Und hier in Wittenberg, hier um die Stadtkirche, in der zuerst, seit Neujahr 1522, der evangelische Gottesdienst eingeführt wurde . . .

Und hier in Wittenberg, hier um die Stadtkirche, in der zuerst, seit Neujahr 1522, der evangelische Gottesdienst eingeführt wurde, jener Gottesdienst, in dem nun nach 380 Jahren mit geringen Veränderungen 70 Millionen Christen allein in Europa den Ausdruck ihres Glaubens sehen — hier war’s so still, so weltverlassen. Die alten, wohl ins 13. Jahrhundert zurückreichenden Türme, der unscheinbare Chor aus der Zeit um 1300, die nicht wesentlich bedeutenderen Hallen des Schiffes, das bis 1412 vollendet wurde — all das ist so kleinbürgerlich, von so bescheidenem Kunstwert, so vergessen von dem lärmenden Treiben der Völker. Nur der Schrillpfiff der Lokomotive, der vom Bahnhof herüberklang, erinnerte an unsere hastende Zeit, an die Verbindung der fernsten Weltteile mit einander, an jene Gemeinsamkeit in der die Völker verbindenden Geistesfreiheit. Hier warf sie einen ihrer wichtigsten Anker aus, hier erhob die Selbstkraft des Denkens und Glaubens ihr Haupt, die ein bescheidener Mönch dem Riesenbau katholischer Lehrgewalt entgegensetzte.

Ich umwandelte den Kirchhof. Dort drüben im Pfarrhaus wohnte 27 Jahre lang Johann Bugenhagen, der mutige pommerische Gehilfe Luthers, selbst Reformator der plattdeutschen Lande. Jenes schlichte, leider im 18. Jahrhundert etwas veränderte Gebäude, von dem Teile noch als dem 15. Jahrhundert angehörig erkennbar sind, ist also die Mutter ungezählter deutscher Pfarrhäuser: In dieses führte Bugenhagen als einer der ersten 1522 ein Eheweib ein. Mutig war das gewiss, denn beide Gatten hätte sicher die schwerste Strafe getroffen, wenn die Reformation unterlegen wäre. Der Hass Roms lastete drohend über dieser tapferen Ehe, diesem Bruch des Bannes, den das Zölibat auf die Geistlichen und auf die Keuschheit der Liebe legte. Und das kühne Werk brachte segensreiche Früchte! Welche Fülle von Kraft und Geist entströmt seither dem protestantischen Pfarrhause. Von hier aus wurde der Lehre, dass heiraten für die Laien zwar gut, nicht heiraten aber frömmer und für die Geistlichen allein das Richtige sei, durch weite Gebiete der Garaus gemacht. Es ist nicht auszudrücken, welchen Einfluss diese Tat auf die Versittlichung der Welt ausübte.


Neben dem Pfarrhause steht das Gymnasium, in dem sich jetzt eine Druckerei befindet, ein ansehnlicher Bau aus dem Jahre 1564, der zwar 1731 umgebaut worden sein soll, aber dabei schwerlich wesentlich verändert wurde. Die Wissenschaft stand also früh neben der Pfarre und der Kirche. Leider fehlte die dritte Kraft der Gesittung: die Kunst!

Der Schmuck der Wittenberger Stadtkirche ist ärmlich. Ihre Bauformen sind kleinstädtisch, nicht berechnet auf die geschichtliche Bedeutung, die dem Bau einst zu teil werden sollte. Wittenberg liegt an der Grenze des Gebietes des sächsischen Steinbaues und des Ziegelbaues der norddeutschen Ebene, wie es an der Grenze zwischen dem Hoch- und Plattdeutschen liegt. Zehn Kilometer weiter nördlich verdrängt die Sprachweise des Bugenhagen das noch heute in Wittenberg gut gesprochene Luthersche Schriftdeutsch. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Tat der Reformation sich an der Grenze der beiden Hälften des Deutschtums vollzog. Der Kunst aber kam dies nicht zu gute. Die Steinmetzen waren fremd und doch begehrt in Wittenberg; und die Maurer fanden nicht die Aufgaben, die der an Hausteinen arme Norden ihnen bot. So sind auch die Bildwerke von provinzieller Derbheit, ja roh. An der Nordseite des Schiffes ist ein mächtig thronender Christus vom Jahre 1310 eingemauert, aus dessen Mund ein Stab und ein Schwert hervorragen. Sagte doch Jesaias: Dies Schwert wird die Erde schlagen und die Gottlosen töten. Schon Luther sprach über das Bildwerk; denn er wollte, dass Schwert und Stab nach einer Seite über die Verdammten sich strecken, und dass der Stab nicht wie hier blühe. Aber die Wittenberger scheinen auf sein Urteil in Kunstsachen nicht viel gegeben zu haben; draußen am Tore des Kirchhofes, das etwa 1550 — 1560 errichtet wurde, fand ich den Weltenrichter in alter Weise dargestellt.

