte keine dreißig Jahre). Ich habe eine Frau gekannt, die vorgab, Gesellschaftsdame bei der Gräfin von Artois gewesen zu sein. Was war sie gewesen? Ihr Lebenlang eine Modehändlerin in einer flandrischen Stadt. Eine große deutsche Fürstin hat anderthalb Jahr einen sich ehemaligen Colonel de la Gensdarmerie Nennenden an ihre Tafel gezogen!!

Der Graf de la For ... erkannte in Deutschland seinen ehemaligen Kammerdiener, der den vornehmen Herrn spielte. Er wollte ihm vernünftig zureden und ihn in aller Stille abziehen lassen, ohne ihn zu verraten. Was geschah? Der Kammerdiener hatte an dem kleinen Hofe eine Art von Wichtigkeit erlangt; er leugnete seinem Herrn die Kammerdienerschaft ab, drohte, vermittelst seines Kredits, ihn zu entfernen, und war nahe daran, die Drohung durchzusetzen. Ein anderer rühmte sich, Menin bei Ludwig XVI. gewesen zu sein, er war sein Porte-Coton gewesen. Mir ist im Norden fast kein Jugendlehrer, kein Dorfvikar oder sonst ein Pädagog und Geistlicher vorgekommen, der nicht nahe daran gewesen wäre, Bischof zu werden, der nicht einen Bischof zum Oheim gehabt, der nicht zu einer vornehmen Familie gehört hätte; ich habe keine Gouvernante oder Erzieherin gesprochen, die nicht ein Fräulein aus den besten Häusern gewesen wäre.

Die Ausländer freuten sich meistenteils, mit solchen Herren und Damen in Verbindung zu treten, sie ins Haus, an den Tisch aufzunehmen, ihnen ihre jungen Herrlein und Fräulein anzuvertrauen. Sie waren entzückt über ihre Manieren, ihre Reden, ihren Ton; es schmeichelte ihnen, den französischen Adel in ihren Vorzimmern, in ihren Küchen zu haben, sich von ihnen Sand in die Augen streuen zu lassen; denn jene Bourgeois Gentilshommes ermangelten nie, den Mund recht voll zu nehmen und die wirklichen Emigranten zu überschreien. Ein Montmorency mit schwachen Lungenflügeln würde neben ihnen eine erbärmliche Figur gemacht haben.

Das nenne ich eine Koalition des Auslandes mit dem Innern des revolutionären Frankreich. Das hieß die ehemalige Regierung mit Strömen von Schmach überschütten, das hieß, die Herabwürdigung der unglücklichen Emigranten durch die günstige Aufnahme von Gaunern und Betrügern vollenden, das hieß, den Adel, der in den Stürmen der Revolution abgeschafft worden war, völlig in den Grund treten, das hieß, zwanzig Revolutionen, statt einer, das Wort sprechen, das hieß, dem Unglück seine Rechte zugleich mit seinen Rechtstiteln rauben.

Doch, um wieder auf den Grafen von Adhémar zu kommen, so fand ich in seinem Hotel die einzigen Franzosen von Namen und Ruf, welche damals in London waren: den Ritter und den Grafen Alfonse de Durfort , den alten Baron von Wurmser und Herrn von Bouillé, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Der Gesandte stellte uns bei Hofe vor, und der König empfing uns alle mit der ihm eigenen edlen Einfachheit und freundlichen Güte. Nur konnte es uns nicht entgehen, daß er Herrn von Bouillé besonders auszeichnete, und zwar aus dem Grunde, weil er im letzten Kriege gegen England mit seltenem Mute gefochten und ein großes Talent entwickelt hatte. So wahr ist es, daß überwiegende Verdienste selbst dem Feinde, der sie am wenigsten anerkennen möchte, Lob und Bewunderung abringen. Ich muß hier noch hinzusetzen, daß Herr von Bouillé in allen englischen Häusern, die sich um seine Bekanntschaft stritten, mit einem Enthusiasmus und einer Hochachtung aufgenommen wurde, die um so schmeichelhafter für ihn sein mußten, je unwillkürlicher sie waren.

Und in der Tat hatte er sich in Dominique, St. Eustache, St. Christophe (Kitts) und überhaupt in allen westindischen Inseln, wohin ihn der Krieg führte, in seinem militärischen Beruf ebenso untadelhaft als ehrenvoll betragen und seinen Siegen den Stempel eines Edelmuts aufgedrückt, wovon es nur wenig Beispiele und seltene Nachfolger gibt. Er hätte sich bereichern können, suchte aber nur Ruhm, und fand ihn. Die Stadt London gab ihm zu Ehren ein Fest, und überreichte ihm einen goldenen Degen; ein größeres Geschenk als die von ihm verschmähten Schätze. Er war bisher in allen seinen Unternehmungen glücklich gewesen; nur zuletzt erblaßte sein Stern bei einer Gelegenheit, wo Frankreichs Verhängnis das seinige überwiegen sollte!!*)
*) Der Verfasser meint hier die Flucht Ludwigs XVI. nach Varennes.
In England ist der Hof einfach und edel, zahlreicher als in Versailles, weil die Aufnahme leichter ist. Der König und die Königin zeichneten sich durch eine zuvorkommende Güte und Höflichkeit aus. Die Frauen sind im allgemeinen ziemlich schön, dagegen aber auch einige häßlicher, als ich sie sonst irgendwo angetroffen habe. Man muß zweierlei zugeben. Erstlich: daß es in England vielleicht mehr schöne Frauen gibt als irgendwo, denn die Natur hat hier viel für das schöne Geschlecht getan, obschon sie mit der Grazie kargt, welche nur unvollkommen durch eine angenommene Natürlichkeit (Ingénuité) ersetzt wird; zweitens: daß, wenn eine Engländerin anfängt, häßlich zu sein, diese Häßlichkeit alle Grenzen und Begriffe übersteigt, und ein wahrer Triumph für die übrigen ist. Die Engländer bei Hofe kleiden sich meistenteils reich, obschon sie in ihren Stickereien und mit ihrem Galanteriedegen mehr steif und geniert als geputzt erscheinen. Sie sind nur für den Morgenanzug gemacht. Hier bewegen sie sich in ihrem Element, hier muß Europa in ihnen die Gesetzgeber der Mode suchen.

Der Palast von St. James ist die erbärmlichste Steinmasse, welche man je einem großen Könige zur Wohnung bestimmt hat, und man muß gestehen, daß die innere Einrichtung der Zimmer der Disharmonie des Aeußern nicht nachsteht. Ich würde von Windsor nicht vorteilhafter sprechen können, wenn die malerische Lage, der Wald und die großen Erinnerungen, die das Schloß hat, nicht wären. – Was sollen wir aber von dem Tollhäusler Smollett sagen, der auf seiner Reise durch Frankreich so viel Paläste, königliche Schlösser und Gärten sah, ohne von dem Glanz, der Pracht, der Größe derselben frappiert zu werden, und nach seiner Rückkehr in London drucken ließ: „die Schlösser der Könige von Frankreich, Versailles an der Spitze, seien nur Taubenschläge (pigeon-houses) in Vergleichung mit den Palästen der Könige von Großbritannien.“ Freilich fand der arme Hypochonder auch in Rom nichts, was er für würdig erachtet hätte, seine milz- und gelbsüchtigen Augen auf sich zu ziehen, da selbst die Königin aller christlichen Tempel, die St. Peters-Kirche, nicht Gnade vor seinen Augen fand, und er sich in der Ueberzeugung nach England einschiffte, Michel Angelo stehe dem Ritter Wren unendlich nach.

Es gibt noch heutzutage manchen Pair in England, der steif und fest behauptet, man lebe in Frankreich von – Fröschen. Wie oft hört man auf den Straßen, beim Anblick eines Fremden den Pöbel rufen: „Franzosenhund, türkischer Frankenhund!“ (french dog, turkish french dog!). Nachgerade sollten die Engländer einsehen, daß es Zeit sei, Vorurteile abzulegen, welche Folgen der größten Unwissenheit sind und die Nation um Jahrhunderte zurücksetzen. Allein (wird man sagen) diese Nationalvorurteile, dieser Haß, diese bittere Animosität, sind jenem Inselvolke notwendiger als dem Kontinent. Das heißt gerade soviel, als wollte man sagen: „man müsse sich ins Feuer werfen, um sich zu wärmen.“ Nichts beweist in meinen Augen die unbezweifelte Ueberlegenheit der französischen Nation so mathematisch, als eben diese auffallende Ungerechtigkeit unserer Nachbarn, an die wir in unserm edlen, unpolitischen Stolze bei jeder Gelegenheit jede Art von Lobpreisung selbst über Gegenstände verschwenden, wo sie am wenigsten verdienen, gelobt zu werden. Unsre Schriften bezeugen die Gerechtigkeit, die wir ihnen widerfahren lassen; sie sind ein schlagender Beweis, daß wir in unsern Urteilen mehr als billig, daß wir schonend und nachsichtsvoll sind. Unsre Theater ertönen oft vom Lobe Englands, wir haben nichts verabsäumt, die englische Geschichte und Literatur, die Fortschritte dieser Nation in Wissenschaften und Künsten zu verbreiten; man sollte glauben, wir hätten die Verpflichtung übernommen, ihren Ruhm in ganz Europa zu verbreiten. Und was hat England für uns getan? Es hat gesucht, uns zu verkleinern, zu verschlechtern, eines unsrer Verdienste nach dem andern anzufechten; es hat uns mit der größten Unwürdigkeit abgestritten, was sich nicht streitig machen ließ; es hat nie einen französischen Charakter auf seine Bühne gebracht als in der Absicht, ihn herabzuwürdigen, ihn verächtlich, ihn lächerlich zu machen, ihn dem Spott und dem Hohne des groben, unwissenden Pöbels preiszugeben.

