Wunderbare Stadt, in der eine solche Fülle der Tatkraft und Überzeugungstreue sich zusammenfand.

Wunderbare Stadt, in der eine solche Fülle der Tatkraft und Überzeugungstreue sich zusammenfand. Denn Meister Lukas hat sich nicht nur als Maler sondern auch als Mensch, als treue Seele bewiesen, treu gegen seine Überzeugung und treu gegen den Fürsten, dem er diente. Diesem führte ihn nicht nur seine Kunst nahe sondern auch seine Stellung als Bürgermeister von Wittenberg. Noch ist uns der Wortlaut der Unterredung erhalten, die Cranach im Lager vor Wittenberg 1547 mit Kaiser Karl V. hielt. Der Kaiser hatte den Meister rufen lassen und ihm erzählt, er besitze zu Mecheln in seinem Zimmer ein Bildnis von Cranachs Hand, das ihn als achtjährigen Knaben darstelle. Der damals 49 jährige Kaiser wollte von dem 67 Jahre alten Maler wissen, „wie er in jenem Alter beschaffen war“. Cranach war schon damals in diplomatischer Sendung vom Kurfürsten Friedrich III. nach Antwerpen geschickt worden und sah zu, wie Kaiser Maximilian 1509 seinen Sohn bei der Huldigung der Niederlande an der Hand hielt. Er erzählte dem Kaiser, er sei als Knabe etwas unruhiger Art gewesen. Als er ihn habe malen wollen, habe der Erzieher eine eiserne Pfeilspitze an der Wand befestigt und der Anblick von Eisen und Stahl den Knaben so erfreut, dass er stille gehalten habe. Dem Kaiser gefiel diese Geschichte, so dass er sich dem Maler gnädig erwies, obgleich er wohl wusste, wie er zu Luther und der ganzen reformatorischen Bewegung gestanden hatte. Aber dieser warf sich dem Fürsten zu Füssen und bat um Gnade für seinen Herrn, dem er später 1550 in die Gefangenschaft nach Augsburg folgte und den er während jener ganzen Sorgenzeit nicht verließ.

Aber auch sonst wohnten in der kleinen Stadt viel Männer von sonderbaren Lebenserfahrungen. Dort links, in jenes Gässchen hinein, geht der Weg zum Hause des Diakonus Fröschel. Er war der erste Geistliche, der das Messelesen aufgab, seit ihn 1522 Luther überzeugt hatte, dass dieses zur Seligkeit nichts helfe. Dann war er ein eifriger Reformator geworden, der namentlich in Leipzig gegen die alte Kirche ankämpfte, ein streitbarer kühner Mann, dem es wohl war im Ringen um die neuen Güter. Herzog Georg von Sachsen, der ihn wegen seiner Leipziger Predigten einsperrte, ließ zwar „das arme Fröschlein bald wieder hüpfen“, doch nicht ohne ihm anzudrohen, er würde ihm, wenn er nach Leipzig zurückkäme, am Pranger die nach des Fürsten Ansicht für einen Geistlichen nicht hinreichend gepflegte Glatze raufen lassen so groß wie die eines Abtes. So kam er wieder nach Wittenberg und wurde Bugenhagens Gehilfe.


Neben ihm lebte Anton Lauterbach. Auch er war ein überzeugungstreuer Geistlicher, der, als der Bischof von Meißen ihn nicht zum Pfarrer der Stadt Leisnig annehmen wollte, weil er nicht geweiht und weil er mit einer früheren Nonne verheiratet sei, mit dem grimmen Scherz antwortete: „Mann und Weib sind ja ein Leib; bin ich nicht geweiht, so ist es doch mein Weib !“ Er war es, der Luthers Tischgespräche sammelte und uns somit einen für das deutsche Volk unersetzlichen Schatz hinterließ: Den Einblick in das Hausleben des gewaltigen Doktor Martinus.