Noch etwas roher ist die etwa gleichzeitige Figur des Roland an der Südseite des Turmes. Er schaut nach dem Markt zu, auf das Schwert gestützt, einen Schild in der Hand, auf dem ein Beil abgebildet wurde. Die Jungfrau Maria mit mehreren Heiligen über dem West-Tor zeigt weiter die unbeholfenen Formen des beginnenden 14. Jahrhunderts.

Reifer sind die Skulpturen an dem gradlinig geschlossenen Chor, über dem ein zierliches Türmchen hervorragt. An der Konsole, die dieser trägt, und am Giebelansatz findet sich plastischer Schmuck, der sich durch eine übertriebene Lebendigkeit des Ausdrucks auszeichnet. Die Konsole verdeckt jetzt ein plumper Pfeiler, der das Türmchen von unten aus stützt. Der andere Schmuck wurde zum viel besprochenen Wahrzeichen der Stadt: Ein Spottbild auf die an der spitzen Mütze erkenntlichen Juden, deren mehrere an einer großen Sau sich zu schaffen machen. 1304 wurden die Juden aus Wittenberg vertrieben. Vielleicht mahnt das Bildwerk noch an jene Zeit. Da aber Wittenberg eine recht ansehnliche Straße als „Judengasse“ bezeichnet, so wird wohl schwerlich das alte Testament dauernd aus der Stadt des neuen verdrängt worden sein.

Außer einer großen Anzahl auf die Kirchmauern aufgepflasterter Denkmale des 16. und 17. Jahrhunderts, unter denen einzelne künstlerisch nicht unbefriedigend, manche geschichtlich von Wert sind, ist somit die Schilderung des äußeren Schmuckes der Kirche erschöpft. Sie füllt nicht Bogen eines Bädeker wie jene von St. Peter. Diese Mutterkirche des Protestantismus erhebt sich nicht über viele Schwesterbauten in deutschen Kleinstädten.

Mir ging’s hinsichtlich des Innern der Kirche besser als einst Kaiser Karl V. Am Mittwoch vor Pfingsten 1547 war es, wenige Tage nach der verhängnisvollen Mühlberger Schlacht, in der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen seine Freiheit und seine Kur verlor, als der siegreiche Kaiser, begleitet vom grimmen Alba und dem weltklugen Bischof von Arras, Antoine Perrenot, dem späteren Kardinal Granvella, in die Stadt einritt, die sich ihm unter der Bedingung ergeben hatte, bei ihrem Glauben bleiben zu dürfen und von der gefürchteten spanischen Besetzung frei zu sein. Viel Trabanten und Kriegsleute liefen neben dem siegreichen Fürsten her. Er wünschte die Kirche zu sehen, von der all der Zwiespalt und die Sorge ausgegangen war. Noch wenige Tage vorher hatte Bugenhagen, als das eigentliche Haupt seiner Gemeinde, hier zu den Seinen „nicht wie ein Prediger, sondern wie ein Redner auf dem Rathaus gesprochen“.

Dieser erzählt selbst über den Besuch: „Seine kaiserliche Majestät kam über den Kirchhof, ritt für meiner Thür über. Als Seine Majestät ein Kruzifix gemalt sah an der Kirchen, blößten Seine Majestät sein Haupt und die anderen Herren auch. Seine Majestät Hess fragen nach den Schlüsseln, hätte gern in unser Kirchen gewest, aber unser Küster war nicht vorhanden.“

Es ist, nach dem bekannten lateinischen Spruche, ein Trost für die Unglücklichen, Leidensgefährten zu haben. Wenn selbst ein siegreicher Kaiser bei seinem Einzug in die überwundene Hauptstadt seines Gegners an der Unfindbarkeit der Küster protestantischer Kirchen scheiterte, so wurde mir der Gedanke leichter, vor manchem sehenswerten Bau ausgeschlossen gestanden zu haben, weil mir, dem niedrig Geborenen, erst recht nicht möglich war, die Schlüssel zur Kirche aufzutreiben. Und der Gedanke, dass ich es hier besser traf als Karl V., versöhnte mich nun ganz und gar.

