Die Lutherstadt Wittenberg

Die Kunst. Sammlung illustrierter Monographien. Herausgegeben von Richard Muther.
Autor: Gurlitt, Cornelius (1850-1938) Architekt und Kunsthistoriker, Erscheinungsjahr: 1902

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Reformation, Reformationszeit, Reformator, Martin Luther, Lutherstadt, Wittenberg, Schlosskirche, 95 Thesen, Thesenanschlag, Christen, Religion, Lutherzeit, Bugenhagen, Melanchthon, Männerfreundschaft, Lehrer, Schüler, Familie, Gemeinde, Glauben,
Wittenberg ist eine Stadt, in der es mancherlei zu schauen gibt. Aber es ist noch viel mehr eine Stadt für beschauliche Leute!

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Wohl vorbereitet kam ich vor etwa zehn Jahren in die Lutherstadt, die bald darauf, nachdem ihre berühmte Schlosskirche neu ausgebaut worden war, wieder einmal die Blicke der protestantischen Welt auf sich lenken sollte. Durch manchen dicken Band Lebensbeschreibungen, Kulturbilder, Reden, Streitschriften hatte ich mich durchgearbeitet, um nach Andeutungen zu suchen, die mir Luther und seinen Wohnort bildlich näher bringen sollten. Den Reformator als Hausvater, als Bürger Wittenbergs kennen zu lernen war mein Bemühen gewesen. Aber bald zeigte sich, dass Wittenberg nicht einmal eine brauchbare Chronik besitzt, obgleich sein Archiv im besten Zustande ist; dass die alte, weltberühmte Universitätsstadt keinen Gelehrten fand, der ihrer Geschichte sich gewidmet hätte; ja dass nicht einmal ein für seine Heimat begeisterter Bürger zur Feder griff, um schlecht und recht zu schildern, wie das Stadtwesen anwuchs und wie es kam, dass gerade dort am Elbstrande eine der größten Geistestaten des deutschen Volkes sich abspielen sollte.

Die Straßen von Wittenberg sind die einer deutschen Kleinstadt: reinlich, nicht mit dem besten, aber mit gut imstande gehaltenem Pflaster belegt. Die Häuser wurden fast ausnahmslos im Laufe der Zeit umgebaut. Man tut unrecht, wollte man der Bürgerschaft hieraus einen Vorwurf machen, von ihr fordern, ihre Stadt vom Standpunkt des Altertümlers zu betrachten. Die Geschichte soll nicht die Fortentwicklung eines Gemeinwesens erdrücken. Die Lebenden haben recht mit ihren Ansprüchen, ihren neuen Wünschen! So haben denn überall neue Läden die Erdgeschosse durchbrochen; so hat jedes Jahrhundert seinen Geschmack an die Stelle des älteren gerückt. Die große Zeit scheint für den flüchtigen Beobachter fast ganz aus Wittenberg verdrängt!

Ein Haus fällt in der Kollegienstraße, die ich morgens, vom Bahnhof kommend, durchwanderte, alsbald auf. Hinter einer im Sinne der fünfziger Jahre „romantischen“, sonst aber reglementmäßig langweiligen Kaserne erhebt sich ein schmaler dreifenstriger giebelbekrönter Bau, dessen Formen fast unverändert jene der Zeit von 1530 — 1540 sind. „Hier wohnte, lehrte und starb Philipp Melanchthon“ sagt eine moderne Bronzetafel! Die Tür und das Hoftor waren fest verschlossen, alle Fensterladen verriegelt, das Haus lag wie im Schlaf. Mein Pochen war vergeblich, niemand machte auf.

Ich zog also weiter. Schräg gegenüber steht ein ähnliches, etwas stattlicheres Haus. Es trägt keine Tafel; auch der „Führer durch die Sehenswürdigkeiten Wittenbergs“ erwähnt es nicht; aber die Kinder auf der Straße berichten einem, dass es Hamlets Haus sei. Es ist wohl nicht Zufall, dass Shakespeare den tiefsinnigen Dänenprinzen gerade in Wittenberg sich ausbilden ließ, in der Stadt des Luther und des Faust, und dass die Wittenberger ihm das Haus zuschreiben, das fast allein noch die mittelalterlichen Formen der Zeit um 1490 wenig verunstaltet zeigt. Shakespeare wollte seinen Helden in die Stadt des Wissens und der Gelehrsamkeit versetzen; Wittenberg aber versetzte ihn in der Zeit des Zögerns und der Vorbereitung zur großen Tat.

