Schluss der Exzesse

Montag um 5 Uhr nachmittags lief die telegraphische Antwort des Ministers Plehwe ein. Gegen 6 Uhr abends rückte dann eine militärische Mannschaft in voller Kriegsrüstung aus. Überall wurde verlautbart, dass nunmehr die Gewalt in die Hände des Militärkommandanten übergegangen sei und dass jetzt jede Ausschreitung mit den Waffen unterdrückt werden würde.

Sofort, nachdem über Kischinew Standrecht verhängt worden war, hörten die Exzesse auf, ohne dass man einen Schuss abfeuern musste. Nur in den entlegenen Vierteln der Stadt, wohin das Militär noch nicht gelangt war, dauerte der Raub noch bis tief in die Nacht hinein.


Im ganzen und großen gehorchten die Banden dem Militär ohne jeden Widerstand. Allerdings muss betont werden, dass in dem Zeitpunkt, wo das Militär einschritt, die Banditen von Raub und Mord und von der Extase der Leidenschaften so erschöpft waren, dass sie sich bis auf wenige Ausnahmen bereits, mit den geraubten Sachen beladen, auf den Heimweg begaben. Die meisten der Banditen, die die Soldaten noch verhafteten, wurden beim Rückzuge vom Militär überrascht. Nur wenige wurden in flagranti beim Raub in den Häusern festgenommen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass zu dieser Zeit die Exzesse überhaupt ein natürliches Ende gefunden hätten. In der Vorstadt tobten die Banden trotz Militär und Standrecht noch weiter, bis Soldaten in Sicht kamen. Die anderen hätten sie wahrscheinlich, nach etwas Rast, nachts oder am nächsten Tage fortgesetzt.

Zudem wäre noch ein massenhafter Sukkurs vom Lande gekommen. Die Nachricht von den Kischinewer Plünderungen hatte sich blitzschnell in der ganzen Umgegend verbreitet. Auf kleinen Wägelchen oder mit der Bahn kamen scharenweise Montag abends und an den nächsten Tagen die Bauern. Sie wurden nicht mehr in die Stadt eingelassen. Sie baten meistens, nur auf ein paar Stunden oder wenigstens auf eine Stunde um Einlass in die Stadt. Viele wollten gewaltsam den Eintritt erzwingen, und die Soldaten hatten große Mühe, sich der Masse zu erwehren.

Wüst, als hätten die schlimmsten Vandalen gehaust, lag die Stadt da. Kaum konnte eine vom Feinde eroberte Stadt so entsetzliche Spuren der Zerstörung tragen. Ein schrecklicher Schutt von Stein, Holz, Glas, Stoffen und Federn füllte die jüdischen Viertel ganze Straßen lang aus. Die Finsternis lagerte sich über die zerstörten Häuser mit den kahlen Fenstern. Totenstille weit und breit. Viele Häuser waren menschenleer. In den anderen Sassen die Juden in den zu Trümmerhaufen verwandelten Wohnungen wortlos in Verzweiflung und Schmerz vor sich hinstarrend. Keiner trat einen Schritt auf die Gasse. Immer noch waren sie in der Angst, dass jeden Augenblick die Schrecken sich erneuern könnten . . .

Tod, Verwüstung und unsagbare Trauer erfüllte die Straßen, wo einige Tage vorher noch ruhige, geduldige, arbeitsame Menschen sich geschäftig rührten, schon zufrieden damit, durch viele und schwere Mühe ihr schlichtes, einfaches Leben erkämpfen zu können. Es waren meist arme Leute, die nicht viel mehr hatten als Weib und Kinder und die Stube mit dem wenigen Hausrat, die ihr Heim und ihr Glück bildeten. Man hat ihnen alles genommen. Dem wurde der Vater, dem das Weib, dem die Kinder, dem der Bruder oder die Schwester hingeschlachtet. Allen hat man das bisschen Habe geraubt, sie ins Elend gestoßen und ihnen für immer die Lebensfreude und den letzten Rest von Glauben an ihre Mitmenschen ertötet.

In die christlichen Straßen der Stadt aber drang nicht ein Laut von diesem himmelschreienden Jammer. Mit einer neuen Sensation erfüllt, und erregt durch die Jagd auf jüdisches Blut, legten sie nur noch etwas mehr Temperament in ihr alltägliches Treiben. Auf den Straßen, in den Häusern und in den Schenken hatten tausende Menschen viel zu erzählen und konnten immer von neuem die spannenden Schilderungen von Blut und Mord genießen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)