Das Innere der berühmten Kirche ist sehr unscheinbar: Die dreischiffige Halle des Langhauses ist von gedrückteren Verhältnissen, als sonst in gotischen Kirchen üblich. Wenn die modernen protestantischen Theologen das „Himmelanstrebende“ der Gotik als Merkmal christlicher Baukunst loben, so begnügte sich Luther mit dem minder schöngeistigen Gedanken. Er suchte Gott nicht über uns, sondern im Herzen der Gemeinde; er wendete die Augen nicht nach oben, sondern sah gerade zu; er brauchte nicht einen anstrebenden, sondern einen in sich geschlossenen Raum; er jagte nicht abgeleiteten, unklaren Formgedanken nach, sondern dem Tatsächlichen, Echten, Wahren, Tiefen! So kann diese Kirche in ihrem nach gotischem Empfinden zu wenig schlanken Verhältnissen doch dem Protestantismus die Lehre geben, dass die Gotik in ihrer Vollendung ein katholischer Stil sei, derart, dass eine im gotischen Sinne schöne selten eine im protestantischen Sinne empfundene Kirche sein wird.

Das Innere ist entstellt durch eine geradezu kunstmörderische „Verschönerung“, die man ihr zu Anfang des 19. Jahrhunderts gab. Es muss schon in der Zeit der Romantik, gegen 1820, gewesen sein, als dieser Altar, diese Empore in eben so plumper wie langweiliger Tischlergotik in den Bau Luthers eingeführt wurden. Mit dem ganzen Übermut der Besserwisserei der Aufklärungszeit wurde in der ehrwürdigen Kirche gehaust. Ich fand später im Ratsarchiv Nachrichten über die Bautätigkeit in der Lutherzeit. 1516 begann die Aufrichtung der Empore, also vor Luthers öffentlichem Auftreten, als die Gewissensangst des Volkes aber überall die Kirchen schon mit auf die Predigt Horchenden füllte. 1519 kaufte man in Pirna Steine für die Wendeltreppe. 1520 — 21 hatte Meister Matz (Matthäus) an Pfeilern und Tor einen bedeutenden Bau. Dann errichtete Meister Oswald 1540 eine neue Empore, 1543 entstand der Stuhl, „da Dr. Martinus inne stehet“, also wohl jene Kanzel, die sich noch heute in der Lutherhalle, freilich in arg zerstörtem Zustande befindet. Also entstanden damals jene Bauteile, die die katholische Prozessions- und Messkirche nach Möglichkeit zur protestantischen Predigtkirche umgestalten sollten. Aber all das, was lutherisch an der Kirche wurde, hat der Rationalismus herausgeworfen und dafür die romantische, d. h. katholische Gotik hineingesetzt und auch diese mit einem Missverstände, dass es kunstgeschichtlicher Bildung bedarf, um aus diesen zur höchsten Nüchternheit abgeklärten Formen die Kunst wieder zu erkennen, der wir unsere großen Münster und Dome verdanken.

Das schöne Altarwerk Cranachs ist in seiner einheitlichen Wirkung durch ein Ungeheuer von architektonischem Aufbau vernichtet worden. Erst der Superintendent Dr. Rietschel, des Bildhauers Ernst Rietschel Sohn, jetzt Professor in Leipzig, hat die Bilder an der Rückseite der Flügel wieder aufgedeckt, die einfach vermauert worden waren. Also selbst vor der Zerstörung der Bilder schreckte jene Zeit „idealer“ Kunstanschauung nicht zurück. Sie vernichtete auch die alten Emporen, die wir uns ähnlich jenen vorzustellen haben, die in einem in der Kirche hängenden entzückenden Architekturbilde von 1569 zu sehen sind. Es ist auch unerfindlich, warum die hochwohlweisen Pastoren späterer Zeiten die Kanzel dem Pfeiler gegenüber stellten, an dem Luther sie aufgerichtet hatte; leichter verständlich ist, dass sie sich nicht mit dem alten, engen „Predigtstuhl“ begnügten.