So oft es eine Gelegenheit gab, der Bravour (ich kann nicht sagen, der Taktik) der englischen Truppen Gerechtigkeit zu verschaffen, haben wir es mit einer Aufrichtigkeit getan, die in dem edlen und biederen Freimut ihren Grund hat, womit die französische Nation, welche niemandem etwas beneidet, zu Werke geht. Sie, die Engländer, beneiden allen alles, bestreiten alles, leugnen alles ab. Ich habe die ganze Zeit, die ich mit Engländern zugebracht, von ihnen hören müssen, wie sie die Siege der französischen Armeen im Revolutionskriege abstritten. Ihr ewiges Lied war: the French conquer by numbers (die Franzosen siegen durch Ueberzahl).*) Ich habe nie eine höchst erbärmliche Winkelposse in Sadlers Wells vergessen können, wo ein Engländer ein ganzes Dutzend Franzosen vor sich auf die Knie fallen läßt, wo sechs Engländer ganze französische Kolonnen durchbrechen und gefangen nehmen. Jene waren die Riesen, diese die Pygmäen. Meine Nachbarn, wohl wissend, daß ich zu den – Pygmäen gehörte, lachten, wieherten vor Freude und Hohn. Ich meinerseits begnügte mich mit aller Kaltblütigkeit ihnen zu sagen: Yes, Gentlemen, and such has been the case in Flanders. (Ja, meine Herren, das war unter andern der Fall in Flandern.)**)

Ich bin gewiß, daß in dem Augenblicke, wo ich dieses Kapitel schreibe, (im Jahre 1805) der Mann, den der Sieg auf den Kaiserthron erhoben, der Mann, der sich anschickt, an Frankreichs unversöhnlichstem Feinde Rache zu nehmen, der Mann, dessen Blitz die Schlachtopfer von Quiberon und unsere im Hafen von Toulon in Brand gesteckte Flotten rächen wird (denn so behandelt England seine Schützlinge, so achtet es seine Bundesgenossen!), der Mann, der sich vornimmt, Europa von einer tyrannischen und kaufmännischen Nation zu befreien, welche sich längs der Seeküsten bis zum Gipfel einer Gewalt hingeschlichen hat, die ihr nicht bestimmt war – ich bin (sage ich nochmals) gewiß, daß Bonaparte die Engländer zittern macht, ohne ihnen nur einen Gedanken, einen Laut des Beifalls zu entreißen. Ihr Haß läßt sich von ihrer Furcht nichts abdingen, und die Besorgnis einer Landung, so groß sie auch sein mag, ist immer mit einer Art von Verachtung begleitet, und vermindert ihren Spott nicht um ein Hundertstel. Selbst die Eroberung von England würde die Engländer nicht bekehren.

Ich darf aber hier eine Engländerin nicht unerwähnt lassen, eine so ausgezeichnete Frau, daß sie dazumal sozusagen die Königin von London war. Schönheit, Reichtum, Geburt, vornehme Stellung und persönliche Achtung, eine seltene Geistes- und Charakterbildung, Haltung und Ton, alles vereinigte sich in ihr, und sicherte ihr in der Gesellschaft eine Ueberlegenheit, welche ihr niemand streitig machte. Es war die Herzogin von Devonshire. Ich war erst zwei Tage in London, als ich mit ihr beim Grafen von Adhémar speiste, und muß gestehen, daß mich nie etwas so sehr frappiert hat wie ihr ganzes Wesen (Attitude), die Würde in ihrer Haltung, welche keineswegs die Grazie ausschloß, ihr Eintreten in das Zimmer und die überragende Schönheit, die sie zu umwallen schien. Sie ließ bis gegen sieben Uhr auf sich warten. Auch früher gekommen, würde sie immer Aufsehen genug gemacht haben, aber mir ist dieser kleine weibliche Kunstgriff bekannt. Ich verzieh ihr denselben, sobald ich sie sah, und mein Herz, das in der ersten Minute ihr Fürsprecher ward, brachte meinen murrenden Magen zum Schweigen.

Ich habe oben gesagt: in London müsse man nicht leben. Ich habe gesagt: in London finde man wenig schöne Denkmäler, wenig schöne Gebäude. Dagegen ist nichts so schön wie das Land, wie das Landleben der vornehmen Engländer, wie ihr gastfreier Luxus. Der Reisende wird es nicht müde, einen schönen Landsitz nach dem andern zu besuchen und zu bewundern. Vor allem sind die Parke, die Gärten einzig in ihrer Art, und reizende Vorbilder, welche man im ganzen übrigen Europa entweder gar nicht kennt oder nur höchst unvollkommen nachzuahmen sich bestrebt hat.

*) Wellington ließ in Spanien seine und der Feinde Truppen zählen; wenn er 300 Mann weniger hatte als sie, zog er sich zurück. Uebers.

**) Wo die Engländer von den Franzosen geschlagen wurden. Uebers.


Frankreich und England lassen sich nicht durch Berührungspunkte, sondern nur durch Gegensätze vergleichen. Beide Länder sind ein ewiger Gegensatz von Anfang bis zu Ende, von den rein menschlichen Sitten an bis zu den auffallendsten Formen, von den Ideen bis zu den Worten. Ich will es versuchen, dieses Antithesenbild zu entwerfen.

In Frankreich gab es vor der Revolution prachtvollere Wohnungen, mehr Schmuck im Innern, mehr von dem, was man unter „Luxus der Großen“ versteht, bequemere Einrichtungen für das Gesellschaftsleben, mehr müßiges Bedientenvolk in den Vorzimmern, mehr Spiegel, Bronze, Gerät und Vergoldung in den Salons. In England herrscht dagegen eine wohlhabende Einfachheit; die ländlichen Wohnungen bleiben der Natur getreuer, mehr Zimmer im Erdgeschoß zum Empfang eingerichtet, oben unvollständig und karg möblierte Schlafzimmer, die man nicht sehen lassen dürfte (obwohl schon die Engländer immer das Wort comfortable, bequem, behaglich, im Munde führen, und alles bei ihnen comfortable sein soll); mehr Stallbediente, heiteres, nicht überladenes und zum Teil seltenes und ausgesuchtes Hausgerät, hier und da viel Gemälde.

In englischen Landsitzen wurde getrunken, geritten, gejagt, kurz, auf dem Lande gelebt, um die Stadt zu vergessen. In anderen wurde vorzüglich gut gegessen. Man machte Musik, man spazierte, man isolierte sich, man las, man führte kleine Gesellschaftsstücke auf, man hielt Proben, man unterhielt sich beim Tee, man lieh der Zeit Flügel, man hatte mitunter, wenn sich’s fügte, eine Liebschaft, kurz, man lebte wie in Paris.

Die englischen Formen waren in einigen Häusern einfach, natürlich, bisweilen ein wenig unzart; in anderen artiger, gesuchter, eleganter; dabei hatten sie aber auch oft etwas Gezwungenes und Affektiertes.

Die Sitten waren so ziemlich die gleichen.

Die Engländer essen wie Leute, für welche das Essen ein Geschäft ist; sie essen so lange, daß man glauben sollte, sie hätten kein anderes. Ihr einfacher, substantieller Tisch belebt sich nicht eher, als bis diejenigen, die dessen größte Zierde sind, sich wegbegeben haben; alsdann, nachdem man mehr als unbescheiden auf ihre Gesundheit getrunken, bringt der Wein jene rauschenden, und lärmenden Ausbrüche hervor, die man für die Ergänzung des Freimuts, für die schönste Seite des Nationalcharakters hält.

Für die Franzosen war die Speisestunde eine notwendige Erholung, wobei aber jederzeit die Sittsamkeit, die Eleganz und eine anständige, abwechselnd ernsthafte und heitere Unterhaltung ihren Platz bei der Tafel einnehmen mußte. Wir lebten wie solche, in deren Augen die Trunkenheit, anstatt für etwas Achtbares und Ehrwürdiges (Respectable) zu gelten, ein unverzeihlicher Schandfleck war, wie solche, denen die Frauen alle Augenblicke des Lebens verschönern, wie solche, für die das häßliche Wort „essen“ (obwohl wir uns besser darauf verstehen als andere) nur so viel bedeutete, als dem Bedürfnisse des Hungers abhelfen. Bis zum fünfzigsten Jahre soll die Tafel weiter nichts sein, als ein angenehmer Ruhepunkt, von welchem wir zu angenehmeren und wichtigeren Geschäften übergehen.

In England wird den Frauen der Hof nachlässig gemacht; sie müssen abwarten, bis die Männer Zeit dazu finden. In Frankreich hatten sie kein anderes Geschäft, als Huldigungen zurückzuweisen oder unter mehreren die beste zu wählen. Die Engländerinnen geben der Stimme der Natur nach, die Französinnen ließen sich in einen Kampf ein, und stellten sich, als würden sie durch Kunst besiegt. Die Liebschaften in England sind entweder von sehr langer Dauer oder sehr schnell vorübergehend, weil sich ihnen große Hindernisse entgegenstellen, und nur wenige günstige Gelegenheiten sich darbieten. In Frankreich ergaben sich die Frauen nur nach langem Widerstande, um nicht in den Fall zu kommen, zu früh verlassen zu werden. Die Koketterie selbst gebrauchte Vorsicht und übereilte sich nie. Aber der Geist der Galanterie und die gewöhnliche Lebensweise vervielfältigten die Gelegenheiten so sehr, daß man selten den Entschluß faßte, eine Liebschaft auf ewig fortzusetzen.

Die einen lieben, um einen Zeitvertreib zu haben, die andern, um dem Leben einen Zweck zu geben. In England sind die Ideen richtig, von geringem Umfang, und enthalten immer ein Stück von trockener Geometrie. Die Sprache ist kurz, ohne Schmuck, ohne Reichtum, ohne etwas von dem Ueberflusse zu haben, der in der Unterhaltung das Notwendige ist.*) Die Vernunft stößt selten auf Klippen und gestattet wenig Widerspruch.