Aber auch unter der Bürgerschaft, die hier ringsum wohnte, gab’s merkwürdige Köpfe genug: Da war der Bürgermeister Hohnsdorf, der von 1517 — 1534, also in den bewegtesten Tagen, die Stadt leitete, ein Mann, dem es wohl nicht übel zu nehmen ist, dass er bei dem allgemeinen Durcheinander der Geister schlimmen Wahrsagungen sein Ohr lieh. Denn der seiner Zeit berühmte Tübinger Professor und Astronom Johann Stöfler hatte aus einer Konjunktur des Saturn, Jupiter und Mars im Zeichen der Fische herausgedeutet, dass im Februar 1524 eine allgemeine Sündflut kommen müsse. Die Sorge war in der Welt groß, dass der jüngste Tag hereinbreche: Der baute sich eine Arche, jener suchte nach einem hohen Berg, der ihm Rettung versprach. Hohnsdorf aber ließ ein Viertel Gebräude Bier auf den wohlverwahrten Boden seines Hauses bringen, um, wie er sagte, „beim guten Trunk zu leiden“. Und er hatte nicht Unrecht. Sah er von seinem Hausdach in die weite Ebene rings um Wittenberg so durfte er sich schon einer Weile gewärtigen, ehe ihn die Flut dort oben ergriff. Das Wittenberger Bier aber, der Guckuck wie es hieß, war zu jener Zeit berühmt in weitem Umkreise. In 172 Häusern der Stadt wurde es zu jener Zeit gebraut.

Und neben Hohnsdorf wirkte Ambrosius Reuter als Kämmerer und Stadtrichter. Ihm gehörte ein neuerbautes großes Haus am Markt, über dessen Tor man ein sonderbares Bild sah : eine Sau, die auf seidenem Kissen saß und eine goldene Krone trug; daneben Luther, der mit einer großen Schreibfeder dem Papst die Tiara vom Haupt stieß; und Melanchthon, der den Papst mit dem Pennal bearbeitete. Mit dem Bilde der Sau aber spielte er auf eigene Erlebnisse an. Denn der streng katholische Herzog Georg von Sachsen hatte auch ihn seines Bekenntnisses wegen in einen Turm im Stadtgraben zu Leipzig einsperren lassen. Am Tage vor dem Gericht, das über ihn urteilen sollte, bemerkte er eine Sau, die vom Graben aus nach dem Turm zu wühlte. Er arbeitete ihr mit den Händen entgegen und konnte sich bald zu seiner Retterin durch die Mauer zwängen — die Mauern von Leipzig müssen damals nicht eben sehr fest und die Gräben nicht sehr wasserreich gewesen sein! Reuter aber setzte dankbar der Retterin ein Denkmal an seinem Hause. Der Reformation aber blieb er trotz der überstandenen Gefahr unwandelbar treu.

Gleich den Genannten im Rate gewaltig war auch Hans Lufft, der „Bibeldrucker“, jener Mann, der neben drei anderen Druckern die ungeheure Menge von Streitschriften und Sendschreiben, Büchern und Predigten herstellte, die von Wittenberg in die Welt hinausgingen. Von ihm stammt der erste, prächtig ausgestattete Druck von Luthers Bibelübersetzung, die 1534 erschien und von der er bis zum Jahre 1572 nicht weniger als 100.000 Abzüge verkauft hatte. Luther bezog, nach damaliger Sitte, vom Verleger kein Honorar — nebenbei bemerkt, eine abscheuliche Sitte, nicht ein Beweis vom Edelmut Luthers. Dagegen sendeten die Schriftsteller ihre Werke an Fürsten und Große und erhielten dafür von diesen Geschenke — meist mehr Almosen als Lohn. Es ist daher kein Wunder, dass Lufft gute Freundschaft mit den Reformatoren hielt, deren Werke ja im buchhändlerischen Sinne vortrefflich „gingen“. Er konnte es in seinem behäbigen Heim mit Müsse ansehen, dass der Papst seinen Namen mit auf jenes Verzeichnis der verbotenen Bücher setzte, das das Lesen der bei Lufft gedruckten Bücher mit harten Strafen bedrohte. Zur jährlichen Wiederkehr des Gründonnerstags, an dem er den Bibeldruck vollendet hatte, pflegte er ein Fest zu geben, bei dem er es an Getränken für seine Gäste und namentlich für sich nicht fehlen ließ, weil er, wie er sagte, das Höllenfeuer dämpfen müsse, zu welchem der Papst ihn verurteilt habe.