Der alte Taufstein hielt sich an seinem Ort, ein Werk des Hermann Vischer, eines älteren Verwandten des berühmten Peter Vischer aus Nürnberg. Er entstand laut Inschrift 1457 und gilt als ein Hauptwerk des Meisters. Die streng architektonische Haltung des in Bronze ausgeführten Aufbaues, die wenig glückliche Bildung der Figuren lassen erkennen, in wie hohem Grade die Nürnberger Kunst gerade seit Mitte des Jahrhunderts Fortschritte machte, dass diese älteren Werke an Vollendung späteren noch erheblich nachstehen.

Die nachreformatorische Zeit hat die Kirche mit Grabdenkmalen gefüllt. Namentlich der Nebenchor an der Südostseite ist zu einer Grabeshalle geworden. Aber auch ins Hauptschiff ziehen sich die zum Teil anspruchsvollen Grabdenkmale. So steht hier das mächtige Epitaphium des 1569 verstorbenen Studenten Matthias von Schulenburg, ein reich durchgebildetes Werk deutscher Hochrenaissance von Georg Schröter zu Torgau (1571). Im allgemeinen zeigt sich eine Steigerung der Pracht im Gräberbau bis an das Ende des Jahrhunderts, indem mehr und mehr die schlichten Bronzetafeln durch vielgestaltige bauliche Anordnungen verdrängt wurden. Künstlerisch am höchsten steht neben einer Tafel, die von einem mit H B bezeichneten Künstler geschaffen und dem Arzte Kaspar Lindemann geweiht ist, jene in Alabaster, die über dem Grabe Lucas Cranachs des Jüngeren steht, des kunstreichen Sohnes eines kunstreicheren Vaters: Sie ist dem „Sohne des Apelles und dessen Nebenbuhler in der Kunst“ gewidmet. Das großartig sich auf bauende, meisterhaft durchgeführte Relief ist ein Werk von Cranachs Freund, dem Dresdner Bildhauer Sebastian Walther, eines der schönsten Beispiele der von der Kunstgeschichte erst neu zu entdeckenden Bildnerei der deutschen Renaissance.

Ich besuchte die einzelnen alten Häuser. Dort die Apotheke gehörte Meister Lukas; an ihr, wie fast an allen anderen Häusern erkennt der Fachmann alsbald die alten Fensterumrahmungen und dass der moderne Aufputz nur sehr äußerlich angeklebt ist. Er erinnert noch immer an die „Chemis’chen“ genannten weißen Vorhemden, mit denen der Bauernbursch sich städtisch modern zu machen glaubt. Aber im Hof sieht’s noch unverputzt aus, steht noch der alte stattliche Treppenturm, an ihm das Reliefdenkmal eines der sächsischen Fürsten in Turnierrüstung — das Bild eines kecken Reitersmannes. Inmitten des fast in der Weite eines Platzes sich ausdehnenden Hofes fassen vier Pappeln einen fließenden Brunnen ein. Zum Teil alte Gebäude umschließen ihn. Stille und Frieden lag über dem mächtigen Anwesen, dem größten der Stadt, das, wie ich aus der Stadtrechnung ersah, das höchste „Geschoss“ an die Stadtkasse zu zahlen hatte. Und es passte zur Stimmung, dass ich, beim Zeichnen mich ganz unbeobachtet wähnend, plötzlich hinter den Vorhängen des zweiten Stockes einen schnell verschwindenden Mädchenkopf sah; ein allerliebstes Traumbild, vielleicht der Geist eines der Töchter des liebenswürdigen Meisters, die erst die Gespielin, dann die Jugendflamme von Hansel oder Paul Luther, oder von Lippus Melanchthon oder Jost Jonas war, die der Reformator selbst einst auf den Knien geschaukelt haben mag.

Und wie die Apotheke, tragen fast alle Häuser ihr Chemis’chen, das man ihnen wohl einmal wieder abnehmen wird, wenn die Tage besseren Geschmackes auch für Wittenberg anheben. Genaueres Hinschauen offenbart bald den Kern. Die ganze Südfront gehört der Zeit zwischen 1540 und 1560 an. Zuerst muss No. 3 erbaut sein, das noch die Formen des Dresdner Georgentores und der Anfänge am Torgauer Schloss zeigt. „Hodie mihi, cras tibi“ sagt die Inschrift auf einer Darstellung des Todes als Knabe mit der Sanduhr. Ja, No. 4 zeigt im Hofe noch Fenster aus dem 15. Jahrhundert, No. 6 aber einen prächtig erhaltenen, an Nürnberger Vorbilder erinnernden Hof.