In Frankreich zeigt man, wenn man mit Ueberlegung spricht, einen ebenso gesunden Verstand, spricht man aber leicht und obenhin, so weiß man sich mit Witz zu helfen, man bringt mehr Reichtum und Redefluß in das Gespräch hinein, breitet mehr Schmuck und Gefälligkeit über den Gegenstand aus. Die Sprache selbst, die sich durch den Luxus verschönert, fordert dazu auf. An Geist und Grazie gewöhnt, Witzfunken hervorlockend und liebend, verwirft die Gesellschaft alles, was dieses Gepräge nicht trägt; in dem schnellen und weitschweifenden Fluge des Verstandes verirrt sich bisweilen die Urteilskraft, und wird zu spät auf den rechten Weg zurückgeführt. Die englischen Kanzelredner legen Gott die einfache Menschensprache in den Mund, die französischen suchen in der ihrigen das Erhabene der Gottheit zu erreichen.

Unsere Theater sind für Europa und für uns selbst eine Schule der Höflichkeit, der Schicklichkeit, der Vernunft, eine Ausstellung natürlicher Ereignisse heitern und rührenden Inhalts, die mit Hilfe eines reinen, gediegenen Vortrags unmittelbar auf das Herz und den Verstand aller Völker einwirken können und sollen. Die Theater unsrer englischen Nachbarn finden nur vor ihren eigenen Augen Gnade, sind nur Lokalgemälde für sie selbst, und machen nur Eindruck auf ihre Nationalorgane.

Die Beredsamkeit ihrer Redner ist rein logisch, und eine Kopfphilosophie; sich auf die Vernunft beschränkend, hat sie es nur mit der Vernunft zu schaffen, die ihr Gehör gibt. Sie verschmäht die Rednerkünste oder kennt sie nicht, sie weiß nichts von den leidenschaftlichen Ergüssen großer Gemütsbewegungen, welche das Herz ebenso sehr als den Verstand ansprechen. Ja, was auf den Gedanken bringen sollte, daß der Gang ihrer Beredsamkeit mehr der Dürftigkeit als dem Willen und der Absicht zugeschrieben werden muß, ist, daß Herr Burke, dessen Eloquenz ganz französisch war, es ihr zu verdanken hat, zu den größten Rednern seines Landes gezählt zu werden, obschon man ihm etwas zuviel Deklamation vorgeworfen hat.**)
Die Beredsamkeit unsrer Redner erhält ihren Glanz von dem großen Charakter, in dem sie auftritt, von der Wahl der Worte und Wendungen, von der Kenntnis des menschlichen Herzens, das sie zu führen hat, von Abschweifungen, die bisweilen der Hauptsache fremd sind, aber immer auf dieselbe zurückzuführen, und oft den Ausschlag geben, mit einem Worte, von einer enthusiastischen Wärme, von einer Erhabenheit der Gedanken, eingehüllt in den Redeschmuck, der lange nachwirkt, und in dem einzelne Stellen vorkommen, welche die Ueberzeugung erzwingen, und einzelne Gedanken, die sich zu allgemeinen Apophthegmen erheben.

Die Tapferkeit der Engländer ist ebenso fest und echt als die unsrige, nur die unsrige glänzender als ihre. Sie verstehen sich besser auf den Handel als auf die Künste, sie sind ein in einen Winkel von Europa hingeschobenes Volk, wir liegen im Mittelpunkt; folglich ist auch ihr Einfluß ein seitwärts laufender, der unsrige ein geradeaus gellender. Unsre Städte sind wohlhabender, ihre Gefilde reicher.

*) Le superflu, chose très-nécessaire. Voltaire.
**)Einer der ersten Staatsmänner von England sagte mir: Burke’s oratory is rather turgid. (Burkes Beredsamkeit ist etwas schwülstig.)

Die englische Literatur, in so vieler Hinsicht durch die großen und wichtigen Resultate der Ausdauer und in der Philosophie achtungswert, ist gleichwohl im allgemeinen trocken, dürr, und vor allem ohne Abwechslung. Das „toto divisos orbe Britannos“ klebt ihnen noch immer an. Das Jagen und Haschen ihrer Schriftsteller nach Originalität hat sie oft zur Sonderbarkeit verleitet. Das Bestreben, tief zu sein, macht, daß sie eine Idee nach allen Seiten hin drehen, und dergestalt ausspinnen, bis ihr letztes Ergebnis in Dunkelheit, in Sophismen und Paradoxe ausläuft. Immer nach dem Erhabenen strebend, verfallen sie nicht selten ins Riesenhafte, ins Kolossale, und ihre Kunst ist in den meisten Fällen im Gegensatz mit der Natur, deren Nachahmung sie doch zum Hauptteil ihrer Geisteswerke zu machen bemüht sind.

Da die Geschichte etwas Positives ist, so konnte sich ihre Vernunft und ihre Urteilskraft mit besserem Erfolg damit beschäftigen. Dieses Feld ist bei ihnen vorzüglich gut ausgebaut, insofern das Unkraut und die Giftpflanzen der Nationalvorurteile und des Parteigeistes den guten Samen nicht ersticken. Ihre Romane, von denen man so viel Redens und Rühmens gemacht hat, sind wenig mehr als Schilderungen ihres Landes und ihrer Sitten. Die darin geschilderten Leidenschaften gehören der Welt an, Farben und Charaktere sind englisch.

Die epische Poesie ist für den Dichter geschaffen, der alles wagt, dem es gleich gilt, sich bis zum Himmel zu erheben und in die Hölle hinabzusteigen. So war es denn natürlich, daß England einen solchen finden mußte. Milton ist (wie ich in einer andern Schrift bemerkt habe), wenn er sich im günstigen Augenblicke seiner poetischen Ader befindet, und ihn sein Gegenstand emporhebt, der erhabenste von allen bekannten Dichtern, ohne selbst Homer und Tasso ausnehmen zu wollen, obschon ich als Leser dem letzteren den Vorzug gebe. Das Verlorene Paradies enthält Stellen, welche den höchstmöglichen Begriff vom Genius seines Verfassers geben, und stellt alles dar, was der menschliche Geist Hohes und Erhabenes erzeugen kann; gleichwohl fehlt es ihm auch nicht an Längen, an ziel- und farblosen Stellen, in welchen weder Kraft noch Eleganz anzutreffen ist. Hätte Milton später und unsrer Zeit näher gelebt, wäre er nicht in der unglücklichen Periode, in die sein Leben fiel, vom Parteigeist hingerissen und niedergedrückt worden, hätte ihm die Glücksgöttin jene Heiterkeit und Unabhängigkeit zugelächelt, deren er bedurfte, um seinem Gedichte mehr Glätte zu geben, hätte er nicht bisweilen seine Begeisterung überboten und seiner Muse Gewalt angetan, so würde er die letztmögliche Stufe der Vollkommenheit erreicht, und die Siegespalme des Epos davongetragen haben. Er starb ohne Ruf! Aber die Engländer ließen ihn nicht lange ohne Nachruhm. Sie sind die Leute nicht, die einen einzigen Zweig am Baume der Nationaleitelkeit verdorren lassen!! Mit Milton glückte es ihnen besser als mit Shakespeare, denn in der Tat ist der britische Homer beinahe das, wozu sie ihn gemacht haben.

Doch wie groß ist der Abstand von einigen guten Werken, die England aufzuweisen hat, von den literarischen Schätzen in allen Gattungen, die Frankreich besitzt! Eben diese Schätze sind es, welche Frankreich zur Sprach- und Lehrmeisterin von Europa gemacht haben. Würde die französische Sprache Europas Sprache geworden sein, wenn unsre Dichter, unsre Philosophen, unsre Moralisten, unsre Redner, unsre Schriftsteller, selbst die von der leichtesten Gattung (Les plus profanes.), nicht wären? Und wenn ich im Auslande sagen höre, daß die schönen Tage der französischen Literatur vorüber sind, so gebe ich es insofern zu, als wir die heutige mit der früheren vergleichen, muß es aber leugnen, wenn ich zwischen der unsrigen und der fremden eine Vergleichung anstelle. Voltaire und Buffon lebten noch gestern (Vivaient) hier. Noch ist die Asche von Saint Lambert, von Thomas, d’Alembert, Diderot, Marmontel warm, noch schreiben Colin d’Harleville, Picard und andere Lustspiele, wie man sie sonst nirgendwo schreibt, und werden überall übersetzt, ohne eine Schar junger, angehender Schriftsteller zu rechnen, deren Talent, von dem kaum beruhigten politischen Faktionsgeist noch unterdrückt, bald in einem Glanze erstrahlen wird, der dem unsrer größten Meister gleichkommen dürfte.*) Wer sagt uns, wenn ein halbes Jahrhundert über die Schriften la Harpes und Delilles dahingerollt sein wird, ob auch sie nicht in die Galerie der Klassiker aufgenommen werden, auf die mein Vaterland stolz ist? Ueberdies ist ja die Menschheit in Masse wie der einzelne Mensch zu betrachten, der besonders nach den Stürmen der Ruhe bedarf. – Ja, ich begreife kaum, wie und wann es den Franzosen möglich wäre, in ihrer Literatur, welche den höchsten Gipfel erreicht hat, noch weitere Fortschritte zu machen. Können unsre großen und einzigen Muster wohl je übertreffen werden? Heißt von der Bahn abweichen, die sie uns vorgezeichnet haben, nicht, sich vorsätzlich und vermessen verirren wollen? Sollen wir uns nicht mit dem schönen Erbteil begnügen, sie nachzuahmen? – Aber es gibt noch freie Künste, in welchen der Ruhm, zur Vollkommenheit zu gelangen, uns noch erwartet. Diese Ernte aller Lorbeeren wird bei dem allgemeinen Enthusiasmus, der die höher gestiegene Nation ergriffen hat, und bei dem Aufsammeln der unermeßlichen Kunstschätze, die wir nationalisiert haben, uns nicht entgehen.