So war Luther der Stadt mehr als ein Stolz, er bildete zugleich den Grund für mancherlei Wohlstand. Die Herren vom Wittenberger Stadtrate erkannten dies auch an und bewiesen ihm ihren Dank durch allerhand Aufmerksamkeiten. Im Archive des Rathauses finden sich noch die alten Stadtrechnungen bis ins 15. Jahrhundert hinein: ein etwas trockener Lesestoff bis auf einzelne die Sachlage erleuchtende Stellen, an deren kurzen Angaben man den Wiederschein großer weltgeschichtlicher Ereignisse erkennt. Da heißt es in der Rechnung von 1519: „2 Schock 48 Groschen dem Doktor Martino verehrt, so er des Rats und der gemeinen Stadt Prediger gewest, und von der Disputation die er zu Leipzig gehalten, wiederum heimkommen.“ Es war die berühmte Disputation mit Eck, bei der ihm Carlstadt zur Seite stand und von der Fröschlin ausführliche Berichte veröffentlichte.

Und dann heißt es in der Rechnung von 1521: „3 Schock 30 Groschen Doktor Martino verehrt als er gegen Worms auf den Reichstag gezogen.“ Und als dann der Reformator von der Wartburg zurückkam, wo ihn Kurfürst Friedrich der Weise vor Angriffen versteckt hielt, als er am 9. Oktober 1524 zuerst wieder in der Wittenberger Stadtkirche erschien, fand auch dies Ereignis in den Rechnungen seinen Wiederhall als Beweis, dass die Bürgerschaft zu ihrem Helden hielt: Da heißt es „2 Schock 37 Groschen 6 Pfennige Doctori Martino verehrt, da er aus dem Gefängnis kam, an 8 3/4 Ellen zu einer Kappe die Elle für 18 Groschen, bei Hans Modden genommen und Mathes Globig“.

Auch im folgenden Jahre wird Luther beschenkt; dort heißt es: „7 Schock und 20 Groschen Doctori Martino von wegen des Rats und gemeiner Stadt, da er sein eheliches Beilager und Wirtschaft gehalten, geschenkt.“ Das war also an jenem 13. Juni 1525, an dem Luther in Gegenwart Bugenhagens, Cranachs und des Juristen Appel seine Katharina von Bora heimführte, er ein Mann von 42 Jahren, sie 26 Jahre alt. Und auch in den folgenden Jahren geht es so fort. Bald schenkt der Rat dem Reformator Tuch, Seide, Barchend, bald Kalk und andere Baumaterialien, bald Bier, Wein, oder er zahlt gleich die ganze Weinrechnung im Stadtkeller, die 1525 2 Schock 16 Groschen betrug. Zwei Schock und sechzehn Groschen! War das nun viel oder wenig? Die Zahlen sagen uns zunächst herzlich wenig. Es gilt sie genauer zu betrachten.

Ich nahm die Stadtrechnung von 1519 zur Hand, als des Jahres, in dem Luther in Wittenberg sein Wirken begann. Liest man sie gründlich durch, so sind solche Rechnungen so langweilig nicht, wie sie auf den ersten Blick aussehen. Sie geben ein Bild der Stadt und ihres Lebens. Man lernt aus ihnen zunächst die von der Stadtbehörde eingeführten Steuern kennen: Obenan die Grundsteuer, das „Geschoss“, das in zwei Raten gezahlt wurde: Es betrug im Jahre etwa 176 Schock Groschen, dann das Stättegeld für die Marktleute, die am Montag nach Misericordia Domini zum „Ablass“, wenn die Heiligtümer der Schlosskirche den Wallfahrenden gezeigt wurden, und zum Gallus-Jahrmarkt kamen: Sie zahlten 7 1/2 Schock Groschen; „zum Bau“, d. h. wohl für den bald darauf in Angriff genommenen Rathausbau, wurden durch eine besondere Steuer 70 1/2 Schock Groschen aufgebracht. Die der Stadt gehörigen Liegenschaften, der Ziegelofen, der Kalkofen u. s. w. brachten ihren Vorteil, nicht minder der Stadtkeller und die Einfuhr von Einbecker Bier und Braunschweiger „Mumme“. Alle Einnahmen zusammen betrugen etwa 910 Schock Groschen. Diese Zahl bietet dem Unkundigen wieder keinerlei Bild. Dass ein Schock 60 Stück sind, wissen unsere Hausfrauen wohl alle aus dem Eierhandel. Also 60 mal 910 = 54.600 Groschen betrug die Jahreseinnahme der Stadt. Nun machten 21 Groschen damals einen Gulden, jene Summe also 2.600 fl. 8 Gulden machten aber 1/2 Pfund Silber, oder, wie es fachmännisch heißt, eine feine Mark. Aus dieser prägt man heute 45 Reichsmark. Jene 910 Schock Groschen sind also an Silbergehalt gleich 14.625 Reichsmark.

