Das Verhalten der Regierungsorgane

Nur wenn man sich in die verpestete Atmosphäre von Kischinew hineingefunden hat, kann man die Ungeheuerlichkeit dessen verstehen, was sich dort Regierung und Behörde nennt:

Nach dem. russischen Gesetz ist jeder Auflauf auf der Straße verboten, zu welchem Zweck er immer erfolge. Die Behörden sind gesetzlich verpflichtet, jeden Versuch einer Zusammenrottung sofort zurückzuweisen. Das gilt für den allereinfachsten Straßenauflauf. In Kischinew hatten Gouverneur, Vize-Gouverneur und Polizeimeister vorher gewusst, welcher Art die Zusammenrottungen waren, die am Sonntag in den Strassen stattfanden. Wenn Vize-Gouverneur Ustrugow und Polizeimeister Chanschenkow von vornherein ihre persönliche Gemeinschaft mit dem antisemitischen Organisationskomitee dadurch in Tat umsetzen wollten, dass sie sich ihrer behördlichen Pflicht gegen die Banditen entschlugen, was konnte den vor allem verantwortlichen Gouverneur General von Raaben veranlassen, angesichts der furchtbaren Plünderungen und dann der blutigen Morde nichts zu unternehmen? Wie konnte es geschehen, dass er als Antwort auf das Einschreiten des Bürgermeisters durch den diensthabenden Beamten den Polizeibeamten auf das Strengste einschärfte, von den Waffen keinen Gebrauch zu machen? Dass er als Antwort auf die jüdische Deputation von Montag die Abgesandten auf die Straße warf und zugleich allen Telegraphenstationen von Kischinew verbot, Privattelegramme nach Petersburg anzunehmen? Wie konnte es des weitern geschehen, dass er in den kritischen Stunden sich in seinem Zimmer einsperrte und dem Vize-Gouverneur, dessen Judenfeindlichkeit ihm zur Genüge bekannt war, die Leitung übergab? So übergab, dass Ustrugow allen einfach erklärte, dass er nichts ohne den Gouverneur tun könne, während der Polizeimeister so wenig durch die Exzesse alteriert war, dass er im offenen Wagen herumfuhr, seine Visiten abzustatten? Dass dieser selbe Polizeimeister durch sein Stillschweigen die Banditen aufmunterte, dass er die Feuerwehr, die mit Spritzen gegen die Banden losging, gewaltsam zurücktrieb? Wie konnte es weiter geschehen, dass der Gouverneur erklärte, trotz der furchtbaren Situation, die schon Sonntag die Lokalbehörde zum Eingreifen hätte zwingen müssen und Montag geradezu nach ihrer Intervention schrie, erst Befehle aus Petersburg abwarten zu müssen? Dass er erst Montag früh um 7 Uhr an den Minister von Plehwe telegraphierte, dass die Antwort des Ministers auf ein solches Telegramm erst um 5 Uhr nachmittags eintraf, wo doch die Telegraphenlinie zur unumschränkten Verfügung der Regierung steht, also die Antwort schon in einer Stunde hätte erfolgen können?


Für all das Unmenschliche, unfassbar Unpolitische und Ungesetzliche gibt nicht nur eine genaue Kenntnis des Ministers Plehwe und seines Verhältnisses zu den russischen Juden und das dem entsprechende Verhalten der ihm unterstellten Organe eine genügende Erklärung. Es liegt sogar ein für den speziellen Fall bestimmte Erklärung vor, die mit einem Schlage alles erhellt.

Die „Times“ und andere europäische Blätter haben nachstehenden Brief publiziert, den Minister von Plehwe am 25. März russischen Datums d. h. am 7. April an den Kischinewer Gouverneur von Raaben gerichtet hat.

Dieser Brief lautet:

„Ministerium des Innern. Ministerialkanzlei. N 341, den 25. März 1903. Absolut geheim.

Dem Gouverneur von Bessarabien.

Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, dass in dem Ihnen anvertrauten Gebiete Unruhen gegen die Juden vorbereitet werden, die ja hauptsächlich die einheimische Bevölkerung ausbeuten. Angesichts der allgemeinen Unruhe der städtischen Bevölkerung und angesichts dessen, dass es unerwünscht wäre, durch allzu strenge Maßregeln gegen die Regierung gerichtete Gefühle in die noch nicht von der revolutionären Propaganda berührte Bevölkerung hineinzutragen, wird Ihre Exzellenz die sofortige Unterdrückung der vielleicht ausbrechenden Unruhen nicht durch Waffengewalt, sondern durch Überredungsmittel zu erreichen suchen.