*) Spätere Anmerk. Jetzt, da ein Held Frankreich wieder neu geboren hat, jetzt, da Frankreich die Wohltat einer festen und starken Regierung genießt, jetzt wird die Literatur auch gewiß ihren alten Ruhm behaupten. (Verf.)

Die Begriffe der Franzosen und Engländer über den Ehrenpunkt sind ebenfalls eine der charakteristischen Verschiedenheiten beider Völker. In Frankreich waren, wie ich schon bemerkt habe, die Zweikämpfe eine zur Gewohnheit gewordene Manie, in England sind sie eine nur selten vorkommende Notwendigkeit. Die Engländer sind tapfer, aber es liegt in ihnen eine sentimentale Moralität, die sie vom Blutvergießen zurückhält, und mancher, der kein Bedenken tragen würde, sein Lebensziel abzukürzen und sein eigener Mörder zu werden, wird Anstand nehmen, sich bei jeder leichten Veranlassung der Gefahr auszusetzen, von der Hand seines Widersachers zu fallen. Die Vorurteile der Erziehung sprechen ebenfalls zugunsten dieses heilsamen Widerwillens, und die Sitte des Boxens unter dem Volke, eine Sitte, die auch höheren Ständen nicht fremd ist, kommt dem moralischen Gefühle zu Hilfe, verstärkt es, löscht aber zugleich das glänzende Feuer des enthusiastischen Ehrenpunktes aus, das bei uns in so verzehrende Flammen ausbricht. Ich sah während meines Aufenthaltes in England im Foyer des Theaters von Coventgarden, populi stante corona (Vor einem zahlreichen Kreise von Zuschauern.), einen Pair sich mit einem Bäcker boxen, der ihm nichts schuldig blieb.

Dergleichen Fälle sind selten, aber sie ereignen sich. Dazu kommt ein neuer Beweggrund, sich gegen den Zweikampf zu verwahren, und ein neues Mittel, sich ihm zu entziehen. Man weiß, daß die Engländer dem Genusse, ich möchte sagen, dem Uebergenusse des Weins ergeben sind. So kommt es denn oft, daß die Lage, worin sie sich des Abends versetzen, sie zu Händeln verleitet, die am folgenden Morgen mit dem einzigen Worte abgetan werden: I was in liquor. Ich war betrunken*). Dieses Geständnis wirft kein ungünstiges Vorurteil auf den Charakter dessen, der es macht, und gleicht alles wieder aus. In Frankreich würde es dazu dienen, den Trunkenen von gestern und den Bekenner von heute zwiefach zu brandmarken, und eine Entschuldigung dieser Art würde man entweder der Feigherzigkeit oder einem sehr beschränkten Verstande zuschreiben.

In Frankreich machte jeder Versuch, einen Ehrenhandel beizulegen, die Sache schlimmer; man war sicher, sich dadurch ohne Erfolg um seinen Ruf zu bringen. In England ist der Hauptpunkt: 1. unnötigerweise kein Blut zu vergießen, 2. gegen andere und gegen sich selbst nicht im Unrecht zu sein. Ein Engländer, der sich dem Tode aussetzt, will wissen, warum er es tut. Ein Franzose in Todesgefahr tröstet sich im voraus damit, daß ihn seine Freunde bedauern, seine Geliebte ihn beweinen wird. Die englischen Duellgesetze sind außerordentlich strenge. Auch die unsrigen waren es. Aber nur jene werden befolgt; und daher kommt es, daß die Zweikämpfe in England selten, aber auch desto ernster sind. Bei uns ging man oft abends in die Oper, wenn man am Morgen im Gehölze von Boulogne seinen Mann erschossen oder erstochen hatte. In England ist man gezwungen, wenn man nicht in drei Instanzen sein Recht dargetan hat, das Land zu verlassen, um der Strafe des vorsätzlichen Mordes zu entgehen. Diese auffallenden Verschiedenheiten sind notwendige Folgen des Unterschiedes im natürlichen Charakter beider Völker, und beweisen, daß die Behandlungsweise in der Regierung und in den polizeilichen Einrichtungen, die für die eine Nation passen, auf die andere nicht übertragen werden kann, ohne daß man sich eines schülerhaften Fehlers in der Legislatur schuldig macht. Deswegen ist auch unter allen Uebeln, welche die Engländer uns angetan haben, und deren sie sich frohlockend rühmen, in meinen Augen das erste und vornehmste, die lächerliche Anglomanie und Affensucht, die sie uns eingeimpft haben, sie, welche ehedem die sklavischen Nachahmer unsrer Moden waren, und, wie Burke in seinem bildlichen Stil mit Recht sagt, sich vor nicht langer Zeit mit den Lumpen unsrer Trödelbuden behingen.

*) Der englische Ausdruck ist gemäßigter und schonender; der Franzose sagt: j’étais entre deux vins. Unter Lichtenbergs Formeln der Trunkenheit kommt folgende am nächsten: Ich hatte ein Glas zu viel getrunken.

Daher ist unter unsern jungen Leuten, und unmerklich in der ganzen Nation, die Gewohnheit entstanden, unsre alten, eingeführten, anständigen Gebräuche und Formen zu belachen und zu verachten, daher die Vermischung der Stände und Rangordnungen, deren Folge die völlige Umwälzung gewesen ist, daher die Abschaffung der äußeren Scheidewände und Abstufungen, welche allein vermochten, eine bewegliche Phantasie im Zaume zu halten und an deren Stelle man neue Sitten, neue Gebräuche und Kostüme gesetzt hat, wodurch alles einander näher gerückt, alles geebnet, nivelliert werden, und die Subordination aufhören sollte, die nichts anderes ist als der dem Alten herkömmlich gebrachte Zoll der Ehrerbietung.

Um das Verzeichnis der Gegensätze zwischen England und Frankreich zu vervollständigen, ist es nicht unangebracht, den Kontrast der Erziehungsarten in beiden Ländern vorzuführen. Man müßte den steifen, linkischen Stolz der jungen Engländer, die weder sprechen noch grüßen können, und ihre nichtssagende, rein passive Stellung mit der bisweilen zu lärmenden und um sich greifenden französischen Lebhaftigkeit vergleichen, die zwar im Schattenhain der Grazien aufgewachsen ist, der es aber oft an Reife der Weisheit fehlt.

Man müßte die abstoßende Steifheit der Engländer, ihre kalte Zurückhaltung, ihr Ungeschick, elegante Formen anzunehmen, ihren fast allgemeinen und beständigen Mangel an Unterhaltungsgeist und Unterhaltungston, und das ihnen von Natur anklebende schroffe Wesen zu erklären suchen; man müßte zeigen, wie diese Eigenschaften mit ihrem Himmelsstrich, ihrer Lebensweise, ihrer Kost, ihrer Sprache, ihrer Regierungsform, und vor allem mit ihrer geographischen Lage zusammenhängen. Man würde handgreiflich beweisen, daß trotz der blinden Vorliebe (Engouement), welche man, ohne zu wissen, warum, seit langer Zeit für diese Nation hat, sie eine von denen ist, die von der Vorsehung in vieler Hinsicht am wenigsten begünstigt worden; es würde in die Augen fallen, daß in ihr alles später sich entwickelt und früher aufhört als sonst irgendwo, so daß die Elite der Nation – die wenigen, welchen der Beruf geworden ist, für die übrigen zu denken – erst mir den dreißig Jahren anfangen, denkend und nützlich zu werden, nachdem sie bis dahin mit ihren Altersgenossen ihre Zeit zwischen der Jagd, die sie ermüdet, dem Zeitungslesen, das sie zerstreut, und dem Wein, der sie einschläfert und vor der Zeit geistig und körperlich abnutzt, zugebracht haben. Man würde endlich aus diesem allen den Schluß ziehen, daß die Engländer ein mathematisches Volk sind, für welche das Leben ein kaltes Räsonnement ist.

Die Natur schenkt nicht alles; das Gold ihrer Gunstgaben führt immer einen fremdartigen Zusatz mit sich. Warum wird der französische Geist, der gewöhnlich in den schönen Tagen der Jugend mit so großem Ungestüm sich über das Strombett ergießt, nicht immer von der Klugheit gezügelt, und in den Grenzen zurückgehalten, welche Vernunft und Nachdenken ihm setzen?

Wäre aber hier alles, wie es sein sollte, so würde es den übrigen Nationen an dem tröstlichen Verwände fehlen, die Gesetztheit, die Gründlichkeit denen zu versagen, die dem Glanze und der Lebhaftigkeit zu sehr nachjagen, und unsern jungen Landsleuten, welche dem leichten, liebenswürdigen Wesen zu viele Opfer bringen, vor dem Mannesalter die korrekte Urteilskraft absprechen möchten. Daraus folgt mit wenigen Ausnahmen, daß ein Engländer in seiner Jugend langweilend und gelangweilt ist, und oft zu leben aufhört, ehe er an diesen beiden Klippen vorbeigeschifft ist; daß hingegen ein Franzose in seiner Jugend sehr oft unausstehlich ist, gewöhnlich aber am Schlusse seines Lebenssommers ein ausgezeichneter, wesentlich nützlicher Mensch wird. Jener besitzt bisweilen ein Verdienst, das aber nur selten mit Liebenswürdigkeit verbunden ist; dieser muß das Feuer der Jugend auslodern lassen, um zur Vernunft zu gelangen, zur wohltuenden Vernunft, die bei dem Engländer die Folge seines phlegmatischen Temperaments, bei dem Franzosen ein Sieg über seine Naturanlagen ist.

Der höchste Ruhm der Engländer, derjenige, welcher oft bei ihnen, sowohl im Vaterlande als auf Reisen, alle übrigen Gattungen von Ruhm ersetzt, sind ihr Nationalgeist, und jene patriotische männliche Geisteskraft, welche dieses Volk als Ganzes zu einem großen Volke macht. In Masse geben sie sich eine nachdrückliche, gebieterische Stellung, die mit dem natürlichen Bollwerk des sie umströmenden Ozeans verbunden, ihnen das Ansehen der Kraft, der Stärke und einer schroffen, rohen Natur mitteilt, die man – man wolle oder wolle nicht – achten muß. Jeder einzelne bekommt sein Scherflein von dieser unwillkürlichen Hochachtung, die man für ihr System hegt. Ist man doch überdies immer geneigt, denen das meiste zu gewähren, welche entweder das wenigste verlangen oder anderen das wenigste zukommen lassen.