Damit ist nun immer noch nicht viel anzufangen.

Es fragt sich vielmehr, wie viel war denn das Silber zu jener Zeit wert? Denn was nützt mir ein blanker Thaler? Doch nur soviel, als ich mir dafür kaufen kann. Ist das heute wenig, so ist der Wert des Thalers gering, ist es viel, so steigt auch der Wert der Münze. Als Maßstab des Wertes aber kann nur die wichtigste, einfachste Kaufware gelten, und die ist das Getreide. Die Frage ist zu stellen, wie viel Getreide kaufte man damals für den Groschen? Und ferner, was kostet dieselbe Menge in unserer Zeit? So finden wir erst ungefähr den wahren Wert der Münze vergangener Tage.

Die alten Getreidepreise sind schwer festzustellen, da sie sich in starker Schwankung befanden. War viel Korn gewachsen, so wurde billige, und gab es dessen wenig, so wurde teure Zeit. Die Mittel, um durch Versand ein Land des Segens des anderen teilhaftig werden zu lassen und so die Preise auszugleichen, waren gering. Ich will mich hier nicht in umständliche Nachweise einlassen, wie ich das Mittelmaß der Getreidepreise fand, das ich hier in die Rechnung einstelle. Der Leser muss schon die Güte haben, mir die ungefähre Richtigkeit der Angaben zu glauben, dass um 1519 der Scheffel Korn etwa 12, Gerste 15 und Weizen 23 Groschen, je ein Scheffel von allen drei Arten zusammen also 50 Groschen gekostet habe. Nun bezahlte man in Sachsen für dieselbe Menge Getreide in den Jahren 1879 bis 1889 — ich wähle absichtlich zur Berechnung nicht die neueste Zeit — durchschnittlich 38,50 Reichsmark. Es sind also 50 Groschen vom Jahre 1519 gleich rund 40 Mark zu Ende des 19. Jahrhunderts; ein Groschen hatte also etwa den Wert von 80 Reichspfennigen von heute. Die Stadt konnte daher für die 910 Schock Groschen, wie sie eine Jahreseinnahme von Wittenberg ausmachten, eben soviel Getreide kaufen, als wir 1880 etwa für 43.680 Reichsmark. Der liegende Besitz des Lucas Cranach war in den Steuerbüchern mit 1.400 Schock Groschen bewertet. Es kam dies an Silberwert etwa 22.500 Mark, an Kaufkraft etwa 67.200 Mark gleich. Allein seine Apotheke war darunter mit 700 Schock oder mit 11.250 Mark Silberwert oder 33.600 Mark Kaufwert eingesetzt.

Andere werden anders rechnen als ich es hier tat, und nicht des Lebens Notdurft, sondern seine Annehmlichkeit zum Maßstab des Silberwertes machen. Auch ihnen gibt die Rechnung Bescheid. Denn zur Annehmlichkeit gehört gewiss in erster Linie ein guter Trunk. Nun kaufte der Wittenberger Rat Wein und Bier im großen und verzapfte es an seine Bürger. So kostete ein Fass Rheinwein 4 Schock 16 Groschen. Es enthielt 4 Eimer, 1 Stübchen, 1 Kanne, und da der Eimer Wein 21 Stübchen zu 2 Kannen hatte oder nach heutigem Maß etwas über 70 Liter, so maß also dies Fass 171 Kannen, deren eine daher 1 1/2 Groschen kostete. Der Frankenwein kostete nach gleicher Berechnung etwas über 2 Groschen. Das ergibt umgerechnet nach dem Getreidepreis, dass damals die Kanne Wein 1,20 und 1,65 Reichsmark kostete.

Bei Cranach kaufte man seine Gewürze, bei seinen Nachbarn die übrige Notdurft des Lebens ein. Eine Tabelle mag die Preise von 1519 und die Umrechnung nach dem Getreidepreis geben. Den heutigen Wert mögen die Hausfrauen sich aus eigner Erfahrung ergänzen.