Auf dem Markte stehen die Bildsäulen Luthers und Melanchthons. Die erstere ist ein kunstgeschichtlich merkwürdiges Werk. Seit 1805 waren die Geldsammlungen für seine Herstellung im Gange: Jean Paul schrieb damals seine „Wünsche für Luthers Denkmal“. Der Plan überdauerte den Befreiungskrieg. Aber trotz dem Drucke der Zeit, trotz der Verarmung ganz Deutschlands opferte das protestantische Volk über 100.000 Mk., so dass 1821 das von Schadow gebildete Denkmal unter dem von Schinkel entworfenen Baldachin aufgerichtet werden konnte. Die Figur ist 2,8 Meter, der ganze Aufbau 6 Meter hoch.

Neben dem Blücher zu Rostock ist diese Lutherstatue eines der ersten Werke der wiedererwachenden Kunstliebe. 1865 wurde ein von Drake gebildetes Denkmal Melanchthons unter einem von dem Berliner Architekten Strack gezeichneten Baldachin neben dem Luther aufgestellt. Anmutend sind beide Statuen ebenso wenig, wie die meisten ähnlichen Arbeiten. Ins Überlebensgroße übertragen, wirken auch die schönsten Schauben, Strümpfe und Stiefel nicht reizvoller als in der Wirklichkeit.

Es ist ein eigentümliches Gefühl, jener Mutterkirche des Protestantismus sich zu nahen, jenem Bau, von dem der heute noch die Welt bewegende Riesenkampf der Geister ausging.

Ich dachte einige Monate zurück, als ich an einem gleich warmen, gleich wolkenlosen Tage auf dem Platze vor St. Peter in Rom stand. Für den Bau, der sich damals vor mir erhob, reiste der vielgeschmähte Ablassprediger Tetzel durch die deutschen Lande. Für ihn klang deutsches Geld im Ablasskasten. Dort in der fetten Elbniederung, in diesem kleinen Städtchen, in dieser kunstarmen, lange verwahrlosten Kirche regte sich zuerst der Kampf gegen den Riesendom, für dessen Ausgestaltung ein Bramante, ein Rafael und ein Michelangelo ihr bestes Können einsetzten. Man müsste sie neben einander in gleichem Maßstabe zeichnen, die beiden Bauten, wollte man die Größe von Luthers Mut recht anschaulich machen. Wittenberg ist stolz auf seine Kirchtürme, welche etwa 40 Meter hoch sind. Sie würden bequem im Schiff von St. Peter Platz finden, ohne an die Wölbung zu stoßen; ja man könnte sie zweimal über einander in der Kuppel aufbauen, und dreimal auf einander gestellt, würden sie deren Spitze nicht erreichen, die bis 132 Meter aufsteigt.

Damals, als ich vor St. Peter stand, war Ostern. Tausende aus allen Ländern der Welt strömten dem Dome zu, dessen Vollendung Luther um fast ein Jahrhundert aufhielt; Wagen rollten an Berninis mächtigen Säulenhallen hin, von denen Hunderte von Statuen auf die den weiten Platz nicht füllende, wohl aber belebende Menge niederblickten. Lange Prozessionen verschwanden in der ungeheuren Weite des Raumes.

Die Lutherstadt Wittenberg Titelblatt

Die Lutherstadt Wittenberg Titelblatt

Abb. 092 Luther, Martin (1483-1546) theologischer Urheber der Reformation

Abb. 092 Luther, Martin (1483-1546) theologischer Urheber der Reformation

Wittenberg Ansicht der Schlosskirche vom Jahre 1499

Wittenberg Ansicht der Schlosskirche vom Jahre 1499

Wittenberg Außenansicht der Schlosskirche

Wittenberg Außenansicht der Schlosskirche

Wittenberg Denkmal des Kurfürsten Friedrich des Weisen

Wittenberg Denkmal des Kurfürsten Friedrich des Weisen

Wittenberg Innenansicht der Schlosskirche

Wittenberg Innenansicht der Schlosskirche

Wittenberg Luther-Denkmal

Wittenberg Luther-Denkmal

Wittenberg Rathaus mit dem Luther-Denkmal

Wittenberg Rathaus mit dem Luther-Denkmal

Bugenhagen, Johannes (1485-1558) Bedeutender Reformator und Weggefährte Martin Luthers

Bugenhagen, Johannes (1485-1558) Bedeutender Reformator und Weggefährte Martin Luthers

Luther, Anschlag der 95 Thesen

Luther, Anschlag der 95 Thesen