Die Franzosen haben einen Gemeingeist (Esprit public, public spirit), der keinem andern Nationalgeiste nachsteht; da aber Frankreich als Macht bekannt genug ist, so sprechen sie nicht viel von ihrem Vaterlande. Dagegen fühlt der Franzose seinen Wert, und in diesem Bewußtsein spricht er gern von sich; das mißfällt. Die Engländer geben sich das Ansehen, sich selbst zu vergessen, um desto mehr ihr Vaterland zu rühmen; sie gehören samt und sonders zu der großen Nationalverschwörung, welche nur einen Zweck hat, nämlich, ihre Niederlagen und ihre schwachen Seiten zu verbergen, ihre Siege und ihre Macht zu übertreiben, mit einem Worte, ihr Vaterland zu preisen, wie ein Liebhaber seine Geliebte: das langweilt, mißfällt aber nicht so sehr.

Wollte ich die Anglomanie erklären, die die Reise um Europa gemacht hat, aber gegenwärtig im Abnehmen ist, so würde ich ihren Grund in dem stillen und ruhigen Stolze finden, womit die Engländer die Welt zum Kampfe heraus gefordert haben und womit sie besonders als die Rivalen Frankreichs aufgetreten sind. Sollte man nicht glauben, wenn man sie reden hört, ihre Ansprüche wären Rechte, ihr Eigendünkel Gründe, ihre Behauptungen entscheidende Beweise, und ihr Stolz eine Tugend, der alles huldigen soll!

Aber der Hauptzug im Charakter der Engländer ist und bleibt ihr eingewurzelter Franzosenhaß, ihre Verachtung aller Nationen, ihr kalter Egoismus, der das ganze menschliche Geschlecht auf dem Altar des Vaterlandes schlachten würde, um seinen unersättlichen Ehrgeiz zu befriedigen, um seinen Herrscherdurst zu stillen, und um sich auf der von ihm usurpierten Höhe zu erhalten.

Die englischen Schiffe sind auf allen Meeren Vulkane, welche in ihren Feuerschlünden das Verderben aller Nationen mit sich bringen, reißende Geier, welche auf den Klippen, die ihre Inseln umgürten, auf Raub, Beute und Opfer lauern. Als Kosmopolit, als Freund der Menschheit behaupte ich: wenn die Engländer sich nicht in die Grenzen einschließen wollen, welche ihnen Natur, Billigkeit und eine gesunde Politik angewiesen haben, so muß das Axiom des Cato, delenda est Carthago, dieses Axiom der allgemeinen Wohlfahrt, auf sie angewendet werden.

Will sich England begnügen, der Welt das Bild einer großen Nation zu geben, einer durch den Handel blühenden und mit Recht für kunstfleißig und kunstgeübt geltenden Nation, läßt es sich daran genügen, durch seine Verfassung und durch sein Gewicht in der politischen Weltwage eine schöne Stelle unter den Regierungen einzunehmen, scheint ihm die Ehre hinreichend, großen Männern, Philosophen, und einer Zierde der Welt, seinem Newton, das Dasein gegeben zu haben, will Großbritannien, zufrieden mit der alten Achtung, die es einflößt, und mit seinen Aussichten auf Wohlstand, sich darauf beschränken, seinen schwankenden Kredit aufrecht zu halten, seine von innen bedrohte Existenz zu verjüngen und das ihm entzogene Zutrauen wiederzugewinnen, kann es sich endlich entschließen, die Wege der Gerechtigkeit, der guten Treue, der Mä?igung zu betreten – nun, so mag es leben und bestehen! So mag es fortfahren, uns eine im Abnehmen begriffene Nation von Sonderlingen und Kraftmenschen darzustellen, der nur noch eine kurze Frist übrigbleibt, ihr Schicksal zu verbessern, sich mit den Grundsätzen aller Völker auszusöhnen, und die erschütterten Grundfesten eines Gebäudes zu stützen, das mehr Schein als Festigkeit hat, und bald einstürzen muß, wenn Weisheit und eine liberale Vernunft sich nicht beeilen, den Geist des Schwindels, des Machiavellismus und der Usurpation zu verbannen und deren Stelle einzunehmen.

Beim Entwurf dieser Skizze haben Haß und Erbitterung die Feder nicht geführt. Ich bin mehr auf Wahrheit bedacht gewesen, obschon ein Franzose es nie vergessen wird, daß die englische Politik die französische Revolution erzeugt hat, um die beiden letzten Franzosen einander gegenüberzustellen, und sie beide in demselben Augenblick einen von der Hand des andern fallen zu lassen. Ich habe Englands Städte und Landschaften besucht, ich habe die Obrigkeiten, das Militär, das Volk kennen gelernt. Abwechselnd bin ich zu den höchsten und niedrigsten Ständen hinauf und hinab gestiegen, ich habe die Projekte ihres Ehrgeizes, die falsche Treulosigkeit ihrer Schmeicheleien und Liebkosungen, die Fallstricke ihrer Hilfsleistungen und die Naivetät ihres Hasses durchschaut. Ich bin Zeuge gewesen, wie sie das Elend mit Geld unterstützt haben, um es zu verraten, wie sie das Unglück in Schutz genommen haben, um den Unglücklichen den Dolch ins Herz zu stoßen. Ich habe die Engländer gesehen, wie sie die Werkzeuge, deren sie sich bedient haben, zerschlagen und Feindschaften angefacht haben, in der ergötzlichen Absicht, die Opfer aller Parteien ihrer Rache aufzuopfern. Ich habe mich überzeugt, daß es kein Ausrottungs- und Vertilgungsmittel geben könne, das, gegen uns gekehrt, in ihren Augen nicht erlaubt, rechtmäßig und geheiligt sei. Ihr Wahlspruch ist: dolus an virtus, quis in hoste requirat? (Virgil. Aen. II. 390.) Es ist mir bis zur Evidenz klar und bewiesen, daß alles, was zur Herrschaft führt, ihnen genehm ist und von ihnen benutzt wird, daß für die Engländer ihre Insel die Welt ist, und die übrigen Teile der Erde nicht zum Departement der Freiheit und Menschheit gehören.*)

*)Dieses mit einer in Galle getauchten Feder entworfene Bild Englands, das dem Verfasser beliebt, eine Parallele zu nennen, geben wir in der Uebersetzung, ohne einen Zug zu verwischen. Es ist ein Beitrag zur Charakteristik der Meinungen in der Zeit, da der Verfasser schrieb. Uebers

Ich will hier auf meine Kosten ein Beispiel der Strenge zeigen, womit die englische Rechtspflege verfährt, und der Unannehmlichkeiten, welchen man durch dieselbe ausgesetzt ist. Die Engländer selbst geben diese Unannehmlichkeiten zu, sind aber der Meinung, in einem Handelsstaate, wie der ihrige, könne es nicht anders zugehen, und der Nachteil werde durch überwiegende Vorteile hinlänglich ausgeglichen.

In meinem neunzehnten Jahre waren meine Finanzen schon so zerrüttet, als sie es mein Leben lang infolge meines leichten und sorglosen Charakters gewesen sind, den ich gern edel und groß nennen würde, wenn mit dem Hange, schlechte Geschäfte zu machen, die uns zum Verlust der Ruhe und der Unabhängigkeit führen, sich Edelmut und Seelengröße vereinigen ließen. Ich hatte einem gewissen Smith, Kastellan des Schlosses zu Mouceaux (und also in Diensten des Herzogs von Orleans), einen Schein über zweitausend kleine Taler ausgestellt, wofür er mir einen Phaeton und zwei Pferde verkauft hatte. Mein Schein, auf acht Monate lautend, war ungefähr zwei Monate vor meiner Abreise aus Paris unterzeichnet worden.