Es kostete im Jahr 1519:

1 Pfund Pfeffer 14 Groschen, das ist 11 Mk. 20 Pfg.
1 Pfund Ingwer 12 Groschen, das ist 9 Mk. 60 Pfg.
1 Pfund Safran 126 Groschen, das ist 100 Mk. 80 Pfg.
1 Pfund Nelken 33 Groschen, das ist 26 Mk. 40 Pfg.
1 Pfund Zimt 39 Groschen, das ist 31 Mk. 20 Pfg.
1 Pfund Muskat 21 Groschen, das ist 16 Mk. 80 Pfg.
1 Pfund Kapern 2 Groschen, das ist 1 Mk. 60 Pfg.
1 Pfund Zucker 3 Gr. 4 Pfg, das ist 2 Mk. 67 Pfg.
1 Pfund Reis 1 Gr. 1, das ist - Mk. 87 Pfg.
1 Pfund Rindfleisch – Gr. 4 1/2 Pfg, das ist - Mk. 30 Pfg.
1 Pfund Schöpsenfleisch - Gr. 6 Pfg, das ist - Mk. 40 Pfg.
1 Pfund Schweinefleisch – Gr. 10 Pf, das ist - Mk. 67 Pfg.
1 Elle schwarzer Atlas 23 Groschen, das ist 18 Mk. 40 Pfg.
1 Elle brauner Atlas 27 Groschen, das ist 21 Mk. 60 Pfg.
1 Elle Damast 26 Groschen, das ist 20 Mk. 80 Pfg.
1 Elle Doppeltaffet 28 Groschen, das ist 22 Mk. 40 Pfg.
1 Elle Sammet 46 Groschen, das ist 36 Mk. 80 Pfg.

Für den Preis einer Elle feineren Kleiderstoffes konnte also eine Familie eine Woche lang täglich 3 Pfund Rindfleisch, 2 Pfund Reis und das nötige Gewürz erlangen; für 4 Pfund Zucker einen Scheffel Gerste bekommen, und ein Lot Nelken war gleichwertig mit zwei Pfund Schöpsenfleisch! Die Weine, die im Ratskeller verschänkt wurden, stammten zumeist aus Schlesien, Jena und der Lössnitz bei Dresden. Dies darf uns nicht erschrecken, da man sie meist gewürzt genoss, also als Bowlen, so dass auch die sauren Sorten mit durch schlüpften. Aber auch der Zucker war teuer und selten. Er kam von Cypern, Kleinasien und Ägypten über Venedig. Man kaufte ihn in der Apotheke. Auch der Ersatz bietende Honig und der Sirup waren nicht billig: Honig in der Bowle, das habe ich freilich noch nicht ausgeprobt!

Die Größe eines Mannes leidet bekanntlich, wenn man ihn vom Standpunkt des Kammerdieners betrachtet — bis auf die ganz großen! So dachte ich mir auch, meiner Lutherbegeisterung werde es nicht schaden, wenn ich ihn einmal rechnerisch auf wenigstens eine Seite seines Spruches vom Weib, Wein und Gesang prüfe, nämlich auf den Wein. Ich berechnete seinen jährlichen Aufwand, den er aus dem Ratskeller bezog. Dieser betrug im Jahre seiner Hochzeit, 1525, abgesehen von dieser selbst, 2 Schock 16 Groschen. Das ist an heutigem Kaufwert etwas über 200 Mark. Für diesen Betrag konnte
der Reformator sich etwa kaufen: Ein Fass Rheinwein oder dreiviertel Fass schlesischen Wein, gleich 280 oder 210 Liter. Also wenn Luther von jeder Weinart etwa gleichviel bezogen hat, so erhielt er 245 Liter oder etwa 330 Flaschen — und das, wie gesagt, im Jahr seiner Hochzeit und der darauf folgenden Festlichkeiten, und in einem Hause, dem die Gäste nie ausgingen! Luther besteht die Prüfung dahin, dass er ein Mann war, der dem Weine mit Verstand, und das heißt soviel, wie mit Maß huldigte. Und so wollen wir ihm seinen Tropfen gönnen und uns freuen, dass Deutschlands geistiger Führer nicht zu darben hatte.