Gezeichnet: Plehwe.“

Minister Plehwe hat, wie konstatiert werden soll, nachdem dieses Schriftstück in der ,,Times“ publiziert war, es durch den Petersburger ,,Regierungsboten“ in aller Form dementieren lassen. Wir werden noch später sehen, dass Minister von Plehwe es an politischen Mitteln, die Wahrheit über Kischinew zu verleugnen, so sehr die allgemein bekannten Tatsachen diesen Verleugnungen Hohn sprechen, nicht hat fehlen lassen, und dass er seine Ableugungstaktik nicht nur in Bezug auf die nichtrussische Öffentlichkeit, sondern auch in Bezug auf den Zaren geübt hat. Wir haben darum kaum einen Anlass, in dem Dementi Plehwes mehr als einen der in Russland nicht seltenen absoluten politischen Akte zu sehen. Aber selbst wenn dieser Brief nicht geschrieben worden wäre, ist sein Inhalt und sein Zusammenhang so sehr Geist vom Geiste Plehwes, dass er, wenn er Konstruktion ist, doch nur widerspiegelt, was Plehwe eigentlich über die russischen Juden denkt und was die unterstellten Regierungsorgane wissen, dass sie zu tun haben, wenn sie dem allmächtigen Plehwe gefallen wollen.

Immerhin, so unwesentlich es erscheint, sich an ein äußeres Zeichen zu halten, wo der Geist feststehend ist, sollen die Indizien verzeichnet werden, die dafür sprechen, dass der Brief geschrieben wurde:*)

Es wurde schon früher erwähnt, dass der Polizeimeister, der der bei ihm vor den Exzessen erschienenen jüdischen Deputation antwortete: „Wir haben schon unsere Instruktionen bekommen, wir wissen, was wir zu tun haben.“

Zweitens ist es über jeden Zweifel sicher, dass bei dem Abhängigkeitsverhältnis eines russischen Gouverneurs und seiner Unselbständigkeit gegenüber dem Minister, der Kischinewer Gouverneur es unmöglich gewagt haben würde, die ganze Verantwortung für seine Passivität allein zu tragen.

Endlich ist es anders unerklärlich, dass das Ministerium, wenn es nicht den Gouverneur unterrichtet gewusst hätte, sich zehn Stunden Zeit für die Beantwortung des Telegramms gelassen hätte.

*) Während der Drucklegung sind bestimmte Nachrichten aus Petersburg eingelaufen, dass an der Authentizität des Plehweschen Schreibens nicht zu zweifeln ist. Nebenbei sei noch konstatiert, dass der Brief im Stil eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den authentischen Ministerialerlassen aus dem Jahre 1882 (der Judenexzesse) hat. zu welcher Zeit Plehwe im Ministerium tätig war.

Wer der Schilderung der Tatsachen folgt, wird erkennen, dass sie, wenn nicht dem Briefe, so doch seinem Geiste entsprachen. Die noch nicht revolutionär gestimmte Kischinewer Bevölkerung sollte, wenn sie ihren Instinkten an den Juden Luft machen wollte, nicht gehindert werden und ja nicht durch einen bewaffneten Widerstand gereizt werden, damit diese Instinkte nicht von den Juden weg gegen die Regierung sich richteten. Allerdings wird die furchtbare Steigerung der leidenschaftlichen Ausbrüche der Masse nicht mehr den Intentionen des Ministers Plehwe entsprochen haben. Dass er es aber auf eine Plünderung der Juden ruhig ankommen lassen wollte, ist über jeden Zweifel sicher. Diese Judenplünderungen, die Ausnützung der antisemitischen Instinkte der Masse und der Intelligenz für Zwecke der Regierung ist sozusagen ein Spezialmittel Plehwes. Es ist bewiesen, dass so oft Plehwe im Ministerium war, Exzesse gegen die Juden, die in Russland immer möglich sind, stattfanden, bei denen Plehwe die Hand im Spiele hatte. Einerseits ist er ein wütender Judenfeind, der allen Ernstes die unsagbar armen Millionen russischer Juden als Ausbeuter bezeichnet, andererseits benutzt er, wie bereits erwähnt, die Exzesse, um das barbarische Volk Revolution lieber gegen die Juden als gegen die Regierung treiben zu lassen.

Dass er zu den Ereignissen von Kischinew in einem ganz besonders intimen Verhältnis stand, beweist die Tatsache, dass Kruschewan von ihm für den „Bessarabetz“ 25.000 Rubel als Subvention bekam. Ja, noch mehr: Durch Plehwe erhielt Kruschewan die sonst in Russland sehr schwer erhältliche Erlaubnis zur Gründung eines Blattes (der „Znamja“, die in Odessa erscheint). Als Kruschewan in neuerer Zeit nochmals eine Subvention verlangte und Finanzminister Witte erklärte, diesen Posten nicht bewilligen zu können, verschaffte Plehwe dem Kruschewan bei einer der Regierung unterstellten Bank einen hohen Kredit gegen dessen Solowechsel.

So bilden die Regierung und ihre Organe das letzte aber nicht das schwächste Glied in der furchtbaren Kette, die sich um die Juden von Kischinew geschlungen hat. Es ist blinde Parteiübertreibung, die Regierung angesichts der unbeschreiblichen Barbarei der christlichen Bevölkerung Kischinews als die einzig Schuldtragende zu bezeichnen. Es ist aber ebenso vollständige Entstellung der Tatsachen, alle Schuld nur in den Banditen von Kischinew suchen zu wollen. Sie sind alle gleich schuldig: Die Regierung und ihre Organe, die Leute vom „Bessarabetz“, die Mordgesellen in den Häusern und der Pöbel aller Stände in den Straßen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)