Ich schritt die Stufen zum Rathaustor hinauf. Dort steht man unter einem reich im Stil der Renaissance verzierten Ausbau, einem etwas überzierlichen, den derbschlichten von 1520 stammenden Bau belebenden Schmuckwerke und übersieht trefflich den stattlichen Platz. Mit der Ecke uns zugewendet lag nun rechts die Apotheke Cranachs. Das Bild des redlichen Malers wurde wieder in mir lebendig, der oft den Weg von meinem Standpunkt zu seiner Haustür durchmessen haben mag, von wichtiger Ratssitzung heimkehrend. Ihm und der Redlichkeit seines Pinsels danken wir es, dass wir uns die Reformatoren auch körperlich vorzustellen vermögen. Hundertfach hat er sich gemüht, seiner berühmten Freunde Antlitz wiederzugeben, immer mit dem grundgesunderen Gedanken, dass, wenn er wahr sei, sein Bild auch schön werden müsse. Luthers Bildnis zeigt nicht jene meist widerwärtige Erscheinung, die man einen schönen Mann nennt, keinen Apoll und keinen Zeus, kein weichherziges Christusideal mit gescheitelten Locken und schön frisiertem Spitzbart: Es ist eine kernige, eckige, deutsche Erscheinung, voll Kraft und voll Sonderbarkeiten, ein starkes Ich, mächtig als solches, zielklar in der Ausgestaltung seines innersten Lebens, auf sich gestellt und nur sich und seinem Gott verantwortlich und dem Geist, der in ihm lebt, dem Geist der Größe und der Wahrheit, einer Wahrheit, die nicht vor dem Tode und vor der Umbildung der eigenen tiefsten Empfindungen zurückscheut, die, nachdem sie sich selbst überwand, die Welt zu erschüttern vermochte.

Cranach war auch nicht im Leben einer jener lyrisch angehauchten Schmachter, wie sie die romantische Dichtung aus den Künstlern jener Zeit machen wollte. Sein breites, lebensfrohes, etwas spießbürgerliches Gesicht hätte dies schon lehren können. Wie in seiner Kunst, so hielt er sich im Leben an das Wirkliche, Tatsächliche. Bald wurde er einer der Reichsten in Wittenberg. 1528 besaß er bereits vier Häuser in der Stadt, dazu mehrere Gärten und Felder. Allein an liegenden Gründen schätzte er seinen Besitz auf 1400 Schock Groschen. Darunter befand sich die Apotheke, die er 1520 mit dem Privileg Apothekerwaren in der Stadt zu verkaufen erworben hatte. Wer Latwerge oder Rhabarber brauchte, musste zu dem berühmten Maler sein Geld tragen; aber auch wer zu seiner Kräftigung süßen Weines bedurfte, wer seine Speisen und seinen Trank würzen wollte, konnte nur bei ihm das Gewünschte finden. Der Pfeffer, der aus dem fernen Indien über Portugal oder Venedig kam, der Zucker, den die Berber und Araber bereiteten, die feurigen Weine Spaniens und Italiens — alle diese Schätze fand man in Cranachs stattlichem Wohnhause, das eine Kunstwerkstätte, ein Warenlager und eine Gastwirtschaft zugleich war. Und im Wirtshause ging’s nicht immer friedlich zu. Allein im Jahre 1519 musste Andre, Meister Lukas’ Schenker, zweimal Busse an den Rat zahlen, erst weil er einen Aufruhr im Weinhaus erweckt hatte, dann weil er einen Gast ins Antlitz schlug.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Lutherstadt Wittenberg
Bugenhagen, Johannes (1485-1558) Bedeutender Reformator und Weggefährte Martin Luthers

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Georg I. (1493-1531) Herzog von Pommern

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Philipp I. (1515-1560) Herzog von Pommern-Wolgast

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Philipp Julius (1584-1625) letzter Herzog von Pommern-Wolgast

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Luther, Haus- und Familienleben

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Luther, Die Hochzeit

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