Luthers Gehalt als Universitätslehrer betrug 200, später 300 Gulden. Das ist also etwa 3.360 und 5.040 Mark nach dem Kaufwert. Mit den Nebeneinkünften, die ihm von vielen Seiten zuflossen, dürfte er sich auf 5 — 600 Gulden gestanden haben, also auf 8.400 bis 10.080 Mark nach heutigen Wert des Geldes. Da er es nach der Sitte der Zeit verabscheute, aus seinen Büchern einen Vorteil zu ziehen, so ist die Feststellung seiner Einnahmen erleichtert. Aber er brauchte sichtlich einen großen Teil derselben. Seine Käthe sammelte sich jedoch ein bescheidenes Vermögen. Auch in Geldsachen war Luther unanfechtbar — ein Mann, der im Vermögen nur den Zweck sah, sich und andere vor dem Darben zu schützen, der aber nicht das Geld um des Geldes willen liebte.

Er war also ein Mann in geordneten Verhältnissen, der auch denen, die ihm nahe standen, Verehrung einflößte. Davon erzählen auch in ihrer Weise die Bauten Wittenbergs.

Ambrosius Reuter war nicht der einzige, der sein Haus von Luthers Taten erzählen lies. Auch sonst bekennen Inschriften die geistige Zugehörigkeit der Besitzer zu dem Gottesmann. Wer durch Sachsen und Thüringen gereist ist, der begegnete wohl hier und da dem beliebtesten Spruche der Wettiner: „Verbum domini manet in aeternum“, oder „Gottes Wort währet ewiglich“. In Wittenberg heißt es an einem Hause der Koswiger Straße in Umschreibung dieses Wahrspruches:

      Gottes Wort, Luteri Leer
      Verget nu und nimmer mehr!

Die folgende Zeit, diejenige des Streittheologentums, legte nicht mehr auf die Beständigkeit des Gotteswortes den Hauptwert, sondern betrachtete die Lehre Luthers als Waffe in ihrem selbstmörderischen Kampfe gegen jede abweichende Meinung. So heißt es 1717:

      Gottes Wort und Lutheri Schrift
      Ist des Bapst und Calvini Gift.

Und in einem von 1597:

      Gottes Wort und Lutheri Lehr
      Vergehet nun und nimmermehr
      Und obs gleich bisse noch so sehr
      Die Calvinisten an ihr Ehr.

So zeigt sich, auch in den Inschriften der spätere Verfall Wittenbergs, seine Erstarrung im Luthertum, das aufgehört hatte, eine lebendige Kraft zu sein und nun zur Zuchtrute für kirchlich freier sich entwickelnde Köpfe wurde.

Deren gab es schon in der großen Zeit eine stattliche Menge. Noch ist die Reihe sonderbarer Erscheinungen im Getriebe Wittenbergs nicht erschöpft. Einer der merkwürdigsten Männer, den man auf den Straßen bald nach Beginn der Reformation um 1527 sehen konnte, war ein Bauer, Nachbar Endres, der als der jüngste den wohlhabenden Landwirten der Umgebung „vor dem Tische stehen“ musste, wenn sie an Markttagen zur Stadt kamen. Das heißt, er musste ihnen aufwarten, Bier zutragen und einschenken. Und die kecken Gesellen machten sich’s erst recht zur Freude, den Nachbar Endres zu rufen „Hob dies, bring’ jenes!“ Und er war doch kein Kind mehr, dieser jüngste Bauer in seinem groben Rock und Filzhut, der sein Holz und Getreide zu Markt fuhr, seine Schweine herbeitrieb. Man sah es dem etwa vierzigjährigen Manne an, dass er nicht all sein Tag solche Hantierung betrieben hatte — es war der Schwarmgeist Andreas Rudolf Bodenstein, genannt Carlstadt, der Führer der über Luther hinausgehenden äußersten Partei der Reformation.