Einige Zeit nachher kam der Herzog von Orleans, mit dem damaligen Prinz von Wales eng befreundet, nach London. Eines Tages, als ich ihm meine Aufwartung machen will, finde ich im Vorzimmer Herrn Smith, der mir die herrlichsten Dinge von der Welt sagt, und entzückt ist, mich zu sehen. Ich erwähne meinen Schein mit keinem Worte, weil es nach einem allgemeinen Axiome heißt: qui a terme, ne doit rien. (Wem ein Zahlungstermin gesetzt worden, ist bis dahin nichts schuldig.) Bald darauf speise ich mit dem Herzog von Orleans bei dem Grafen von Adhémar. Man spricht von einem nahen Wettrennen. Ich jammere, daß es mir an Pferden fehlt, dem Feste beizuwohnen. Der Herzog gibt mir den Rat, mich an meinen allezeit dienstfertigen Smith zu wenden. (à Smith, qui est tant mon serviteur.) Ich danke Sr. Hoheit für den Rat. Am folgenden Morgen stellt Smith sich bei mir ein, und nach Verlauf von kaum zwei Stunden bin ich zu Pferde und mein Jockey reitet hinter mir. Um vier Uhr nachmittags komme ich nach Hause, mich umzukleiden. Kaum bin ich aus den Bügeln, als ein mir unbekannter Herr mich begrüßt. In seinem Gefolge sind zwei Jemande (Deux quidams) von widrigem Aussehen. Er raunt mir ins Ohr: ich sei sein Gefangener, und müsse ihm folgen. Ein kalter Schweiß überlief mich; ich hatte Mühe, zu mir zu kommen; kaum erholt, frage ich ihn, was er von mir wolle, und falle aus den Wolken, als ich erfahre, daß ich auf Antrag eines Herrn Smith sein Arrestant bin und augenblicklich mit ihm müsse. Ich hatte nicht übel Lust, Widerstand zu leisten, aber mein Wirt warnte mich vor Gefahr. Ich stieg also mit dem dicken Herrn in den Wagen. Unterwegs erzeigte er mir die Ehre, sich zu freuen, daß ich so ruhig geworden; und weil er sehe, wie gut ich mich benähme, sei er ebenfalls entschlossen, mir aufs artigste und höflichste zu begegnen. Er fing damit an, daß er seine beiden Begleiter entließ. Zugleich geruhte er, mich zu benachrichtigen: was mir begegne, sei ein gewöhnliches Ereignis, geschehe alle Tage in London, und gelte für etwas Einfaches, Natürliches. Er zählte mir ein langes Verzeichnis von ausgezeichneten Namen her, Engländern und Ausländern, welchen Ähnliches widerfahren sei, und schloß mit der Bemerkung, die Hauptsache bestehe darin, von beiden Seiten den Anstand nicht zu verletzen. Ich unterbrach ihn mit der Frage, wohin er mich führe? – „In eine sehr anständige Wohnung,“ erwiderte er gravitätisch, „in ein Sponging-House.*) – Hier,“ fuhr er fort, „bleibt man einige Tage, bis man ins eigentliche Gefängnis abgeführt wird. Da Sie aber nichts schuldig sind, und erklärt haben, nichts bezahlen zu wollen, so gebe ich Ihnen den Rat, zu einem ehrlichen Anwalt meiner Bekanntschaft zu schicken, der Sie in weniger als zwei Stunden befreien wird.“ – „Aber bedenken Sie nur, mein Herr, das fürchterliche Aufsehen, das diese Geschichte machen muß.“ – „Keineswegs; niemand wird ein Wort davon erfahren, und sollte es auch ruchbar werden, so kümmert sich niemand darum.“ – „Ich bin aber zu einem großen Diner eingeladen.“ – „Sie werden hier recht gut zu Mittag und zu Abend speisen.“ – „Womit werde ich mich aber bei dem Herrn entschuldigen, der mich erwartet?“ – „Damit, daß Sie die Einladung vergessen haben.“ – „Das wäre höflich!“ – „Oder Sie haben sich plötzlich übel befunden.“ – „Aber die Schande!...“ – „Oh, mein Herr, es ist gar nicht angenehm, sich mit Ihnen zu unterhalten; Sie wiederholen beständig das nämliche; ich habe Ihnen ja gesagt, daß dergleichen alle Tage den vornehmsten Leuten begegnet. I’ll tell you what. (Ich will Ihnen nur einen Fall anführen.) Lord *** wollte mit der Frau des Sir W*** zu Bette gehen. Sir W*** ist ein lächerlicher, eifersüchtiger Hüter seines Weibes, der sie mit keinem Auge verläßt. Lord ***, entschlossen, eine ruhige, ungestörte Nacht zu haben, läßt den Baronett, der ihm nichts schuldig ist, unter dem Vorwand einer bedeutenden Forderung festsetzen. Ihm war bewußt, daß jener would bring an action against him, ihn gerichtlich belangen, und er zu den damages, zu den Kosten und zu einer ansehnlichen Entschädigung verurteilt werden würde; das war denn auch der Fall.“ (Hier konnte ich mich des Lachens nicht erwehren.) – „Sie sehen wohl,? fuhr mein Begleiter fort, „wie es geht, und wie Sie sich zu benehmen haben. Mich freut’s; Sie sind schon ein ganz anderer Mann; You behave like a man; ich kenne Sie kaum wieder.“ – Unterdessen waren wir angekommen. Wir steigen vor einem häßlichen Hause, in einer häßlichen Straße (Wild-Street) aus. Man öffnet die Tür, schließt dreimal hinter uns ab. Kaum bin ich oben, als ich gefragt werde, was ich zu Mittag verlange? Was für Wein? Und ob ich lieber Small beer oder Porter trinke? – „Nichts von dem allen; einen Anwalt will ich, und Herrn Reed. Feder und Papier will ich, und das gleich. Ich gebe fünf Guineen, wenn ich nicht in diesem Hause schlafen darf.“ In weniger als einer Stunde hatte ich beide Herren bei mir. Der Anwalt war der Meinung, ich sei gegen Fug und Recht verhaftet, allein ich müsse zunächst das Geld bezahlen oder einen Bürgen stellen. Der gute Herr Reed erbot sich dazu und ward angenommen. Nach vielen Schreibereien und anderen Förmlichkeiten zahlte ich zehn bis elf Pfund Kosten und erhielt meine Freiheit. Gegen elf Uhr abends kam ich nach Hause, krank vor Wut.

*) Sponging house oder Spunging house ist ein Haus, in das Schuldner gebracht werden, ehe sie ins Gefängnis kommen, und wo die Bailiffs, welche sie festgenommen haben, mit ihnen auf ihre Kosten leben. Die Benennung ist charakteristisch, denn in solchen Vorhöfen der Gefängnisse wird der Geldbeutel wie ein Schwamm (spunge) geleert und ausgepreßt, und man bringt nur solche dahin, von denen man vermutet, daß sie etwas draufgehen lassen können und sich bald loskaufen oder loskautionieren werden. Uebers

Gleich am folgenden Morgen eile ich zum Herrn von Adhémar, erzähle ihm den Vorfall, frage ihn um Rat. – „Der Herzog von Orleans“, gibt er mir zur Antwort, „ist heute früh aufs Land gefahren, und wird Donnerstag bei mir speisen. Kommen Sie dann zu mir; ich werde ihn vorbereiten, und will, daß Ihnen recht geschehe. Es ist ganz abscheulich! Erzählen Sie ihm, wie sich alles zugetragen hat; aber Mäßigung, Herr Graf, Mäßigung! Bestehen Sie ehrerbietig darauf, daß Smith entfernt werde. Ich will hoffen, Sie werden keine Fehlbitte tun, und mit dem Herzog zufrieden sein. Er ist zu sehr Edelmann, als daß er Ihnen diese Genugtuung versagen sollte.“

Es wird Donnerstag. Ich finde mich ein, trete zum Herzog von Orleans, und erbitte mir die Erlaubnis, ein paar Worte mit ihm zu sprechen. „Ich weiß, was Sie wollen, Herr von Tilly,“ sagte er zu mir, „Graf von Adhémar ist Ihnen zuvorgekommen ... auch Smith hat mir heute gesagt ...“ – „Wie, gnädigster Herr, ist Smith noch bei Ihnen?“ – „Ja, freilich.“ – „So hat er Ihnen nicht die Wahrheit gesagt, und ich muß glauben, daß Ew. Hoheit in der Sache nicht recht berichtet sind ...“ – „Herr von Tilly, wenn man Geld schuldig ist, hat man unrecht, selbst gegen einen Menschen wie Smith.“ – „Ich bin ihm nichts schuldig.“ – „Mit Erlaubnis, ja. Sie haben Paris verlassen, waren ihm schuldig, und haben ihm kein Wort gesagt; ich habe Ihren Schein gesehen, er ist in zwei Monaten fällig; man hat Smith hinterbracht, daß Sie eine Reise nach Italien vorhätten. ... Ueberdies ist Paris eben nicht der Ort, wo ein Mann wie Smith einen Grafen von Tilly belangen kann ... In England läßt sich eher so etwas tun ... Ich mißbillige den Schritt, aber er hat sich Zeit und Ort zunutze gemacht.“ – „Gnädigster Herr, was ist das für eine Logik? ... War’s nicht um der unumschränkten Ehrerbietung willen, die ich Ihnen schuldig bin, ich würde kein Wort mehr anhören ... Erlauben mir Ew. Hoheit die Frage: Ist dieses Räsonnement von Smith?“ – „Es ist von mir und von ihm.“ – „So muß ich mich enthalten, ihm den rechten Namen zu geben.“ – „Mein Herr!“ – „Gnädigster Herr, ich will die Frage ganz einfach stellen. Wollen Ew. Hoheit den Smith fortschicken, einen Elenden, der mir den empfindlichsten Schimpf angetan, der mich hat festnehmen lassen, ohne mir vorher ein Wort zu sagen, ohne meinen Schein gerichtlich vorzuzeigen, weil er wohl wußte, daß er nicht abgelaufen war – einen Elenden, der auf die bloße Angabe, daß ich ihm Geld schuldig sei, einen französischen Edelmann festnehmen läßt, der die Ehre hat, Ew. Hoheit seine Aufwartung zu machen – einen Elenden, der gerade diese Ehre benutzt und mißbraucht!“ – „Ich kann ihn nicht von mir lassen. Was Ihnen widerfahren ist, schändet in England nicht; Smith ist mit meinen Angelegenheiten in seinem Fache vertraut; er kennt sie besser als ich selbst, er ist mir unentbehrlich ... und in der Tat ... ich sehe nicht ein, wodurch er sich gegen Sie vergangen hat.“ – „Gnädigster Herr, ich habe eine meiner Pflichten erfüllt. Sollte ich jetzt das Unglück haben, etwas zu tun, das Ihnen mißfiele, sollte die Ehre, in Ihren Diensten zu sein, ich nicht schützen können, so ersuche ich Ew. Hoheit, sich erinnern zu wollen, daß ich meine Schuldigkeit beobachtet habe.“ – Mit diesen Worten, und ohne eine Antwort abzuwarten, machte ich dem Herzog eine tiefe Verbeugung, und ließ ihn im Fensterbogen stehen. Er blieb ein paar Minuten unbeweglich, sich den Schein gebend, als sehe er zum Fenster hinaus auf die Straße.