Sieht man sein Wirken, so erinnert er unwillkürlich an das der modernen Nihilisten Russlands. Er verurteilte die Wissenschaft und suchte die Wahrheit bei den Einfältigen, er wollte mit vollem Bewusstsein Schule und Universität zerstören, da nur Ungelehrte die Wahrheit zu finden vermögen. Sein Hass gegen die Verbildung und Überbildung in der Auffassung der Glaubenslehren, sein Abscheu vor den Künsten einer verblendeten und innerlich unwahren Auslegung der gelehrten Theologen ging so weit, dass er von Haus zu Haus zu den Bürgern Wittenbergs ging, um von ihnen, den einfachen, verständigen, durch theologische Künste unbeeinflussten Laien Bescheid über schwierige Bibelstellen zu erlangen. Er wollte sich nach Christus Vorbild nicht Meister nennen lassen und verachtete die akademischen Würden. Die Studenten schickte er haufenweise von der Hochschule heim, da man beim Studieren nicht selig werden könne. Altäre und Bilder waren ihm ein Gräuel, denn auch die Kunst schien ihm nur Blendwerk. Wenn man nur den Geist habe und den inneren Trieb, so brauche man weder Kunst noch Schrift. Nie wurde eifriger und mit größerer Gelehrsamkeit der Unwert alles Wissens verfochten als durch ihn. Luther kämpfte heftig gegen ihn, bemühte sich aber doch, dem einstigen Genossen und Freunde eine Heimstätte zu schaffen, als er wegen Anteils am Bauernkriege verfolgt wurde.

Wittenberg sah aber noch einen ganz anderen Mann in dienender Stellung als den einstigen Professor. Da wirkte in der Stadtkirche ein Küster, der einst drei Kronen auf seinem Haupte vereint hatte, wie der Papst zu Rom, jene von Dänemark, Schweden und Norwegen. Diakonus Fröschel erzählt uns: „Der Ministrant, der zum Altare diente, war König Christiern aus Dänemark, der fleißig auf den Altar wartete und sich so tief demütigte, dass er allewege mit dem Diacono, so die Messe hielt, vor dem Altar niederkniete und mit ihm das Confiteor betete.“ Also auch Christian II., der „Böse“ von Dänemark, büßte hier etwa um dieselbe Zeit, der König und Küster neben dem Professor und Bauer. Er hatte seine Gemahlin Isabella, die Schwester Kaiser Karls V. vernachlässigt, um seinem „Täubchen“, der geliebten Düveke zu huldigen und nach deren Tode der keineswegs taubenhaften Mutter seiner Freundin, die ihn nach Schweden trieb und zu dem furchtbaren Stockholmer Blutbad am 8. November 1520 verleitete. Suchte er in Schweden die Hilfe der Geistlichkeit zu gewinnen, so ließ er nach Dänemark Bugenhagen kommen, um hier seine Politik mit Hilfe der Wittenberger durchzuführen. Aber 1523 vertrieb ihn der Adel; er zog den Reformatoren nach. So wenig wie Carlstadt hielt es der friedliche Mann aber im stillen Elbstädtchen, in kleinen Verhältnissen aus. Er wendete sich später wieder an die Katholischen, bis er bei einem Versuch der Rückkehr in sein Reich 1531 gefangen und dann bis an sein Ende, 28 Jahre, in Haft gehalten wurde. Ob wohl Kaiser Karl V. daran dachte, dass der treulose Gatte
seiner Schwester einst den Schlüssel der Stadtkirche verwaltet hatte, den er, wie er erzählt, ein Vierteljahrhundert später vergeblich forderte. Der ungeheure Kampf der Geister warf die Geschicke der Menschen sonderbar durcheinander. Der König wie der Professor gingen, nachdem ihre Pläne gescheitert waren, wie die Nihilisten sagen würden, „unters Volk“, sich kasteiend, nicht im Sinne der Mönche, sondern in dem des Fanatismus, für die neuen Gedanken der Gleichberechtigung aller Christenmenschen, als Bewunderer der Armen im Geiste. Aber der innere Trieb nach Betätigung, dessen Kraft zu jener Zeit so mächtig wirkte, ließ sie nicht in der Weltvergessenheit — sie mussten wieder hinaus in den Kampf, an die Spitze der Parteien! Die Wittenberger Studenten, Jünglinge, etwa vom Geiste ihres Genossen Hamlet, mögen aber viel Spaß an den sonderbaren Erscheinungen gehabt haben. Denn man trifft nicht alle Tage einen Mann, der mit der des Zepters gewohnten Hand Hilfsleistungen in der Kirche tut; oder der von der Leitung und Ausbildung der Tiergattung homo sapiens zu jener der „Artiodactyla non ruminantia“ übergeht, das heißt der vom Wiederkäuen des Wissens der Zweibeiner zu der Erziehung der „nicht wiederkäuenden Zweihufer“ sich aufschwingt. Und dazu einen König, der sich die Häupter seiner Feinde vor die Füße legen ließ und nun einem Fröschel ministrierte oder einen Professor, der so kecklich über den Wert aller Wissenschaft geurteilt hatte und nun den Bauern vor dem Trunk stand! Nur diese letzte Tätigkeit mag die Musensöhne mit dem Wandel versöhnt haben.

Denn der Durst war in Wittenberg alle Zeit groß.

      „Welcher Student von Wittenberg kommt mit gesunden Leib,
      Von Leipzig und Tübingen ohne Weib,
      Von Jena und Helmstädt ungeschlagen,
      Der kann von großem Glücke sagen!“

So lehrt ein altes Sprichwort. Das 18. Jahrhundert mit seiner barocken Gelehrsamkeit und seiner stumpfen Nüchternheit hat sich denn ganz ernstlich gegen dies Sprichwort zu verwahren gesucht. Der Professor der Pathologie Dr. Stenzel schrieb beim Antritt seiner Lehrtätigkeit (1737) zur besseren Einführung bei der hohen Obrigkeit und der wohlweisen Kollegenschaft ein dickes Buch, in dem er dies Sprichwort mit allen Waffen der Wissenschaft — soweit es Wittenberg betrifft — widerlegte. Denn die Lage der Stadt sei gesund: Gegen Norden decken sie die Weinberge vor gefährlichen Winden, die beiden Eichen- und Erlenwäldchen, die Specke und Rothemark nehmen eine Menge wässerige Teile des Erdbodens auf und schwängerten die Luft mit gesunden, vegetabilischen Ausdünstungen. Das klingt ja alles sehr verständig. Aber auch zu jener Zeit war das Wetter nicht der gefährlichste Feind der Studenten und die Feuchtigkeit in Luft und Boden nicht so bedrohlich. Die Luft und das Nass der Gaststuben, die Atmosphäre des „Guckguck“ und der um Wittenberg erbauten Weine — das waren üblere, von Dr. Stenzel nicht aus dem Felde geschlagene Feinde.

Naht man auf der Straße von Koswig her der Stadt, so richtet sich der Schlossbau wie ein Schild vor dieser auf, ein mächtiges, leider aber seiner einstigen Schönheit beraubtes Werk, einst der Lieblingssitz der Wettiner aus ernestinischem Geschlecht und somit oft der Mittelpunkt ihres stattlichen Reiches.

Bekanntlich hatten die fürstlichen Brüder Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht lange Zeit die Wettinischen Lande ungeteilt und gemeinsam beherrscht. Dann erfolgte 1485 die Teilung. Ernst erhielt die Thüringischen Lande, den größten Teil der heutigen Provinz Sachsen. Sein Reich erstreckte sich bis 4 1/2 Wegstunden an Berlin heran. Kurfürst Friedrich der Weise, sein Sohn, war sich der Pflichten seiner Würde und seines Reiches nach jeder Richtung bewusst, so auch hinsichtlich des Bauwesens. Er errichtete in Wittenberg an der Stelle eines älteren Fürstensitzes der früheren askanischen Beherrscher des Landes ein Schloss, das als Brückenkopf, als Hauptveste der Stadt und zugleich als Wohnung dienen sollte, einen mächtigen Bau, der sich gegen Westen zu drohend erhob. Zwei feste Rundtürme decken die Außenseite.

Die Türme verbindet das Schloss durch eine nach außen gradlinig gebildete, mächtige Mauer, gewissermaßen den deckenden Schild für die hinter ihr sich befindenden Baulichkeiten. Die Wehrhaftigkeit kommt hier noch ganz zu ihrem Recht, Es erfüllte in der Folgezeit auch nur zu sehr seinen Zweck als Brückenkopf, um nicht oft den Angriffen der Feinde und deren Zerstörungen ausgesetzt gewesen zu sein. Jetzt ist die Außenfront des Schlosses ganz kahl und kunstlos.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Lutherstadt Wittenberg