Herr von Adhémar verließ einige Personen, mit welchen er im Gespräch begriffen war, und führte mich in ein anstoßendes Zimmer, wo das von Madame Lebrun gemalte Porträt der Herzogin von Polignac hing. Kaum waren wir allein, als er anfing: „Nun?“ – Ich erzählte ihm Wort für Wort, was man soeben gelesen hat, und muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß es ihn empörte. Mit Unwillen rief er: „Ich muß noch einmal mit dem Herzoge sprechen!“ – „Tun es Ew. Exzellenz nicht. Empfangen Sie den Ausdruck meiner innigsten Erkenntlichkeit, aber auch zugleich die Versicherung, daß, ehe vierundzwanzig Stunden vorüber sind, ich auf meine Gefahr den Herrn Smith, sollte er auch im Vorzimmer des Herzogs sein, halbtot prügele. Ich werde Postpferde in Bereitschaft haben, und gebe Ihnen mein heiligstes Ehrenwort, daß ich mir Recht verschaffe.“ – „So sind Sie!“ erwiderte der Gesandte. „Sie würden da ein schön Stück Arbeit verrichten, wider allen gesunden Menschenverstand handeln, und in diesem Lande das Unmögliche möglich machen wollen. Seien Sie vernünftig, wenn Sie wünschen, daß ich mich in Ihre Angelegenheiten mischen soll ... Seien Sie ruhig, und warten Sie noch einen Versuch ab.“ – Nach aufgehobener Tafel hatte Herr von Adhémar eine lange Unterredung mit dem Herzoge. Der Chevalier de Durfort, der mir nicht eben wohl wollte, mischte sich in den Handel, nahm sich jedoch meiner an. Genug, einige Augenblicke nachher kam der Prinz auf mich zu und erzeigte mir die Ehre, mir zu sagen: „Herr von Tilly, ich werde Smith fortschicken.“ – Ich verneigte mich, und als der Herzog gleich nachher fortging und in den Wagen stieg, folgte ich ihm und sagte: „Ich ersuche Ew. Hoheit, den Ausdruck meiner ehrerbietigen Dankbarkeit anzunehmen. Ich habe volle Genugtuung. Geruhen Ew. Hoheit einen Mann, der das Glück hat, Ihnen gefällig zu sein, in Ihren Diensten zu behalten.“ – „Sie wollen es, mein Herr?“ – „Monseigneur, ich bitte untertänigst.“ – „Nun wohl, er bleibe, und verdanke es Ihnen.“

Am folgenden Morgen meldet man mir Herrn Smith. Ich ließ ihn nicht vor. Bis zur Abreise des Herzogs war nicht mehr die Rede von ihm. Der Herzog, den ich täglich zu sehen Gelegenheit hatte, ließ kein Wort fallen, war kalt, aber höflich. Erst lange Zeit nachher erwähnte er in Gegenwart des unglücklichen, bedauernswerten Lauzun den Vorfall, und sagte mir lachend: „Lassen Sie es sich ins Ohr sagen, daß Sie unrecht hatten.“ Ich wollte es nicht zugeben und erzählte nochmals den Vorfall; er bestand auf seiner Meinung; der Herzog von Lauzun widersprach und meinte: es sei unmöglich, eine so einfache Sache aus einem falschen Gesichtspunkte zu betrachten. Aber es gelang uns beiden nicht, den Herzog zu bekehren; er sah weiter nichts in der Sache als eine Geldschuld; die Ehre galt ihm dabei für nichts; und eben dieser Liebe zum Gelde, diesem Durst nach Gold und nach Schätzen, die er später mit einer so sündlichen und für seine Familie so verderblichen Verschwendung versplittert hat, ist es zuzuschreiben, daß sein von Natur gerades und gesundes Urteil so schändlich verdorben wurde.



Ein Aufenthalt in London von beinahe fünf Monaten schien mir ein langes Exil. Wie würde ich ihn aber genannt haben, wäre schon damals das Buch des Schicksals vor mir aufgerollt worden, hätte ich darin gelesen: „Die zwölf besten Jahre sollen aus deinem Leben gelöscht werden, du sollst sie in der Verbannung und im Elend zubringen, fern von Paris, wohin deine unruhigen Wünsche sich sehnen!“

Als ich mich anschickte, die Hauptstadt von England zu verlassen, beschleunigte ein Liebeshandel (denn was konnte ich damals für ein anderes Geschäft haben?) meine Abreise. Ich hatte einen Tag auf einem Landhause, einige Meilen von London, zugebracht, und sollte am Abend dahin zurückkehren. Bei Tische war mein Platz neben einer Dame, die eine große Rolle spielte. Sie hatte einen Anbeter, mit dem ich ziemlich bekannt war; er war auf einer Reise nach Frankreich begriffen. Diesen Umstand wollte ich mir zunutze machen und bewog den Freund, mit dem ich angekommen war, vor der Zeit und allein wieder nach der Stadt zu fahren. Ich beobachtete den Augenblick, wo die Dame die Gesellschaft verließ, traf wie von ungefähr auf der großen Stiege mit ihr zusammen, spielte sehr natürlich den Verlegenen, der nicht wisse, wie er nach London kommen sollte, und was ich vorausgesehen hatte, geschah. Sie bot mir nach einigem Zögern einen Platz im Wagen an, den ich sogleich mit vieler Erkenntlichkeit annahm. Der Weg war ziemlich lang, aber auf den schönen, festen, ebenen Heerstraßen von England bringen sechs rasche Pferde bald zum Ziel. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich mußte eilen, das Gespräch auf den Punkt zu bringen, den ich im Auge hatte, und der Dame zu erklären, sie sehe in mir einen Unverschämten oder einen Gimpel (Un impertinent ou un sot.). Da ich aber auf dem gewöhnlichen Wege nicht weiter kam, und sie meinen Wendungen mit vieler Klugheit auswich, so wagte ich einen Angriff anderer Art, den sie ebenfalls kräftig zurückschlug, bis ich endlich die schwache Seite der Festung auffand, und nicht eher vom Sturme abließ, bis mir nur noch ein zweiter Sieg übrig blieb. Die erste Eroberung war mit so ungünstigen Umständen verknüpft gewesen, daß der Wunsch nach einem bequemeren Besitze sehr natürlich war. Allein man sagte mir ins Angesicht, ich sei ein Ungeheuer, ein Räuber (glückliche Zeiten!), man werde mir nichts gewähren; ich hätte einen Triumph davongetragen, der mir nichts einbringen werde, als bittere Erinnerungen, Vorwürfe und Reue. Kurz, man kramte alle Gemeinplätze aus, die man bei ähnlichen Gelegenheiten vorbringt, und die man füglich mit dem Theramenesschuh vergleicht, der zu allen Füßen paßt. (Mir ist wohl der Récit de Théramène, aber nicht der Soulier de Théramène bekannt. Uebers) Inzwischen mußte ich vor meiner Wohnung absteigen, denn mir gelang es nicht, die schöne Beleidigte in ihr Hotel zu begleiten. Sie bediente sich des sehr scheinbaren Grundes, es schicke sich nicht, eine Mannsperson um drei Uhr morgens bei sich aufzunehmen.

Tags darauf wollte ich meine Aufwartung machen; man sagte mir, die Dame sei ausgegangen. Zwei Tage später hieß es, sie sei auf dem Lande. Ich schrieb, keine Antwort. Meine Einbildung erhitzte sich, entflammte sich durch den Widerstand: sie wiederzusehen wurde bei mir zum Bedürfnis, fast hätte ich gesagt, zu einem unentbehrlichen Glück. Ich suchte alle Gelegenheiten auf, endlich fand ich eine. Es war auf einem Balle bei der Herzogin von Ancaster. Wir hatten die Rollen gewechselt. Ich war schüchtern, sie unbefangen. Ich versuchte sie anzureden, ihr Vorwürfe zu machen, sie schwieg, und ihr Schweigen war ein noch härterer Vorwurf. Ich wünschte, sie zu einer Erklärung zu bringen, sie vermied sie sorgfältig; ich spielte die Empfindsamkeit, die Leidenschaft, noch mehr: ein wirkliches Gefühl bemächtigte sich meiner, meine Verwirrung wurde sichtbar; sie schien von der Furcht ergriffen, daß dieser Umstand und diese Lage sie vor so vielen Zeugen bloßstellen könne, und, um es zu vermeiden, brach sie endlich das Schweigen und sagte: „Wenn ich nicht eine zu tiefe Neigung im Herzen trüge, wenn ich nicht glauben müßte, daß diese Verbindung zu bekannt sei, so würde ich Sie anhören, und es würde mir gleichgültig sein, ob man uns bemerke oder nicht; aber ich gehöre mir selbst nicht an, und beschwöre Sie, meiner zu schonen und sich zu achten.“ Ich fuhr leise fort, wollte meine Rechte in Erinnerung bringen; sie aber unterbrach mich: „Sie haben keine,“ sagte sie, „ich hingegen bin berechtigt, mich über Sie zu beschweren; doch hier ist es weder die Zeit noch der Ort, Ihnen Vorwürfe zu machen; ich verspreche Ihnen, Sie übermorgen bei mir zu sehen, wenn Sie vor zwei Uhr kommen wollen ...“ Zugleich entfernte sie sich, trat zu einigen Frauen, mischte sich in ihren Kreis, und ließ mich halb bestürzt, halb über das ihr abgedrungene Rendezvous erfreut stehen.

Die Nacht schien mir endlos, der folgende Tag ein Jahr. Ich war ein Raub widersprechender Gedanken. Bald siegte das Vergnügen, sie wiederzusehen, bald riet mir die verletzte Eitelkeit, die dargebotene Gelegenheit zu verwerfen. Endlich gewann die Sehnsucht die Oberhand ... ich gehe hin, lasse mich melden, werde angenommen; sie ist allein. „Es steht bei Ihnen,“ sagte sie, „meine Lage zu mißbrauchen, und mich der Notwendigkeit zu unterwerfen, Sie zu meiden, oder meiner zu schonen, und sich ein ewiges Recht auf meine Dankbarkeit, auf meine Freundschaft, und vor allem auf meine Achtung zu erwerben.“ – „Ein Recht ... es steht bei mir? ... (rief ich). Wenn Sie mir die Wahl lassen, so habe ich keine Wahl, so kann ich unmöglich großmütig sein.“ – „Wie kann Ihnen die Wahl schwerfallen (erwiderte sie), wenn von der einen Seite meine ganze Achtung, von der andern ...“ – „Meine ganze Liebe (fiel ich ein) geboten wird.“ – Zugleich mit diesen Worten flog ich, hingerissen von einer gebieterischen Kraft, von einem unbezwinglichen Instinkt, in ihre Arme. – Sie liebte mich in diesem Augenblicke; wenigstens durfte ich es glauben, wenigstens mir einbilden, sie habe in der Zwischenzeit aufgehört, einen andern zu lieben. – „Sie haben es gewollt ... Sie sind schlecht genug gewesen, es zu verlangen“, stammelte sie leise und langsam, die Augen mit beiden Händen verbergend. „Sie haben gemacht, daß ich mir selbst feind bin, daß ich mich verachten muß, auf Lebenslang mich verachten. ... Mein Unglück will’s, daß ich mich den Verführungen des ersten Augenblicks hingebe; meine Schuld und mein Unglück; der Moment siegt über meine Entschlüsse. Seien Sie aber versichert, Ihr Sieg soll Ihnen keine Früchte bringen; Sie sollen mich ohne Vorteil erniedrigt haben; Sie sehen mich nie ... niemals ... wieder; wir sind getrennt, als wenn sich der Tod zwischen uns stellte.“

Ich versuchte alles mögliche, ihren Entschluß zu bekämpfen; ich war im Begriff, mich zu ihren Füßen zu werfen, als sie selbst vor mir auf die Knie fiel, und mit einem Ton, mit einer Bewegung, die sich nicht schildern läßt, mich beschwor, sie zu vergessen, sie zu fliehen ... ihr durch die heiligsten Eidschwüre die Versicherung zu geben, nie wieder ihre Ruhe stören, ihre Schwäche benutzen zu wollen. „Es sei barbarisch,“ rief sie aus, „von einem gebrechlichen Weibe Vorteil zu ziehen und ein Herz zu betrüben, welches das Eigentum eines andern sei; da es der Frauen so viele gäbe, welche mir, dem Stürmenden, dem Verwegenen, ein freies und ganzes Herz nicht versagen würden.“

Der Ton ihrer Stimme, der Ausdruck ihrer Züge, ihre Stellung, die Tränen, die sie vergoß, alles erzwang diesen Eid; ich schwor ihn, und habe ihn nicht gebrochen. Als einzige Bedingung erbat ich mir eine Haarlocke. Sie wollte nicht ... sie rief mich zurück, um sie mir zu geben; auf ihre Bitte mußte ich sie ihr wieder zustellen, allein von selbst schickte sie sie mir, als sie erfuhr, daß ich abreisen würde – mit der beigefügten Bitte, sie als ein Andenken von ihr (Pour l’amour d’elle.) zu behalten. – Ich bewahre sie noch immer, diese Locke, und als ich im Jahre 1792, von den Mördern verfolgt, die Frankreich in ein Blutbad tauchten, das sie das Bad der Wiedergeburt nannten, mich ihrer Wut entziehen wollte, und nach einer dreitägigen Entfernung unter tausend Gefahren meine Wohnung wieder betrat, um einige Briefe, Porträts, Haare und andere Andenken meiner Jugend und meiner Liebschaften zu retten – war die Erinnerung an sie einer der Hauptgründe für mich, dem Tode zu trotzen.

Später habe ich Gelegenheit gehabt, mit einem ihrer Verwandten zusammen zu kommen und ihm nützlich zu sein. Diese Dienstleistungen haben mich glücklich gemacht.

Dieses Abenteuer (so will ich es nennen), über das ich oft nachgedacht habe, ist eines von denen, welche die tiefsten Spuren in mir zurückgelassen haben, um so mehr, da es sich von unseren Sitten so sehr entfernte. Selten wird eine französische Frau sich selbst für so unwichtig halten, daß sie sich so bald und so schnell hingeben sollte. Selten wird sie einer Ueberraschung der Sinne ohne Kampf und Widerstand unterliegen. Noch seltener wird die, welche leichten Kaufs ihre Gunst gewährt, Tugend genug besitzen, es schnell zu bereuen. Wen in Frankreich wird es nicht befremden, wenn eine Frau, die einem ersten Liebhaber untreu geworden, aus Treue gegen ihn den zweiten entläßt? Diese Rückkehr zur Beständigkeit ist in meinen Augen ein der Tugend dargebrachter Zoll, dessen sich die Sittenverderbtheit und die Libertinage bei uns nicht rühmen kann. Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit, was mir der Graf von Genlis einst sagte: „Ich habe Frau von ... nur zweimal gehabt, das erstemal für mich, das zweite für sie, dann bin ich nicht wieder zu ihr gekommen, weil keinem von beiden ein Gefallen damit geschah.“

In Frankreich war viel Beflissenheit, viel Gewandtheit, viel scheinbare Aufrichtigkeit, viel Spiel (Manége) und viel Kunst nötig, um über eine Frau zu siegen, welche des Sieges verlohnte; es waren Förmlichkeiten zu beobachten, die eine immer notwendiger als die andere, die letzte ebenso unerläßlich als die erste. Dagegen aber konnte man sich auch gewöhnlich des Sieges erfreuen, wenn nur der angreifende Teil kein Gimpel, oder der angegriffene kein Tugenddrache war. Es gab in Frankreich dergleichen weibliche Drachen, nur hütete sich ein geübter Eroberer wohl, seine Ehre gegen einen solchen Fels von Grundsätzen zu verspielen, er wurde bald gewahr, was er vernünftigerweise zu hoffen hatte oder nicht, und zog sich zurück, ehe das Publikum seine Niederlage ahnen konnte. Nur Neulinge wagten sich an solche, und opferten ihren Weihrauch vor der unerbittlichen Gottheit.

In anderen Ländern setzen die Frauen einem regelmäßigen Angriffsplan, einem wohlberechneten Verführungssystem den stärksten Widerstand entgegen, unterliegen aber oft einer einzelnen Gelegenheit, der zufälligen Frucht des Ungefährs. Andere besitzen eine überlegte Tugend, die aber einem gelehrten Widersacher nicht Stich hält, noch andere vereiteln oft eine heftige Leidenschaft oder einen tiefangelegten Angriff mit Hilfe einiger moralischer und religiöser Vorurteile, entgehen aber der unvermuteten Niederlage eines gefährlichen Augenblickes nicht.

Ich habe bemerkt, daß man eine französische Frau mit den Worten: „Ich liebe Sie,“ dahin bringt, uns zu lieben, daß man hingegen einer Ausländerin mit diesen Worten fast immer zu verstehen gibt: „Seien Sie auf Ihrer Hut, lieben Sie mich nicht wieder.“ Nur ein plötzlicher Ueberfall kann über ihre Schwäche den Sieg davontragen.

Ich wiederhole es, das hier Gesagte läßt sich nur auf die bessere Klasse von Frauen anwenden. Unter allen Völkern gibt es eine Hefe ihres Geschlechts, wie des unsrigen, der Zergliederung unwürdig, die unterste Stufe der Nation, keiner Prüfung wert, nur der Verachtung preiszugeben. In allen Ländern ohne Unterschied, in England und Deutschland, wie in Frankreich, habe ich achtungswerte Frauen ausgezeichnet und verehrt, ich habe sie vollkommener gefunden als die besten aus meinem Geschlechte, ich habe ihnen als der Zierde des ihrigen mit innigstem Gefühle gehuldigt und sie als Muster und Mittel erkannt, wodurch die Ungläubigkeit des Lasters sich von der Wirklichkeit der Tugend überzeugen kann.

Uebrigens mögen diejenigen, welche mich lesen – wenn sie so glücklich sind, es nicht aus eigener Erfahrung erkundet zu haben – von mir lernen, daß die leichten ... oder schweren Verführungen des schwächeren Geschlechts weder zum Glück noch zum Ruhme führen. Sie mögen ein für allemal lernen, daß jene das Herz unbefriedigt lassen, diese das Gewissen foltern, daß jene Widerwillen und Ekel, diese Vorwurf und Reue erzeugen; daß beide Verleumdung, Gefahren und unabsehbares Elend zur Folge – und zur verdienten Strafe haben, daß sie oft den Verlust des Lebens und der Ehre nach sich ziehen; daß das Aufsehen und das Vergnügen, die wir in strafbaren Verbindungen finden, einen falschen, lügenhaften Glanz über sie verbreiten, daß Schande und Qualen die unvermeidliche Bedingung derselben sind, und daß ein anstößiger Umgang, den die Welt nicht mit gehöriger Strenge richtet, über den die Welt leichtsinnig weglacht, nicht nur die gröblichste Beleidigung der Moralität, sondern auch eine Quelle von Kummer und Plagen ist und eine ganz besondere Gattung von Widerwärtigkeiten erzeugt, die kein anderes Laster, kein anderes Verbrechen über uns zu bringen vermag.

Kein Bösewicht, wenn er in den Jahren vorrückt, wird so furchtbar enttäuscht (Désillusionné), wie der Verführer der Unschuld, kein Herz in der ganzen Schöpfung ist so welk, so vertrocknet, wird so vom Gewissen gefoltert, so von Geiern aller Art zernagt, als das Herz desjenigen, den man so uneigentlich einen Homme à bonnes fortunes nennt. Nicht erst im Alter, und wenn er die letzten Stufen zum Grabe hinabsteigt, schon früher und sobald ihn die erste Jugend verlassen hat, ist er unter den Unglücklichen der Unglücklichste (Le roi des Infortunés.). Kein Wandel auf Erden bringt in so kurzer Zeit eine solche Nichtachtung*) mit sich. Ich bediene mich dieses Wortes statt des eigentlichen, aber härteren – Verachtung.

*) Déconsidération. Der Verfasser setzt im Original hinzu: Si ce mot n’est pas français, je veux m’en servir, parce que le mot mépris, qui ne serait que juste, est dur.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Memoiren des Grafen von Tilly. Erster Band